Gebt der Ukraine eine Beitrittsperspektive!

Foto: Euro­päi­sche Union

Die Angst vor einem großen Krieg in Europa könnte euro­päi­sche Regie­run­gen dazu ver­an­las­sen, der Haupt­for­de­rung Russ­lands nach­zu­ge­ben und die Zusage einer NATO-Auf­nahme der Ukraine und Geor­gi­ens, auf­zu­wei­chen oder zurück­zu­neh­men. Wenn dies geschieht, sollte der Westen die beiden Länder für das gebro­chene Ver­spre­chen ent­schä­di­gen und ihnen eine EU-Mit­glied­schafts­per­spek­tive geben, schreibt Andreas Umland.

In seiner jähr­li­chen Pres­se­kon­fe­renz am 23. Dezem­ber 2021 hat Wla­di­mir Putin die Tem­pe­ra­tur der aktu­el­len Kon­fron­ta­tion Russ­lands mit dem Westen erhöht. In kaum ver­schlüs­sel­ter Sprache kün­digte der rus­si­sche Prä­si­dent an, dass Moskau sein mili­tä­ri­sches Enga­ge­ment in Ost­eu­ropa ver­stär­ken und seine derzeit ver­deckte Inva­sion in der Ukraine aus­wei­ten und womög­lich öffent­lich machen wird: „Wir müssen über die Per­spek­ti­ven unserer eigenen Sicher­heit nach­den­ken. Wir müssen im Auge behal­ten, was in der Ukraine pas­siert und wann sie angrei­fen könnten.“ Mit Hinweis auf angeb­li­che Aggres­si­ons­pläne der Ukraine droht Putin nunmehr Europa mit einem großen Krieg in seinem Osten, falls Moskaus For­de­rung nach „Sicher­heits­ga­ran­tien“ des Westens nicht erfüllt wird.

Diese For­de­rung ist ebenso lächer­lich wie Russ­lands angeb­li­che Sorge vor einer ukrai­ni­schen Offen­sive. Russ­land kon­trol­liert das größte Staats­ter­ri­to­rium der Welt, ist eines der beiden mäch­tigs­ten Atom­waf­fen­staa­ten der Erde und verfügt über eine der drei größten kon­ven­tio­nel­len Armeen. Damit ist die Rus­si­sche Föde­ra­tion eines der mili­tä­risch sichers­ten Länder der Welt. Der Kreml hat das Ter­ri­to­rium Russ­lands kürz­lich offi­zi­ell auf Kosten aus Nicht­atom­waf­fen­staa­tes erwei­tert. Moskau ist in der Lage, die gesamte Mensch­heit mehr­mals aus­zu­lö­schen. Dennoch stellen Putin und seine Helfer Russ­land als ange­schla­ge­nen Außen­sei­ter dar, der sich panisch vor mili­tä­ri­schen Gefah­ren von außen fürchte.

Russ­land spielt verrückt

Rus­si­sche Regie­rungs­ver­tre­ter und Pro­pa­gan­da­sen­der hämmern der natio­na­len und inter­na­tio­na­len Öffent­lich­keit tag­täg­lich die Bot­schaft ein, der rus­si­sche Staat fühle sich exis­ten­zi­ell bedroht. Angeb­lich stellen die lau­fen­den Koope­ra­ti­ons­pro­gramme der NATO und ihre mög­li­che künf­tige neu­er­li­che Erwei­te­rung in Ost­eu­ropa und im Süd­kau­ka­sus eine grund­le­gende Gefahr für die Zukunft der rus­si­schen Nation dar. Dies sie nicht weniger als „eine Frage von Leben und Tod für uns“, wie es der offi­zi­elle Spre­cher des Kremls, Dmitri Peskow, kürz­lich formulierte.

Frei­lich schen­ken nur wenige Men­schen außer­halb Russ­lands den para­no­iden Erzäh­lun­gen des Kremls Glauben. Es geht Moskau auch weniger um das Märchen über eine NATO-Bedro­hung als solche. Viel­mehr will die rus­si­sche Führung ihre tiefe Ver­bit­te­rung über den Verlust von Moskaus Impe­rium kom­mu­ni­zie­ren. Putin signa­li­siert bewusst, dass er mög­li­cher­weise den Ver­stand ver­liert und bei einer Pro­vo­ka­tion den Knopf drücken könnte. Im Jahr 2018 sagte der rus­si­sche Prä­si­dent etwa: „Ein Aggres­sor sollte wissen, dass Rache unver­meid­lich ist, dass er ver­nich­tet werden wird und wir die Opfer der Aggres­sion sein werden. Wir werden als Mär­ty­rer in den Himmel kommen, und sie werden einfach tot umfallen.“

