Wen die Ukraine ver­lo­ren hat – Opfer des Krieges

Foto: Begräb­nis Zere­mo­nie für Roman Ratu­schnyj am 18. Juni 2022 in Kyjiw; Olek­sandr Kho­menko /​ Imago Images

In ihrem Ver­tei­di­gungs­krieg gegen Russ­land zahlt die Ukraine auch mit dem Leben ihrer Söhne und Töchter. Wir erin­nern in diesem Artikel an drei bekannte Ukrainer:innen, die durch den Krieg zu früh aus dem Leben geris­sen wurden.

Die genaue Zahl der ukrai­ni­schen Opfer im rus­si­schen Angriffs­krieg ist nicht bekannt. Die mili­tä­ri­schen Ver­luste der Ukraine sind aus ver­ständ­li­chen Gründen Ver­schluss­sa­che: Man will der rus­si­schen Armee nicht frei­wil­lig mit­tei­len, ob der rus­si­sche Ver­nich­tungs­krieg effek­tiv ist. Aber auch die Zahl ziviler Opfer bleibt unklar. Der jüngste UNO-Bericht vom 24. April spricht von ledig­lich 6.661 zivilen Todes­op­fern und 11.854 Ver­letz­ten in den ukrai­nisch kon­trol­lier­ten Gebie­ten. Dazu kommen laut UNO noch knapp über 7.000 Zivilist:innen, die in den durch Russ­land besetz­ten Gebie­ten getötet oder ver­letzt wurden. Doch die sich ansons­ten sehr zurück­hal­tend äußernde UNO geht davon aus, dass diese Zahlen nur einen Bruch­teil der realen Ver­luste dar­stel­len. Die realen Zahlen dürften „deut­lich höher“ sein, so der Bericht.

In den befrei­ten Städten werden Mas­sen­grä­ber gefunden

In der Tat: Nach fast jeder Befrei­ung einer ukrai­ni­schen Stadt fand man Mas­sen­grä­ber mit den Leichen von Zivilist:innen. So wurde vor der Stadt Isjum ein Mas­sen­grab mit 447 Leichen ent­deckt. Vor dem Über­fall im Februar 2022 lebten knapp 50.000 Men­schen in Isjum, die Stadt war etwa fünf Monate unter rus­si­scher Kon­trolle. Ähn­li­che Bilder ent­stan­den in Butscha, Borod­janka oder Cherson. Es ist zu erwar­ten, dass nach der Befrei­ung wei­te­rer Städte neue Mas­sen­grä­ber mit unzäh­li­gen Toten ent­deckt werden. Über die Anzahl der nicht begra­be­nen Toten in Städten, die wie Mariu­pol oder Bachmut dem Boden gleich gemacht wurden, lässt sich nur spekulieren.

Von den über 400.000 Ein­woh­nern, die vor dem Februar 2022 in Mariu­pol lebten, sind offen­sicht­lich viele Tau­sende tot, teil­weise schon seit Monaten. Satel­li­ten­bil­der zeigen mehrere indus­tri­ell ange­legte Mas­sen­grä­ber vor der Stadt am Asow­schen Meer. Es gibt regel­mä­ßig Berichte, dass die rus­si­schen Besat­zungs­be­hör­den in Mariu­pol Wohn­häu­ser abrei­ßen, ohne die Leichen zu bergen – offen­sicht­lich, um Spuren zu ver­wi­schen.

Bereits seit 2014 gibt es auch zivile Opfer

Umso wich­ti­ger ist es, über die getö­te­ten Ukrainer:innen zu reden, deren Namen uns bekannt sind. Denn dieser Krieg fordert viele zivile Opfer und das bereits seit Jahren – trotz der rus­si­schen Lüge von der „unblu­ti­gen“ Erobe­rung der Krim.

Der erste Kriegs­tote war Fähn­rich Serhij Kokurin, der am 18. März 2014 in Sim­fe­ro­pol von einem rus­si­schen Schuss getrof­fen wurde. Auch der erste Mord an Zivi­lis­ten fand auf der Krim statt: Am 3. März 2014 wurde der krim­ta­ta­ri­sche Akti­vist Reschat Ametow von Unbe­kann­ten ent­führt. Er wurde später tot auf­ge­fun­den, seine Leiche wies Fol­ter­spu­ren auf.

Die Ukraine verlor auch Mädchen und Jungen, ihre aktive proukrai­ni­sche Jugend. So wurde bei­spiels­weise in Donezk der 16-jährige Stepan Tschub­enko, Schüler und begeis­ter­ter Torwart, ent­führt und exe­ku­tiert, weil er mit einem Band in ukrai­ni­schen Farben am Bahnhof stand. Der Opern­sän­ger Wassyl Slipak fiel im Sommer 2016 im Donbas. Er hatte die Pariser Oper ver­las­sen und sich als Frei­wil­li­ger der ukrai­ni­schen Armee gemeldet.

Roman Ratu­schnyj: ein Verlust für die demo­kra­ti­sche Bewe­gung der Ukraine

Am 8. Juni 2022, kurz vor seinem 25. Geburts­tag, fiel Roman Ratu­schnyj – ein bekann­tes Mit­glied der ukrai­ni­schen demo­kra­ti­schen Bewe­gung. Schon als Teen­ager hatte Ratu­schnyj an poli­ti­schen Pro­tes­ten teil­ge­nom­men – mit 16 Jahren demons­trierte er am Maidan und erlebte den Angriff der Schlä­ger­trup­pen des dama­li­gen Prä­si­den­ten Wiktor Janu­ko­wytsch. Im Alter von 18 Jahren pro­du­zierte er mit­hilfe frei zugäng­li­cher  Infor­ma­tio­nen eine detail­lierte Dar­stel­lung der mafiö­sen Struk­tu­ren in der Ukraine und for­derte gemein­sam mit anderen die Schaf­fung eines staat­li­chen Ermittlungsbüros.

