„Kriege beginnen mit Stille“
„Es tut weh, das zu sehen. Und es muss wehtun.“ Diese Worte bringen die Seherfahrung des Dokumentarfilms „20 Days in Mariupol“ (2022) von Mstyslaw Tschernow auf den Punkt: Der Film will als Dokument die Wahrheit über den zerstörerischen russischen Angriffskrieg festhalten, das Wissen um das Leid der Ukrainer und Ukrainerinnen mit der Welt teilen und zu einer Ahndung der Kriegsverbrechen beitragen.
Im Auftrag der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press dokumentierten Mstyslaw Tschernow, Jewhen Maloletka und Wasylysa Stepanenko die ersten 20 Tage der vollumfassenden Invasion in Mariupol – bis sie die letzten Foto- und Filmjournalisten in der bereits abgeriegelten und massiv zerstörten ostukrainischen Hafenstadt am Asowschen Meer waren. Nur knapp und mit Hilfe selbstloser ukrainischer Sicherheitsbeamter gelang ihnen die Flucht aus dem strategisch bedeutsamen, bereits besetzten Gebiet. Das Trio entkam nicht nur selbst einer wahrhaftigen Hölle, es beförderte auch wichtiges Bild- und Beweismaterial, Grundlage des hier besprochenen Films, aus der Kampfzone.
Filmchronik einer sterbenden Stadt
Die ruhige Stimme von Mstyslaw Tschernow, der als Fotojournalist, Filmemacher und Kriegsreporter mehrfach ausgezeichnet wurde, führt in präzisen – mal deskriptiven, mal reflektierenden – Sätzen durch die sich vor seinen Augen vollziehende Apokalypse der Belagerung, Einkesselung und schließlich Übernahme Mariupols durch die russischen Angreifer.
„Es sagte mal jemand zu mir, Kriege beginnen nicht mit Explosionen – sie beginnen mit Stille.“ Es ist eine trügerische Stille, die in den ersten Stunden des 24. Februars über Mariupol liegt. Damit beginnt der Film: Diese Stille wird in immer kürzeren Abständen vom brutalen Sound des Alarms und den darauffolgenden Raketenschlägen und Explosionen unterbrochen, bis sie ganz verschwindet.
Katastrophe eines fatalistischen Zerstörungskriegs
Der Film zeichnet eine erschütternde Chronik jener verlustreichen Tage, in denen die Augen der ganzen Welt auf die schockierenden Nachrichten und Bilder aus Mariupol und anderen ukrainischen Städten gerichtet sind: Zwar scheitert Russlands „Blitzkrieg“ mitsamt dem erhofften Sturz der Kyjiwer Führung, doch entfaltet sich die Katastrophe eines fatalistischen Zerstörungskriegs, der sich auch gezielt gegen die Zivilbevölkerung richtet.
Tschernows Filmkamera zeigt das menschliche Leid in einer sterbenden Stadt: Erschreckende Einzelschicksale wechseln sich mit Ansichten des kollektiven, urbanen Stadtkörpers ab, der langsam zerfällt. Visuell wird dieses Changieren zwischen bewegter, oft verwackelter Nahaufnahme und erhabener Stadtansicht einerseits durch den Einsatz von Handkameras, andererseits von über der Stadt schwebenden Drohnen ermöglicht. Dazwischen geschnitten sind immer wieder Nachrichtensequenzen internationaler TV-Sender, die das rare AP-Bildmaterial aus Mariupol ausstrahlten.
„Wie eine Krankheit befällt der Krieg die Stadt“
Die Belagerung von Mariupol ist ein tragischer Schlüsselmoment und Symbol des ausgeweiteten russischen Angriffskriegs, den die Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse nach der Krim-Annexion und dem Krieg im Donbas als dritte Phase des bereits fast zehn Jahre andauernden Russland-Ukraine-Kriegs benennt.
Der aus Charkiw stammende Msytslaw Tschernow legt mit diesem Film sein Dokumentarfilm-Debut vor. Er hat jedoch bereits früher viel in Mariupol gefilmt, etwa 2014, als Mariupol Zentrum russischer Angriffe war. Er sieht in der Stadt einen angegriffenen Körper: ein Kollektivwesen, dem „jeden Tag neue Wunden“ zugefügt werden. „Wie eine Krankheit befällt der Krieg die Stadt“, hört man ihn sagen.
Zu dieser Verwundung gehört auch, dass der Stadtkörper zunehmend von der Kommunikations- und Energieinfrastruktur abgekoppelt wird: Die Menschen von Mariupol verbleiben ohne Elektrizität und Heizung, das Telefonnetz fällt aus, das Radio empfängt nur noch russische Sender. Die Journalistinnen und Journalisten, die auf eine Netzverbindung angewiesen sind, um Bild- und Beweismaterial mit der Welt teilen zu können, arbeiten unter schwersten Bedingungen: Es gelingt ihnen nur in unregelmäßigen Abständen, Fotos und Kurzvideos zu versenden.
30 bis 40 Minuten aus 30 Stunden Filmmaterial, das in den 20 Tagen Aufenthalt in Mariupol entstanden ist, habe er an die AP-Redaktion schicken können, erklärt Tschernow in einem Interview der Deutschen Welle (DW). Der Film „20 Days in Mariupol“ sei der Versuch, die knappen Bildausschnitte, die in die internationale Presse gelangten, mit Kontext anzureichern – um den unermesslichen Maßstab der Zerstörung ansatzweise abbilden, den Geschichten der Menschen einigermaßen gerecht werden zu können. „Wir hatten das Gefühl, dass wir mehr tun müssen. So entstand die Idee für den Film.“
Notfallkrankenhaus Nr. 2: „Hier sterben Zivilisten!“
Der Schmerz, der über die Bilder und aufgezeichneten Schicksale vermittelt wird, ist auch deshalb so unmittelbar und schwer zu ertragen, weil er von dem involvierten, humanistischen Blick des Regisseurs geteilt wird. Dass ihn das Schicksal der Stadt – des ganzen Landes – als Ukrainer persönlich betrifft, verbirgt er nicht: „Ihr Land wird attackiert, ich verstehe ihre Wut. Es ist auch mein Land. Wir müssen seine Geschichte erzählen.”