Die meisten Ost­eu­ro­päer, die jahr­hun­der­te­lang mit dem rus­si­schen Impe­ria­lis­mus zu kämpfen hatten, durch­schauen das Kalkül, das hinter der öffent­li­chen Panik­ma­che des Kremls steckt. Auch die USA und das Ver­ei­nigte König­reich dürften sich von Putins Argu­men­ten nur wenig beein­dru­cken lassen. Als Garan­ten des Atom­waf­fen­sperr­ab­kom­mens könnte sie viel­mehr die Risiken des rus­si­schen Ver­hal­tens für die künf­tige Ver­hin­de­rung der Ver­brei­tung von Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen im Auge haben. Russ­land ist ein offi­zi­el­ler Kern­waf­fen­staat, Rechts­nach­fol­ger der UdSSR und als solcher, zusam­men mit den USA und Groß­bri­tan­nien, einer der Gründer des Nuklea­ren Nicht­ver­brei­tungs­ver­tra­ges (NVV) von 1968. Trotz der weit­rei­chen­den Ver­pflich­tun­gen, die sich aus diesem Status ergeben, hat Moskau seit 2014 den Zweck des NVV auf den Kopf gestellt: Anstatt Nicht­atom­waf­fen­staa­ten wie der Ukraine Sicher­heit zu bieten, wurden die Bestim­mun­gen des NVV in einen Vorteil für einen offi­zi­el­len Atom­waf­fen­staat umge­münzt. Der NVV-Garant Russ­land hat sein Ter­ri­to­rium auf Kosten eines Landes ver­grö­ßert, dem nach diesem rati­fi­zier­ten Vertrag der Erwerb und Bau von Kern­waf­fen aus­drück­lich ver­bo­ten ist.

Darüber hinaus ver­fügte Kyjiw Anfang der 1990er Jahre über das dritt­größte Atom­waf­fen­ar­se­nal der Welt. Die Ukraine ent­schied sich im Gegen­zug für Sicher­heits­zu­sa­gen der USA, des Ver­ei­nig­ten König­reichs und Russ­lands im inzwi­schen berüch­tig­ten Buda­pes­ter Memo­ran­dum von 1994, das dem NVV bei­gefügt ist, seine von der UdSSR geerb­ten Kern­spreng­köpfe nicht nur teil­weise, sondern voll­stän­dig an Russ­land abzu­ge­ben. Zwanzig Jahre später wurde die Ukraine für solche Nai­vi­tät vom Kreml blutig bestraft.

Die ekla­tan­ten Wider­sprü­che in Mokaus der­zei­ti­gem Stand­punkt dürften nichts­des­to­we­ni­ger die psy­cho­lo­gi­sche Wirk­sam­keit der rus­si­schen Kriegs­dro­hun­gen in West­eu­ropa nicht beein­träch­ti­gen. Unter den poli­ti­schen und intel­lek­tu­el­len Eliten Kon­ti­nen­tal­eu­ro­pas sind geo­po­li­ti­sche Nai­vi­tät und ein sim­plis­ti­scher Pazi­fis­mus, der wesent­li­che Gründe für Krieg und Frieden ver­kennt, weit ver­brei­tet. Daher ist es wahr­schein­lich, dass ver­schie­dene west­eu­ro­päi­sche Öffent­lich­kei­ten, nicht zuletzt die deut­sche, den schril­len For­de­run­gen Russ­lands schließ­lich nach­ge­ben werden.

Die deut­sche Prädisposition

Deutsch­land ist weder ein Kern­waf­fen­staat, noch Mit­glied des UN-Sicher­heits­ra­tes, noch Unter­zeich­ner des Buda­pes­ter Memo­ran­dums über Sicher­heits­ga­ran­tien im Zusam­men­hang mit dem Bei­tritt der Ukraine zum NVV, noch ein Expor­teur von Waffen in die Ukraine. Die deut­sche Regie­rung hat in der Ver­gan­gen­heit wenig zur Erhö­hung der ukrai­ni­schen mili­tä­ri­schen Sicher­heit bei­getra­gen und wird dies auch in Zukunft nicht tun. Statt­des­sen hat Berlin während des NATO-Gipfels in Buka­rest im April 2008 den Beginn des Bei­tritts Geor­gi­ens und der Ukraine zum nord­at­lan­ti­schen Bündnis verhindert.