Foto: Grab von Roman Ratu­schnyj; Oleg Pere­ver­zev /​ Imago Images

Roman Ratu­schnyj stu­dierte Jura und kämpfte gegen die Kor­rup­tion bei Bau­pro­jek­ten. Eine von ihm gegrün­dete Initia­tive half, den his­to­ri­schen Kyjiwer Stadt­teil Prota­siw Jar mit seiner Grün­an­lage vor einer ille­ga­len Bebau­ung zu schüt­zen. Hier folgte er dem Bei­spiel seines Vaters Taras, der sich für die Rettung der his­to­ri­schen Bau­sub­stanz Kyjiws enga­giert hatte. Über den cha­ris­ma­ti­schen Ratu­schnyj wurde gesagt, dass seine Zukunft in der Politik liege. „Er hätte Par­tei­chef werden können, sogar Prä­si­dent“, sagen seine Freunde. Doch der rus­si­sche Groß­an­griff ver­hin­derte das. Wenige Tage nach dem Über­fall meldete sich Ratu­schnyj bei der Armee. Er kämpfte zuerst in der Region Kyjiw, half dann bei Eva­ku­ie­run­gen in der Region Sumy. Im Juni 2022 fiel er bei der Befrei­ung der Stadt Isjum im Osten der Ukraine.

Wolo­dymyr Waku­lenko: Der Kin­der­buch­au­tor küm­merte sich um seinen autis­ti­schen Sohn

Während Roman Ratu­schnyj noch um Isjum kämpfte, war der Schrift­stel­ler Wolo­dymyr Waku­lenko, der dort gelebt hatte, bereits seit min­des­tens einem Monat tot. Der genaue Tag, an dem der 49-jährige ermor­det wurde, ist unbe­kannt – man geht von einem Tod zwi­schen dem 24. März und dem 12. Mai 2022 aus. Wolo­dymyr wurde in einem Dorf in der Nähe von Isjum geboren. Er lebte viele Jahre in Lwiw und kehrte dann nach Isjum zurück, wo er sich um seinen autis­ti­schen Sohn küm­merte. Waku­lenko schrieb Kin­der­bü­cher, die in viele Spra­chen über­setzt wurden. In seinen Gedich­ten schuf er eine bunte und son­der­bare Welt, in der ein Maul­wurf Borschtsch kocht oder eine Tee­kanne über ihre Erkäl­tung klagt.

Foto: Beer­di­gung von Wolo­dymyr Waku­lenko; Vya­ches­lav Madi­yevs­kyy /​ Imago Images

Ende März 2022 ent­führ­ten rus­si­sche Sol­da­ten Wolo­dymyr aus seinem Haus. Offen­sicht­lich wurde er denun­ziert, weil er seine Bücher auf Ukrai­nisch schrieb. Seitdem wurde er nicht mehr gesehen. Erst im Novem­ber, Monate nach der Befrei­ung Isjums, wurde seine Leiche in einem Mas­sen­grab gefun­den und mit­hilfe einer DNA-Probe iden­ti­fi­ziert. Er wurde mit zwei Pis­to­len­schüs­sen ermor­det. Im Hof seines Hauses fand man ein ver­steck­tes Tage­buch, das er während der Besat­zung führte.

Julija Sdanowska: Gold­me­daille bei der Mathematik-Olympiade

Die außer­or­dent­lich begabte Julija Sdanowska könnte die Kin­der­bü­cher von Wolo­dymyr Waku­lenko gelesen haben. Sie war ein mathe­ma­ti­sches Aus­nah­me­ta­lent: 2001 geboren, bestand sie 2017 ihre Abitur­ma­the­ma­tik­prü­fung mit 200 Punkten, dem best­mög­li­chen Ergeb­nis. Im selben Jahr gewann sie bei der Euro­pean Girls‘ Mathe­ma­ti­cal Olym­piad die Gold­me­daille als Mit­glied des ukrai­ni­schen Teams. Nach ihrem Bache­lor­ab­schluss im Fach Mathe­ma­tik bekam sie eine Ein­la­dung aus Harvard für das weitere Studium.

Foto: privat

Sdanowska träumte jedoch davon, das Schul­sys­tem in der Ukraine zu ver­än­dern. Sie blieb in der Ukraine und ging als Leh­re­rin in eine Dorf­schule in der Region Dnipro. Als der Groß­an­griff Russ­lands begann, ent­schied sie sich, trotz der Artil­le­rie­ein­schläge in Charkiw zu bleiben, um der Armee, den Älteren und Kranken zu helfen. „Ich werde bis zu unserem Sieg in Charkiw bleiben“, schrieb Sdanowska kurz vor ihrem Tod in einer SMS an ihre Freun­din. Sie war 21 Jahre alt, als eine rus­si­sche Rakete sie tötete. Das Mas­sa­chu­setts Insti­tute of Tech­no­logy rief in ihrem Namen ein Sti­pen­di­en­pro­gramm zur För­de­rung junger Mathe­ma­ti­ke­rin­nen aus der Ukraine ins Leben: Es heißt Yulia’s Dream.

Portrait von Sumlenny

Sergej Sum­lenny ist geschäfts­füh­ren­der Gesell­schaf­ter des Euro­pean Resi­li­ence Initia­tive Center in Berlin.

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