Im Notfallkrankenhaus Nr. 2, im Westen der Stadt gelegen, arbeiten Medizinerinnen und Ärzte seit dem 24. Februar in Alarmbereitschaft, es häufen sich Einlieferungen von Menschen mit schwersten Verletzungen. „Ewangelina, vier Jahre. Ilja, 16 Jahre. Kyryl, 18 Jahre.“ Tschernow verliest die Namen von Patienteninnen und Patienten, deren Sterben er mit der Kamera dokumentiert: Auch ein Säugling, wenige Monate alt, ist zu stark verletzt, um gerettet zu werden – die junge Mutter bricht in den Armen ihres Partners zusammen. Einer der Ärzte ruft vom OP-Tisch aus in die Kamera: „Gut, dass ihr filmt, hier sterben Zivilisten!“ Er möchte, dass diese unerträglichen Bilder Putin und die ganze Welt erreichen. Das Sterben hört einfach nicht auf.
Tschernow richtet seine Kamera auf blutigste Szenen, die im Netz nur verpixelt oder mit dem Verweis „graphic content“ publiziert werden könnten – und doch zeigt er eben nicht alles, nicht die schlimmsten Bilder. „Wir mussten eine Balance dazwischen finden, die Wahrheit, das ganze Leiden zu zeigen und den Betrachter nicht zu vergraulen“, sagt er im DW-Interview. Die Bilder wühlen auf und erschüttern zutiefst – und wahren doch eine feinabgewogene respektvolle Distanz, Grundlage der journalistischen Ethik.
Von der russischen Propaganda als Fake News diffamiert
Wie wichtig die Präsenz unabhängiger Berichterstatter und Journalistinnen in aktiven Kriegszonen ist, verdeutlicht die dramatische Episode um die Bombardierung einer Geburtsklinik am 9. März: Tschernow, Maloletka und Stepanenko sind die einzigen Journalisten vor Ort, als teils hochschwangere verletzte Frauen aus dem zerstörten Krankenhaus evakuiert werden. Es sind Jewhen Maloletkas Fotos von dieser Tragödie, die auf den Titelseiten internationaler Zeitungen erscheinen – einerseits zu Ikonen couragierter journalistischer Arbeit erhoben, andererseits von der russischen Propaganda als Fake News diffamiert.
Vermutlich haben die Aufnahmen der AP-Journalisten vom Schauplatz des Verbrechens dazu beigetragen, dass die OSZE den gezielten russischen Angriff auf die Geburtsklinik tatsächlich als Kriegsverbrechen definieren und einstufen konnte.
„Die Stadt stirbt wie ein menschliches Wesen”
Es ist unter anderem einem ukrainischen Spezialeinsatzkommando zu verdanken, dass dem Trio die Flucht aus Mariupol gelingt. Der Polizist Wolodymyr, der ihnen seit der Begegnung vor der Geburtsklinik tatkräftig zur Seite steht, evakuiert sie mitsamt dem Bildmaterial mit seinem Auto – angetrieben von der Hoffnung, „diesem Horror zumindest Bedeutung zu schenken.“
Rauch steht über verwüsteten Wohngebieten. „Die Stadt stirbt wie ein menschliches Wesen“, sagt Tschernow. „Ich wünschte, ich könnte mehr tun, aber wir müssen wegfahren.“ Etwa ein Viertel der Einwohnerinnen und Einwohner ist bereits in den ersten Tagen nach dem russischen Totalangriff geflohen – aber viele Menschen bleiben zurück.
Beweise für potenzielle Kriegsverbrechen
Die Wahrheit des fortlaufenden russischen Angriffskriegs zu zeigen und „in der Geschichte Beweise für potenzielle Kriegsverbrechen“ zu hinterlassen – das sind die wichtigsten Anliegen Tschernows, der auch Präsident der Ukrainian Association of Professional Photographers (UAPP) ist. Sein Werk wurde bereits auf den renommiertesten Dokumentarfilmfestivals präsentiert, allen voran Sundance, und in diversen Kategorien nominiert und/oder ausgezeichnet.
Der Film, der am 29. Oktober 2023 auf dem Ukrainian Film Festival Berlin als Abschlussfilm lief, zeigt 20 Tage der Kriegsrealität in Mariupol. Aber es gab auch einen 21., 22. und 23. Tag – und mittlerweile ist bereits der 622. Tag verstrichen. Mstyslaw Tschernow, lebt in Berlin, wenn er nicht gerade in Kriegsgebieten arbeitet oder seinen Film im Ausland präsentiert. Mehrfach hat er betont, dass dieser filmische Ausschnitt stellvertretend steht für jenen Terror, den Russland in seinem systematisch geführten Abnutzungskrieg gegen die Ukraine täglich verübt. So, wie Mariupol für viele weitere Städtenamen steht: Butscha, Popasna, Soledar, Bachmut, Awdijiwka.
Für ihre mutige Berichterstattung aus Mariupol haben Tschernow, Maloletka und Stepanenko 2023 den Pulitzer-Preis für ihren Dienst an der Öffentlichkeit verliehen bekommen.
20 Days in Mariupol | Msytslaw Tschernow | Ukraine | 2022 | 94 Min. | Englisch, Ukrainisch, Russisch mit englischen Untertiteln
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