EU-Bei­tritt der Ukraine: Fort­schritt mit Hindernissen

Nach der Pres­se­kon­fe­renz zum Euro­pa­tag am 9. Mai 2023, Foto: Ukrai­nian Pre­si­dency /​ Imago Images

Vor einem Jahr hat die EU der Ukraine den Status eines EU-Bei­tritts­kan­di­da­ten ver­lie­hen. Das ver­gan­gene Jahr hat gezeigt, dass diese Ent­schei­dung sowohl das Enga­ge­ment und den Ein­fluss der EU auf den Reform­pro­zess in der Ukraine ver­stärkt als auch die Ukraine auf ihrem Weg zur euro­päi­schen Inte­gra­tion unter­stützt hat. Aber: Es bleibt noch einiges zu tun.

Schwie­rige Kri­sen­si­tua­tio­nen erfor­dern unkon­ven­tio­nel­les Denken und mutige Ant­wor­ten. Waren Dis­kus­sio­nen über eine mög­li­che Mit­glied­schaft der Ukraine in der EU vor der umfas­sen­den Inva­sion 2022 noch undenk­bar, so hat die Ver­än­de­rung der Rea­li­tä­ten am 24. Februar 2022 zu tek­to­ni­schen Ver­än­de­run­gen in der Politik geführt. Am 23. Juni 2022 stimm­ten die EU-Mit­glied­staa­ten ein­stim­mig dafür, der Ukraine den Status eines EU-Kan­di­da­ten­lan­des zu verleihen.

Die Ukraine reichte ihren Antrag auf EU-Mit­glied­schaft nur wenige Tage nach Beginn der umfas­sen­den Inva­sion ein. Für die Ukraine war es ange­sichts des rus­si­schen Angriffs eine exis­ten­ti­elle Not­wen­dig­keit, sich aus dem poli­ti­schen Nie­mands­land zu lösen und die Zuge­hö­rig­keit zur euro­päi­schen Familie deut­lich zu machen.

Mit dem Antrag lag der Ball bei der EU, und diese musste handeln. Die Dis­kus­sio­nen inner­halb der EU, die dieser Ent­schei­dung vor­aus­gin­gen, waren nicht gerade einfach. Während die ost­eu­ro­päi­schen und skan­di­na­vi­schen EU-Mit­glied­staa­ten den Bei­tritt der Ukraine stets befür­wor­te­tet haben, standen Deutsch­land und andere EU-Länder ihm eher skep­tisch gegenüber.

„Stra­te­gi­sche Unklar­heit über die euro­päi­sche Per­spek­tive der Ukraine“

Noch im Mai 2022 sagte der fran­zö­si­sche Prä­si­dent Emma­nuel Macron, dass der Weg der Ukraine zur EU-Mit­glied­schaft eine Frage von Jahr­zehn­ten sei, und Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz stimmte zu. Bis Mitte Juni schie­nen die Aus­sich­ten auf eine posi­tive Ent­schei­dung der EU eher düster. Damals sprach der ukrai­ni­sche Außen­mi­nis­ter Dmytro Kuleba von der „stra­te­gi­schen Unklar­heit über die euro­päi­sche Per­spek­tive der Ukraine, die von einigen EU-Haupt­städ­ten in den ver­gan­ge­nen Jahren prak­ti­ziert wird.“

Am 16. Juni setzten die Staats- bzw. Regie­rungs­chefs Frank­reichs, Ita­li­ens und Deutsch­lands mit ihrer gemein­sa­men Reise nach Kyjiw ein Zeichen. Am 17. Juni folgten die Emp­feh­lung der Euro­päi­schen Kom­mis­sion, der Ukraine den EU-Bei­tritts­kan­di­da­ten­sta­tus zu ver­lei­hen, und schließ­lich am 23. Juni die ein­stim­mige Ent­schei­dung der EU.

Die neue Realität

Nelson Mandela sagte einmal: „Es erscheint immer unmög­lich, bis es voll­bracht ist.“ Mit der Ver­lei­hung des Kan­di­da­ten­sta­tus an die Ukraine wurden neue Rea­li­tä­ten geschaf­fen. Die EU erhielt damit einen stär­ke­ren Ein­fluss auf die inter­nen Refor­men in der Ukraine als je zuvor. Und es war von Anfang an klar, dass die Ukraine als nächs­ten logi­schen Schritt die Bei­tritts­ver­hand­lun­gen so bald wie möglich würde auf­neh­men wollen.

Die Euro­päi­sche Kom­mis­sion war sich dessen bewusst und knüpfte den wei­te­ren Verlauf dieses Pro­zes­ses an die Umset­zung von sieben Refor­men durch die Ukraine. Die anschlie­ßende Ent­wick­lung zeigte, dass die Rech­nung aufging: In der Ukraine prägte diese soge­nannte Kon­di­tio­na­li­tät den Reform­pro­zess in der zweiten Hälfte des Jahres 2022 und auch im Jahr 2023. Vor allem hatte nun der poli­ti­sche Wille zu Refor­men ein grö­ße­res Gewicht als die Inter­es­sen von Akteu­ren, die von feh­len­den Refor­men profitierten.

