„Ohne Memes würde ich nicht über­le­ben“– Resi­li­enz in der Ukraine

Bom­ben­kel­ler in der Kyjiwer U‑Bahn, Januar 2023, Foto: Maxym Maru­senko /​ Imago Images

Seit einem Jahr bestimmt der Krieg den Alltag der Ukrainer:innen. Wie gestal­ten sie ihr Leben und Über­le­ben ange­sichts der stän­di­gen Angriffe? Was macht ihre Wider­stands­kraft aus? Ein per­sön­li­cher Blick von Imke Hansen, die in der Ukraine psy­cho­so­ziale Hilfe organisiert.

Wenn ich nach Resi­li­enz in der Ukraine gefragt werde, fällt mir als Erstes die „Neue Post“ ein – die „Nowa Potschta“ (NP), ein enorm schnel­ler, zuver­läs­si­ger Post­ser­vice. Die Neue Post ist wie ein weit ver­zweig­tes Ner­ven­sys­tem der ukrai­ni­schen Gesell­schaft, das bis in die äußers­ten Ecken reicht.

Die „Neue Post“ leistet etwas, das für Resi­li­enz ganz ent­schei­dend ist: Sie ver­bin­det Men­schen mit­ein­an­der – sowohl durch Sen­dun­gen als auch durch den sozia­len Aus­tausch. Während man Sen­dun­gen aufgibt, abholt oder in der Schlange steht, trifft man Men­schen, hört Neu­ig­kei­ten, bewegt sich in einem greif­ba­ren sozia­len Raum – man tut etwas Nor­ma­les. Die NP gibt Men­schen auch in Gebie­ten mit stark beschä­dig­ter Infra­struk­tur die Mög­lich­keit, Dinge zu bestel­len, die sie brau­chen, oder Dinge zu ver­kau­fen, um ihren Lebens­un­ter­halt zu bestrei­ten. In den ange­grif­fe­nen oder befrei­ten Gebie­ten, in denen eine NP-Filiale auf­macht, kehrt das Leben schnell zurück. Die NP lässt sich vom Krieg nicht unter­krie­gen. Sie ist Quelle, Symbol und Resul­tat der Resi­li­enz zugleich.

Sich von Wid­rig­kei­ten nicht unter­krie­gen lassen

Resi­li­enz ist die Fähig­keit, sich an ver­än­derte Umwelt­be­din­gun­gen anpas­sen und sich von Wid­rig­kei­ten nicht unter­krie­gen zu lassen. In der Ukraine gibt es aktuell zahl­lose Zeichen der Resi­li­enz, von den global sicht­ba­ren bis zu den kleinen, all­täg­li­chen Impro­vi­sa­tio­nen und Freund­lich­kei­ten, die außer­halb der Ukraine viel­leicht gar nicht wahr­ge­nom­men werden.

Strom­aus­fälle werden in gene­ra­tor­be­trie­be­nen Co-Working-Spaces und Cafés über­brückt. In vielen Orten gibt es Räume oder Zelte mit dem sym­bo­li­schen Namen „Punkte der Unzer­stör­bar­keit“, wo elek­tri­sche Geräte auf­la­den werden können, Trink­was­ser oder Tee und häufig auch Infor­ma­tio­nen zu wei­te­ren Diens­ten erhält­lich sind. Kleine Annehm­lich­kei­ten, die zuvor selbst­ver­ständ­lich waren, wie fri­scher Kaffee oder eine heiße Dusche, werden stärker gewür­digt. Und es wird gescherzt, dass die Strom­rech­nun­gen nied­ri­ger aus­fal­len und man jetzt mehr Zeit zum Lesen, Lieben, Reden oder Denken hat.

Wie kommt die Ukraine zu dieser Resilienz?