Die Eröff­nung der ersten rus­sisch-deut­schen Nord-Stream-Pipe­line in den Jahren 2011–2012 ver­rin­gerte die Abhän­gig­keit Russ­lands vom Gas­trans­port­sys­tem der Ukraine. Mit Nord Stream und Turk Stream, einer neuen Pipe­line durch das Schwarze Meer seit 2020, hat sich die Hebel­kraft des wich­tigs­ten Druck­mit­tels Kyjiws gegen­über Moskau bereits deut­lich ver­rin­gert. Die Nord Stream-2-Pipe­line, die 2022 in Betrieb gehen könnte, würde jeg­li­chen künf­ti­gen rus­si­schen Bedarf an ukrai­ni­schen Gas­trans­port­ka­pa­zi­tä­ten beenden und Putin in Bezug auf den wider­spens­ti­gen „Bru­der­staat“ völlig freie Hand geben.

Trotz Berlins ambi­va­len­tem Ver­hal­ten in Ost­eu­ropa hat Deutsch­land in der Ver­gan­gen­heit eine Füh­rungs­rolle in den Bezie­hun­gen der EU sowohl zu Russ­land als auch der Ukraine über­nom­men und wird dies mög­li­cher­weise auch in Zukunft tun. Die tra­di­tio­nell ver­söhn­li­che Haltung Deutsch­lands und anderer kon­ti­nen­tal­eu­ro­päi­scher Staaten gegen­über dem rus­si­schen Impe­ria­lis­mus wird womög­lich auch wei­ter­hin kon­se­quen­tere und prin­zi­pi­en­fes­tere Ansätze des Westens gegen­über Moskau ver­drän­gen. Es könnte bald zu einer Wie­der­ho­lung der skan­da­lö­sen, von Deutsch­land und Frank­reich geför­der­ten Wie­der­zu­las­sung der rus­si­schen Dele­ga­tion in die Par­la­men­ta­ri­sche Ver­samm­lung des Euro­pa­rats (engl. Abkür­zung: PACE) kommen.

Diese umstrit­tene Ent­schei­dung von 2019 stellte eine kuriose Umkeh­rung der ursprüng­li­chen Posi­tion, die PACE nach Russ­lands Anne­xion der Krim und dem Beginn seiner ver­deck­ten Inter­ven­tion in der Ost­ukraine ein­ge­nom­men hatte, dar. In Reak­tion darauf war die rus­si­sche PACE-Dele­ga­tion 2014 aus der Ver­samm­lung ver­bannt worden. Fünf Jahre später war noch keine der Bedin­gun­gen für eine Wie­der­zu­las­sung Russ­lands erfüllt. Dennoch wurde Russ­lands Dele­ga­tion im Sommer 2019 wieder voll­wer­ti­ger Teil der Par­la­men­ta­ri­schen Ver­samm­lung des Euro­pa­rats. Ein ähnlich pein­li­cher Rück­zie­her der West­eu­ro­päer könnte sich nun in Bezug auf die Erklä­rung des NATO-Gipfels in Buka­rest vom April 2008 anbah­nen. Dort hatte das nord­at­lan­ti­sche Bündnis ange­kün­digt hatte, dass die Ukraine und Geor­gien Mit­glie­der der NATO werden.

Erwei­te­rungs­be­schlüsse der NATO können nur in vollem Konsens gefasst werden, was bedeu­tet, dass jedes Mit­glieds­land die Mög­lich­keit hat, mit einem Veto den Bei­tritt eines neuen Staates zum Bündnis zu ver­hin­dern. Vor dem Hin­ter­grund ihres Ver­hal­tens im Euro­pa­rat im Jahr 2019 erscheint es möglich, dass Länder wie Deutsch­land und Frank­reich in Bezug auf die Haltung der NATO gegen­über Kyjiw und Tiflis nun ähn­li­che Inkon­se­quenz an den Tag legen wie in Bezug auf die Mit­glied­schaft Russ­lands in der Par­la­men­ta­ri­schen Ver­samm­lung des Euro­pa­rats. Berlin, Paris, Rom oder/​und andere west­eu­ro­päi­sche Haupt­städte könnten dem­nächst begin­nen zu signa­li­sie­ren, dass der künf­tige Bei­tritt der Ukraine und Geor­gi­ens zur NATO von der Zustim­mung Russ­lands abhängt, dass die Zusage des Bünd­nis­ses von 2008 an diese Länder nicht ernst gemeint war oder gar dass der ent­schei­dende Satz der Buka­res­ter Erklä­rung zum Bei­tritt der Ukraine und Geor­gi­ens null und nichtig ist. Ein solches Signal würde in Ost­eu­ropa große Ent­täu­schung her­vor­ru­fen und der Glaub­wür­dig­keit der NATO einen Schlag ver­set­zen. Ange­sichts der offen­kun­di­gen Ent­schlos­sen­heit Putins, die Ukraine in der Umlauf­bahn Russ­lands zu halten, und vor dem Hin­ter­grund frü­he­ren Ein­kni­ckens west­eu­ro­päi­scher Staaten gegen­über dem Kreml erscheint ein solcher Verlauf der Ereig­nisse aller­dings plausibel.