Enga­ge­ment der EU

Die EU ihrer­seits ist mit der Ent­schei­dung die Ver­pflich­tung ein­ge­gan­gen, die Ukraine viel stärker als bisher zu unter­stüt­zen. Dabei geht es nicht nur um größere finan­zi­elle, sondern auch um per­so­nelle Res­sour­cen, denn es braucht Per­so­nal und Fach­wis­sen, um die Ukraine bei ihrem Reform­pro­zess zu begleiten.

Was die Finanz­hilfe betrifft, so gewährte die EU der Ukraine für das Jahr 2023 eine Makro­fi­nanz­hilfe in Höhe von 18 Mil­li­ar­den Euro. Dazu kommen noch huma­ni­täre und mili­tä­ri­sche Hilfe. Ins­ge­samt betra­gen die Unter­stüt­zung der EU und ihrer Mit­glied­staa­ten seit Beginn Russ­lands Angriffs­krie­ges 72 Mil­li­ar­den Euro. Im Juni 2023 kün­digte die EU zudem an, der Ukraine für die Jahre 2024 bis 2027 weitere 50 Mil­li­ar­den Euro zur Ver­fü­gung zu stellen.

Um der Ukraine zu helfen, ihre Reform­an­stren­gun­gen ziel­ge­rich­tet fort­zu­füh­ren, hat die Euro­päi­sche Kom­mis­sion der Ukraine zudem zweimal – im Februar 2023 und im Juni 2023 – vorab ein Feed­back gegeben. Die beiden Feed­backs lie­fer­ten der Ukraine eine Ein­schät­zung zum Stand der Anglei­chung ihrer Gesetz­ge­bung an den soge­nann­ten EU-Besitz­stand – die Samm­lung der gemein­sa­men Rechte und Pflich­ten – und zu den all­ge­mei­nen Fort­schrit­ten bei den Refor­men. Außer­dem hat die EU bei der Euro­päi­schen Kom­mis­sion den Ukraine Service ein­ge­rich­tet – eine Nach­fol­ge­insti­tu­tion der 2014 gegrün­de­ten Ukraine Support Group.

Im Herbst 2023 soll die Ukraine einen umfas­sen­den Bericht über ihre Fort­schritte erhal­ten. Dies ist ein Stan­dard­ver­fah­ren, bei dem die EU jedes Jahr eine Reihe von Berich­ten über alle Länder ver­öf­fent­licht, die unter ihre Erwei­te­rungs­po­li­tik fallen. Aktuell sind dies die sechs west­li­chen Bal­kan­län­der, die Türkei, die Ukraine und Moldau. Für die Ukraine ist der Bericht von beson­de­rer Bedeu­tung: Nur wenn er positiv aus­fällt, kann die Ukraine hoffen, dass Bei­tritts­ver­hand­lun­gen bald eröff­net werden.

Ernüch­ternde Ein­schät­zung der EU

Der Bericht, den die Euro­päi­sche Kom­mis­sion der Ukraine Anfang Februar 2023 zur Ver­fü­gung stellte, am Vor­abend des jähr­li­chen Gip­fel­tref­fens zwi­schen der EU und der Ukraine, bewer­tete die Umset­zung der EU-Anfor­de­run­gen durch die Ukraine. Dieser vor­läu­fige Bericht wurde nach der glei­chen Metho­dik erstellt, nach der auch die Bei­tritts­be­richte gefer­tigt werden. Er deckt 31 Ver­hand­lungs­ka­pi­tel ab, die in sechs Cluster ein­ge­teilt sind. Der ernüch­ternde Befund: Die Ukraine ist in den meisten Ver­hand­lungs­ka­pi­teln nicht sehr weit fortgeschritten.

Der Bericht sollte die Erwar­tun­gen der Ukraine dämpfen. Kurz nach Ein­rei­chung des Bei­tritts­an­trags hatten ukrai­ni­sche Beamte viel über ein beschleu­nig­tes Bei­tritts­ver­fah­ren für die Ukraine gespro­chen. Noch Ende Januar 2023 erklärte der ukrai­ni­sche Pre­mier­mi­nis­ter Denys Shmyhal, die Ukraine hoffe, der EU inner­halb von zwei Jahren bei­tre­ten zu können. Es ist jedoch unstrit­tig, dass diese Erwar­tun­gen unrea­lis­tisch sind: Der Prozess vom Bei­tritts­an­trag bis zur Voll­mit­glied­schaft dauert im Durch­schnitt zehn Jahre.