Die Ukraine hat Erfah­rung mit Krisen und Kriegen: Es herrscht bereits Krieg, seit Russ­land 2014 die Krim annek­tierte und von Russ­land gesteu­erte Gruppen ost­ukrai­ni­sche Gebiete besetz­ten. Zehn Jahre davor war die Oran­gene Revo­lu­tion, davor die tur­bu­len­ten und in ihrer Dra­ma­tik bis heute unter­schätz­ten Neun­zi­ger­jahre und die Reak­tor­ka­ta­stro­phe von Tscher­no­byl im Jahr 1986. Die Ukraine war einer der Haupt­kriegs­schau­plätze im Zweiten Welt­krieg, ca. 700 Städte und 28.000 Dörfer wurden zer­stört, 2,4 Mil­lio­nen Ukrainer:innen depor­tiert und acht bis zehn Mil­lio­nen getötet. Die von Stalin her­bei­ge­führte künst­li­che Hun­gers­not in den Jahren 1932 und 1933 kostete min­des­tens 3,9 Mil­lio­nen Ukrainer:innen das Leben.

In ukrai­ni­schen Fami­lien gibt es Erzäh­lun­gen, wie Krisen gemeis­tert und Ver­luste ver­wun­den wurden. Manch­mal erzäh­len mir Ukrainer:innen, dass sie sich auf Prak­ti­ken ihrer Groß­mutter besin­nen, wenn es keinen Strom oder kein Wasser gibt. Die ukrai­ni­sche Resi­li­enz hat also eine Geschichte, und Bewäl­ti­gungs­stra­te­gien schei­nen trans­ge­ne­ra­tio­nal wei­ter­ge­ge­ben zu werden.

Dazu gehört auch das im Fami­li­en­ge­dächt­nis ver­an­kerte Wissen, dass man Kriege und Krisen über­le­ben kann, auch wenn nicht alle Men­schen über­le­ben. Dass man sich an die kri­sen­be­ding­ten Ver­än­de­run­gen der exis­ten­ti­el­len, infra­struk­tu­rel­len und sozia­len Umwelt­be­din­gun­gen anpas­sen kann. Und dass es auch im Krieg Freude und Ver­bun­den­heit gibt. Der Krieg ist das eine, die Reak­tion der Men­schen auf den Krieg ist etwas anderes.

Stand-up-Comedy war noch nie so beliebt

Eine häufige Reak­tion auf den rus­si­schen Krieg gegen die Ukraine ist Humor. Wer in ukrai­ni­schen sozia­len Medien unter­wegs ist, mag staunen, worüber sich die Men­schen alles lustig machen. Stand-up-Comedy war in der Ukraine noch nie so beliebt wie im letzten Jahr. Täglich erschei­nen in sozia­len Medien neue humor­volle Memes – in vielen von ihnen geht es um die rus­si­sche Armee.

Lachen hilft dabei, eine Distanz zwi­schen einem Ereig­nis und sich selbst zu schaf­fen und die eigene Angst zu mäßigen. Es wirkt sich regu­lie­rend auf das Ner­ven­sys­tem aus und stärkt die Resi­li­enz.  „Ohne Memes würde ich nicht über­le­ben“, sagt meine Freun­din S. und ist mit dieser Haltung sicher nicht allein.

Über welches Medium der Humor auch trans­por­tiert wird, er enthält häufig kul­tur­his­to­ri­sche Refe­ren­zen, zum Bei­spiel zu zwei Gemäl­den des ukrai­nisch-rus­si­schen Malers Ilja Repin (1844–1930). Die welt­be­rühm­ten „Die Wol­ga­treid­ler“ werden als Dar­stel­lung von Russen prä­sen­tiert und mit den ukrai­ni­schen Kosaken in Repins Werk „Die Sapo­ro­ger Kosaken schrei­ben dem tür­ki­schen Sultan einen Brief“ kon­tras­tiert. Zu letz­te­rem Bild inspi­rierte den Maler eine im 19. Jahr­hun­dert auf­ge­fun­dene angeb­li­che Abschrift eines Briefes, in dem die Kosaken die Auf­for­de­rung des Sultans, sich kampf­los zu ergeben, mit derben Scher­zen und Flüchen begeg­ne­ten und ihm den Kampf ansagten.