Die EU als Alter­na­tive zur NATO

Wenn es tat­säch­lich zu einer neuen Selbst­ver­leug­nung des Westens und seiner Grund­werte kommt, wäre es wichtig, dass West­eu­ropa zumin­dest einen gewis­sen Repu­ta­ti­ons­er­halt im Osten Europas betreibt. Im par­ti­el­len Aus­gleich für eine unaus­ge­spro­chene oder gar aus­drück­li­che Rück­nahme der Bei­tritts­zu­sage des nord­at­lan­ti­schen Bünd­nis­ses von 2008 an die Ukraine und Geor­gien sind ver­schie­dene Formen bi- oder mul­ti­la­te­ra­ler Scha­dens­be­gren­zung denkbar. Eine Vor­ge­hens­weise könnte darin bestehen, eine ernst­hafte NATO-Bei­tritts­per­spek­tive durch eine offi­zi­elle und schrift­li­che EU-Bei­tritts­per­spek­tive für die Ukraine und Geor­gien zu erset­zen und dieses Angebot auch auf die Repu­blik Moldau aus­zu­deh­nen. Moldau gehört eben­falls zum so genann­ten Asso­zia­ti­ons­trio dieser drei Länder im Rahmen des Öst­li­chen Part­ner­schafts­pro­gramms der EU und hat, wie die beiden anderen, uner­wünschte rus­si­sche Truppen auf seinem Ter­ri­to­rium zu stehen. Eine expli­zite EU-Bei­tritts­per­spek­tive könnte ins­be­son­dere die bereits dritte Düpie­rung der Ukraine durch den Westen infolge der Abwer­tung des Buda­pes­ter Memo­ran­dums der drei NVV-Grün­dungs­staa­ten von 1994, einer künf­ti­gen Auf­wei­chung der Buka­res­ter Erklä­rung der NATO-Mit­glie­der von 2008 und der Rück­nahme des PACE-Aus­schlus­ses Russ­lands von 2014 mildern.

Die Ankün­di­gung einer offi­zi­el­len EU-Bei­tritts­per­spek­tive für die Ukraine, Geor­gien und Moldau wäre ohnehin ein kaum sub­stan­ti­ell rele­van­ter Schritt. Die drei Länder ver­fü­gen bereits über voll­stän­dig rati­fi­zierte und beson­ders weit­rei­chende EU-Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men (AA). Die kom­pli­zierte, mehr­jäh­rige Umset­zung der drei AAs stellt eine ver­schlei­erte Vor­be­rei­tung der Ukraine, Geor­gi­ens und Moldaus auf den Bei­tritt zur Union dar. Eine Unge­reimt­heit der drei 2014 unter­zeich­ne­ten Abkom­men war stets das Fehlen einer Bei­tritts­per­spek­tive. Die außer­or­dent­lich tiefe Inte­gra­tion der Ukraine, Moldaus und Geor­gi­ens in den Wirt­schafts- und Rechts­raum der EU durch die AAs steht im Wider­spruch zum Fehlen einer Aussage über das letzt­end­li­che Ziel des Annä­he­rungs­pro­gramms, das in den drei Mam­mut­ver­trä­gen vor­ge­se­hen ist.

Darüber hinaus heißt es in der inof­fi­zi­el­len Ver­fas­sung der EU, dem Vertrag von Lis­sa­bon aus dem Jahr 2007, in Artikel 49: „Jeder euro­päi­sche Staat, der die in Artikel 2 genann­ten Werte [Achtung der Men­schen­würde, Frei­heit, Demo­kra­tie, Gleich­heit, Rechts­staat­lich­keit und Wahrung der Men­schen­rechte ein­schließ­lich der Rechte von Per­so­nen, die Min­der­hei­ten ange­hö­ren] achtet und sich ver­pflich­tet sie zu fördern, kann bean­tra­gen, Mit­glied der Union zu werden.“ Es besteht kein Zweifel daran, dass die Ukraine, Geor­gien und Moldau euro­päi­sche Länder sind. Geor­gien zum Bei­spiel hat eine der ältes­ten christ­li­chen Kirchen Europas.