 … aber mitten im Krieg hoch­ran­gige Treffen in Kyjiw

Die EU bekräf­tigte ihr Enga­ge­ment jedoch, indem sie zustimmte, den jähr­li­chen EU-Ukraine-Gipfel im Februar 2023 – mitten im Krieg – in Kyjiw abzu­hal­ten, ursprüng­lich war der Gipfel in Brüssel geplant. Von nicht gerin­ge­rer Bedeu­tung war das gemein­same Treffen der Euro­päi­schen Kom­mis­sion und der Regie­rung der Ukraine am 2. Februar, am Vor­abend des Gipfels.  So trafen die Prä­si­den­tin der Euro­päi­schen Kom­mis­sion Ursula von der Leyen und 15 Kom­mis­sare in Kyjiw mit der ukrai­ni­schen Regie­rung zusam­men – eine noch nie dage­we­sene Geste der Solidarität.

Erst­mals trafen sich die Ukraine und die EU in diesem Format. Sie nutzten die Gele­gen­heit, um wich­tige Fragen der Bezie­hun­gen zwi­schen der EU und der Ukraine, die Unter­stüt­zung der EU für die Ukraine während des Krieges und danach sowie die Refor­men im Land zu erörtern.

Die Refor­men in der Ukraine und die Ein­fluss­mög­lich­kei­ten der EU

Nun hofft die Ukraine, dass der Bericht der Kom­mis­sion im Herbst 2023 positiv aus­fällt und der Rat der EU im Dezem­ber grünes Licht für die Auf­nahme von Bei­tritts­ge­sprä­chen gibt. Selen­skyj bekräf­tigte letzte Woche erneut, dass die Ukraine die Bei­tritts­ge­sprä­che noch in diesem Jahr eröff­nen will und alle EU-Emp­feh­lun­gen erfüllt wird.

Tat­säch­lich wurden die Refor­men erheb­lich beschleu­nigt, nachdem die EU der Ukraine den Status eines Kan­di­da­ten­lan­des zuer­kannt und die sieben Reform­schritte fest­ge­legt hatte. Diese bezie­hen sich auf Refor­men des Jus­tiz­we­sens, Kor­rup­ti­ons- und Geld­wä­sche­be­kämp­fung, das Vor­ge­hen gegen olig­ar­chi­sche Struk­tu­ren, Refor­men der Medi­en­ge­setz­ge­bung und den Schutz der natio­na­len Minderheiten.

Das zeigt deut­lich: Wenn die EU ihre For­de­run­gen konkret for­mu­liert und einen starken Anreiz für die Ukraine bietet, kommen die Refor­men merk­lich voran – Zucker­brot und Peit­sche. Auch früher war das schon der Fall, wie man in einem LibMod-Stra­te­gie­pa­pier von Maryna Rabi­no­vych nach­le­sen kann.

In vielen Fällen sind Refor­men nur eine Frage des poli­ti­schen Willens: So wurde die Ernen­nung eines neuen Leiters der Anti­kor­rup­ti­ons­staats­an­walt­schaft zuvor offen­bar fast ein Jahr lang blo­ckiert – nach der Ent­schei­dung über den Kan­di­da­ten­sta­tus ging es plötz­lich sehr schnell. Seit Januar 2023 mussten außer­dem unzäh­lige hoch­ran­gige Beamte ihren Posten ver­las­sen oder wurden von den Anti­kor­rup­ti­ons­be­hör­den fest­ge­nom­men. Der spek­ta­ku­lärste Fall war die Inhaf­tie­rung des Vor­sit­zen­den des Obers­ten Gerichts­hofs der Ukraine im Rahmen einer Unter­su­chung wegen mut­maß­li­cher Bestechung in Höhe von 2,7 Mil­lio­nen US-Dollar im Mai 2023.

Posi­tive Dynamik – aber noch eine Menge Hausaufgaben

Der füh­rende ukrai­ni­sche Think-Tank New Europe Centre ver­öf­fent­licht fort­lau­fend den soge­nann­ten Kan­di­da­ten-Check. Jede Über­prü­fung (bisher ins­ge­samt vier Über­prü­fun­gen) zeigt, dass die Ukraine Fort­schritte macht. Im letzten Bericht, der im Mai 2023 ver­öf­fent­licht wurde, werden die Bemü­hun­gen der Ukraine mit 6,8 von 10 Punkten bewertet.

Das Feed­back zur Umset­zung der sieben Reform­schritte, das die Euro­päi­sche Kom­mis­sion der Ukraine letzte Woche gab, fiel jedoch gemischt aus. Die Euro­päi­sche Kom­mis­sion merkte an, dass die Ukraine nur zwei der sieben Emp­feh­lun­gen voll­stän­dig umge­setzt habe: die Jus­tiz­re­form und die Reform der Medi­en­ge­setz­ge­bung. Bei den anderen fünf Refor­men stehen wich­tige Maß­nah­men noch aus. Die Ukraine hat also bis Herbst noch eine Menge Haus­auf­ga­ben zu erle­di­gen – erst dann wird man über kon­krete Bei­tritts­ver­hand­lun­gen spre­chen können.

Portrait von Iryna Solonenko

Dr. Iryna Solo­nenko ist Pro­gramm­di­rek­to­rin der Ukraine-Pro­jekte beim Zentrum Libe­rale Moderne.

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