Meme aus depo.ua

„Sogar in dunklen Zeiten gibt es Licht“

Ins­ge­samt setzten sich Kunst und Kultur aus­gie­big mit dem Krieg und seinen Folgen aus­ein­an­der. Das Kunst­pro­jekt „Sogar in dunklen Zeiten gibt es Licht“ macht den Hel­den­mut derer sicht­bar, die sonst unsicht­bar bleiben würden. Ver­schie­dene Künstler:innen ent­wer­fen Poster über Frei­wil­lige und Initia­ti­ven, die sich mit fried­li­chen Mitteln für das Über­le­ben in der Ukraine ein­set­zen. Die Poster zeigen Eva­ku­ie­run­gen von Wai­sen­kin­dern und Men­schen mit Behin­de­rung, Stu­die­rende, die Autos für die Armee repa­rie­ren, oder einen Zahn­arzt, der Bin­nen­flücht­linge behan­delt. Das Projekt macht die Zivil­ge­sell­schaft sicht­bar, die einen ent­schei­den­den Anteil der ukrai­ni­schen Resi­li­enz ausmacht.

Seit einem Jahr leisten NGOs, Initia­ti­ven und unzäh­lige Frei­wil­lige Unglaub­li­ches. Sie eva­ku­ie­ren Hun­dert­tau­sende, dar­un­ter Kinder und Senio­ren, schwan­gere Frauen und Men­schen mit Behin­de­rung. Sie orga­ni­sie­ren auch an den abge­le­gens­ten Orten medi­zi­ni­sche, psy­cho­so­ziale und huma­ni­täre Hilfe. Sie reno­vie­ren Unter­künfte für Bin­nen­flücht­linge und unter­stüt­zen vom Krieg betrof­fene Kinder.

Geste der Zuwen­dung stärkt Resilienz

Die Zivil­ge­sell­schaft rettet Leben, lindert Not und Schmerz und über­nimmt dabei viele Auf­ga­ben, die der Staat aktuell nicht wahr­neh­men kann. Für Men­schen in Not ist die Hilfe nicht nur exis­ten­ti­ell, sondern auch sym­bo­lisch – als Zeichen, der Zuwen­dung und Bestä­ti­gung, nicht ver­ges­sen worden zu sein. Diese Geste stärkt sowohl die indi­vi­du­elle Resi­li­enz der Hel­fen­den und Hilfs­emp­fan­gen­den als auch die kol­lek­tive Resi­li­enz der Gemein­schaft und Gesellschaft.

Wer immer in Bewe­gung ist, wer orga­ni­siert, hilft und rettet, hat kaum Zeit für depri­mie­rende Gedan­ken. Das Leid anderer Men­schen zu sehen ist schlimm. Aber es lindern zu können, erzeugt das Gefühl von Selbst­wirk­sam­keit. Viele Men­schen, die sich jetzt enga­gie­ren, sagen, dass sie sich noch nie so nütz­lich gefühlt haben, dass sie noch nie so viel Sinn in ihrem Leben gesehen haben wie jetzt. Auch das stärkt die Resilienz.

Omni­prä­sente Bedro­hung führt zu Stress und Kon­flik­ten im Alltag

Gleich­zei­tig ist spürbar, dass ein Jahr Groß­in­va­sion deut­li­che Spuren bei den Men­schen hin­ter­las­sen hat. Das Stress­le­vel ist hoch, Kon­flikte eska­lie­ren leicht. Der Krieg wirkt wie ein Kata­ly­sa­tor, der mehr Druck und Dra­ma­tik in Aus­ein­an­der­set­zun­gen bringt. Es wird immer wich­ti­ger, gut auf sich und andere auf­zu­pas­sen – und zu ver­ste­hen, dass Men­schen sich ange­sichts der omni­prä­sen­ten Bedro­hung schnel­ler ange­grif­fen und bedroht fühlen als sonst. Wer um das eigene Über­le­ben kämpft, kann sich nicht in andere hin­ein­ver­set­zen oder Empa­thie emp­fin­den. Die daraus ent­ste­hen­den Kon­flikte wurzeln also weniger in unter­schied­li­chen Mei­nun­gen als in der Belas­tung, der Angst und dem Stress, die zehn Jahre Krieg und zwölf Monate Groß­in­va­sion mit sich gebracht haben.

Dr. phil. Imke Hansen ist eine inter­dis­zi­pli­när arbei­tende His­to­ri­ke­rin für Ost­eu­ro­päi­sche Geschichte mit Schwer­punkt Oral History. Sie ist stell­ver­tre­tende Geschäfts­füh­re­rin der Orga­ni­sa­tion Libe­reco – Part­ner­ship for Human Rights und leitet den Bereich der psy­cho­so­zia­len Hilfe in der Ukraine. 

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