Eine offi­zi­elle Ankün­di­gung, dass die Staaten des Asso­zia­ti­ons­trio die Mög­lich­keit haben, Voll­mit­glie­der der EU zu werden, wäre nur wenig mehr als eine Spe­zi­fi­zie­rung einer bereits ver­kün­de­ten all­ge­mei­nen Bestim­mung der Union. An den künf­ti­gen Bezie­hun­gen Brüs­sels zur Ukraine, zu Geor­gien und zur Repu­blik Moldau würde dies im Grunde wenig ändern. Früher oder später werden die drei Länder – bei erfolg­rei­cher Umset­zung ihrer Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men – ohnehin eine offi­zi­elle EU-Bei­tritts­per­spek­tive erhalten.

Eine solche Offerte bereits heute wäre eine ange­mes­sene Geste gegen­über der Ukraine und Geor­gien, falls ver­schie­dene west­eu­ro­päi­sche Länder begin­nen, das NATO-Bei­tritts­ver­spre­chen von 2008 auf­zu­wei­chen oder sich sogar davon zu ver­ab­schie­den. Ein öffent­li­ches Bekennt­nis der EU könnte nicht nur als psy­cho­lo­gi­scher Aus­gleich sowie als demons­tra­tive Bekräf­ti­gung west­li­cher Werte und Soli­da­ri­tät in Bezug auf die Demo­kra­tien Ost­eu­ro­pas dienen. Sie könnte auch einen alter­na­ti­ven sicher­heits­po­li­ti­schen Rahmen für die Ukraine und Geor­gien dar­stel­len, da die EU seit kurzem auch zu einer offi­zi­el­len Ver­tei­di­gungs­union gewor­den ist. Der neue Artikel 42.7 des Lis­sa­boner Ver­trags von 2007 besagt: „Wird ein Mit­glied­staat Opfer eines bewaff­ne­ten Angriffs auf sein Hoheits­ge­biet, so sind die anderen Mit­glied­staa­ten diesem gegen­über ver­pflich­tet, ihm mit allen in ihrer Macht ste­hen­den Mitteln gemäß Artikel 51 der Charta der Ver­ein­ten Natio­nen Hilfe und Bei­stand zu leisten.“

Die Bei­stands­ga­ran­tie der EU ist frei­lich ein schwä­che­res Sicher­heits­in­stru­ment als Artikel 5 des Washing­to­ner Ver­tra­ges der NATO; sie ist aber auch nicht trivial. Die EU stellt zwar nicht in erster Linie ein Mili­tär­bünd­nis dar und schließt die USA sowie seit 2016 auch das Ver­ei­nigte König­reich als Atom­mächte nicht mit ein. Auch setzt Brüssel in seiner Außen­po­li­tik eher auf Soft- als Hard­power. Dennoch ist die EU auf­grund ihrer beträcht­li­chen wirt­schaft­li­chen Macht und ihrer kon­ven­tio­nel­len mili­tä­ri­schen Stärke sowie Frank­reichs Nukle­ar­waf­fen kei­nes­wegs ein Papier­ti­ger. Vor diesem Hin­ter­grund würde der Bei­tritt des Asso­zia­ti­ons­trios zur EU die drei Länder aus der geo­po­li­ti­schen Grau­zone, in der sie sich derzeit befin­den, herauslösen.

Putin den Wind aus den Segeln nehmen

Ein solches Vor­ge­hen würde Putin zu einem innen- und außen­po­li­ti­schen Offen­ba­rungs­eid zwingen. Die EU wird in der ganzen Welt, so auch in der rus­si­schen Bevöl­ke­rung, als weit weniger bedroh­lich wahr­ge­nom­men als die NATO (deren angeb­li­che Aggres­si­vi­tät frei­lich eben­falls eine Fehl­ein­schät­zung ist). Die Ost­erwei­te­rung der Union kann nicht ohne wei­te­res als exis­ten­zi­el­les mili­tä­ri­sches Sicher­heits­ri­siko für Russ­land dar­ge­stellt werden. Die macht eine neue EU-Expan­sion geo­po­li­tisch weniger bedeut­sam als eine weitere NATO-Ost­aus­deh­nung. Ein Ein­schluss des Asso­zia­ti­ons­trios in die EU wäre gegen­über Russ­land, dessen ver­schie­dene poli­ti­sche und sons­tige Ver­tre­ter vor und unter Putin zahl­rei­che pro-euro­päi­sche Erklä­run­gen abge­ge­ben haben, leicht zu rechtfertigen.

Es ist zu erwar­ten, dass in den kom­men­den Monaten die 2008 ein­ge­gan­gene Selbst­ver­pflich­tung der NATO zur Auf­nahme der Ukraine und Geor­gi­ens auf die eine oder andere Weise auf­ge­weicht wird. Die Kon­sis­tenz und Kohä­renz der öffent­li­chen Kom­mu­ni­ka­tion der NATO und ihrer Mit­glied­staa­ten hat bereits in der Ver­gan­gen­heit gelit­ten. Selbst wenn die Buka­res­ter Erklä­rung formal bestehen bleibt, scheint es wahr­schein­lich, dass die Glaub­wür­dig­keit des Bünd­nis­ses auf­grund west­eu­ro­päi­scher Inkon­se­quenz im Jahr 2022 weiter sinkt. Eine EU-Bei­tritts­per­spek­tive für die Ukraine, Geor­gien und Moldaus kann vor diesem Hin­ter­grund das Gesicht West­eu­ro­pas wenigs­tens teil­weise wahren.

Eine solche Ankün­di­gung würde die neo­im­pe­ria­lis­ti­sche rus­si­sche Elite vor eine kom­pli­zierte kon­zep­tio­nelle Her­aus­for­de­rung stellen. Der Appetit des Kremls auf Ein­be­zie­hung der post­so­wje­ti­schen Staaten und ins­be­son­dere der Ukraine in die rus­si­sche Ein­fluss­sphäre bliebe sicher bestehen. Tat­säch­lich könnte eine EU-Bei­tritts­per­spek­tive für Moldau, Geor­gien und die Ukraine von den Macht­ha­bern im Kreml sogar als bedroh­li­cher emp­fun­den werden als die Bei­tritts­zu­sage der NATO. Ange­sichts der großen Popu­la­ri­tät Europas in Russ­land könnte ein solcher Schritt ein­fa­chen Russen sug­ge­rie­ren, dass die Zukunft post­so­wje­ti­scher Staaten nicht durch ihre gemein­same Ver­gan­gen­heit als Teile des Zaren- und Sowjet­reichs vor­her­be­stimmt ist. Der Kreml wäre daher wahr­schein­lich gegen einen EU-Bei­tritt ebenso kri­tisch ein­ge­stellt, wie gegen einen NATO-Bei­tritt der Ukraine.

Doch wäre die bisher vor­herr­schende Recht­fer­ti­gung für den rus­si­schen Neo­im­pe­ria­lis­mus – seine angeb­li­che Selbst­ver­tei­di­gungs­funk­tion – im Falle von Moskaus Wider­stand gegen ein EU-Ost­erwei­te­rung sowohl intern als auch inter­na­tio­nal unglaub­wür­dig. Das Bild einer angeb­lich exis­ten­zi­el­len Bedro­hung der rus­si­schen Nation zu beschwö­ren, würde bei einer mög­li­chen neuen EU-Ost­erwei­te­rung nicht ohne wei­te­res funk­tio­nie­ren. Ein öffent­li­ches Angebot Brüs­sels der Mög­lich­keit eines künf­ti­gen EU-Bei­tritts der Ukraine, Geor­gi­ens und Moldaus würde Moskau vor eine letzt­lich unlös­bare Pro­pa­gan­da­auf­gabe stellen. Er würde den gesamt­eu­ro­päi­schen Inte­gra­ti­ons­pro­zess neu beleben, das inter­na­tio­nale Ansehen von Ländern wie Deutsch­land und Frank­reich stärken und die innen­po­li­ti­schen Reform­pro­zesse in der Ukraine, Geor­gien und Moldau vorantreiben.

Dieser Artikel ist zuerst auf Eng­lisch bei „Desk Russie“ erschie­nen.

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Portrait von Andreas Umland

Dr. Andreas Umland ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Stock­hol­mer Zentrum für Ost­eu­ro­pa­stu­dien (SCEEUS) und Senior Expert am Ukrai­nian Insti­tute for the Future in Kyjiw. 

 

 

 

 

 

 

 

 

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