„In weiße Lumpen gehüllt stieg er auf das Fahrrad und fuhr voraus“
Dreiteilige Essayreihe: Augenzeugenberichte von jüdischen Ukrainerinnen und Ukrainern nach Beginn der russischen Invasion. Im ersten Teil berichtet Inna Satoloka, wie sie im April 2022 mit ihrer Familie aus dem belagerten Mariupol floh.
Das Projekt „Exodus-2022 – Jewish Refugees of the Russian-Ukrainian War“ sammelt Augenzeugenberichte von jüdischen Geflüchteten. Studierende, Rentner, Unternehmer, Künstler, Rabbiner – sie alle mussten unter Lebensgefahr ihre Heimatorte verlassen. Projektleiter Michael Gold hat bereits 150 Menschen interviewt. Für einige von ihnen war es die zweite Flucht in ihrem Leben. Sie haben den Holocaust überlebt – jetzt verlassen sie unter Artilleriebeschuss belagerte Städte wie Mariupol.
Inna Satoloka, Reiseführerin, Mariupol
„Am 24. Februar wurde ich um vier Uhr morgens von einer Explosion geweckt. Ich ging ins Internet und sah, dass die Luftschläge sich auf die gesamte Ukraine erstreckten. Ein Schock. Ich hatte nicht an ein solches Szenario geglaubt. Aber seit 2014 war klar, dass Mariupol im Falle eines Krieges eines der ersten Ziele sein würde. Die Stadt ist als Hafen und Zugang zur Krim von Bedeutung.
Am 25. Februar kam Witalij, ein Freund aus Kiew, zu uns, um mich und Mama aus Mariupol rauszuholen. Am 28. Februar holten wir meine 86-jährige Tante Elvira, die den Holocaust überlebt hat, und ihren 93-jährigen Mann in unser Haus im Zentrum. Zu diesem Zeitpunkt stand Mariupol schon unter ständigem Beschuss, der ganze Weg war aufgerissen und übersät mit Bombentrichtern, mit Drahtknäueln und Granatsplittern. Warum wir Mariupol nicht sofort verlassen haben? Ich konnte meinen Sohn Mark nicht zurücklassen, der das Asow-Stahlwerk verteidigte. Ich dachte, der Herr würde uns irgendwie durch diese Hölle führen. Niemand konnte sich das Ausmaß der Katastrophe vorstellen. Wir versteckten uns im Keller im Hof. Es wäre auch im Keller des Hauses möglich gewesen, aber wir hatten Angst, dass uns niemand ausgraben würde, wenn es einstürzte.
Flucht aus dem Haus
Wir hatten aus dem Jahr 2014 noch Graupen, Mehl, Zucker, Tee und einen kleinen Wasservorrat im Haus. Wir konnten dann aber gar nicht alles verwenden, weil wir am 18. März bombardiert wurden und fliehen mussten. Die Türen hatten sich verklemmt, aber Witalij zog mich, meine Mama, meine Tante und ihren Mann heraus.
Dann waren wir in der Nähe des Hafens, dort hatten wir Verwandte, aber wir waren vom Regen in die Traufe geraten. Wasser schöpften wir aus irgendwelchen Quellen, es war eher ungeeignet als Trinkwasser, sehr bitter. Wir kochten es und ließen es dann etwas stehen, aber die älteren Leute bekamen trotzdem Nierenprobleme. Lebensmittel waren knapp, wir holten sie aus den zerstörten Häusern in der Nähe. Wir kehrten auch einige Male in unser halb zerstörtes Haus zurück, um Vorräte zu holen. Eine Dose Eintopf kostete 8oo Hrywnja (etwa 24 EUR, Anmerkung der Redaktion), eine Stange Zigaretten 10.000 Hrywnja (300 EUR). Ein Liter Benzin kostete bis zu 1.000 Hrywnja (30 EUR), aber die Leute waren bereit, jeden Preis dafür zu zahlen, um aus Mariupol wegzukommen, und seien es nur 20 Kilometer.
Es geriet in Brand, was eigentlich nicht brennen kann
Anfang März brach das Telekommunikationsnetz fast überall zusammen. Nur an einem Ort in der Nähe des Krankenhauses gab es manchmal noch Internet. Doch am 30. März begann dort der Beschuss, der letzte Sendemast wurde beschädigt, und danach waren wir vollständig von Informationen abgeschnitten.
Am 8. April wurde unsere Unterkunft am Hafen von einer Mörsergranate direkt getroffen und zerstört. Erneut befreite uns Witalij, und danach bewegten wir uns von Haus zu Haus – wo etwas heil geblieben war, da blieben wir. Es gab rund um die Uhr Beschuss: Raketen, Marschflugkörper, Mörsergranaten, Marineartillerie. Aber unsere Gegend wurde auch von Phosphorbomben getroffen: Einmal wurden wir nachts wach, weil es taghell war (Anmerkung der Redaktion: Laut offiziellen ukrainischen Angaben wurden in Mariupol im Mai 2022 Phosphorbomben eingesetzt. Diese Angaben konnten nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.). Wir wussten erst nicht, was es mit dem Licht auf sich hatte. Es sah aus wie ein Salutschuss, aber dann flogen sehr schnell Phosphorbomben auf uns herab, sie sahen aus wie kleine Taschenlampen. Es geriet in Brand, was eigentlich nicht brennen kann. Einige Nachbarn versuchten zu löschen, aber in Verbindung mit dem Wasser wüteten die Flammen noch stärker. Viele Häuser brannten innerhalb von einer Stunde nieder. Am nächsten Morgen gingen wir raus, sahen uns um und riefen nach den Nachbarn. Das war nach den Bombardierungen sehr wichtig, wir versuchten, einander zuzuwinken, zu zeigen, dass wir noch lebten. Aber an dem Morgen sahen wir auf einem Hof nur sehr viel Blut.
Großvater auf dem Rad erschossen
Am 12. April versuchten wir noch einmal, zu unserem Haus zu gelangen, um Vorräte zu holen. Wir fuhren mit Fahrrädern über die Uferpromenade, das war früher Mariupols Lebensader am Meer. Jetzt lagen dort Leichen, Schuhe, Fressnäpfe für Hunde und auch tote Tiere, ein Käfig mit einem toten Papagei, ein Einmachglas mit einem toten Zwerghamster – die Menschen versuchten zu retten, was ihnen lieb und teuer war. Je weiter wir kamen, desto klarer wurde, dass die Russen unser Viertel schon vollständig eingenommen hatten. Wir fuhren weiter, aber Kugeln pfiffen über unsere Köpfe, wir mussten uns auf den Boden werfen. Plötzlich kamen aus der Richtung des Bahnhofs zwei Menschen gerannt, sie schrien: „Wohin fahrt ihr? Dort hat man einen Großvater auf dem Rad erschossen!“ Wir kehrten um.
Am nächsten Tag erschienen die Russen auch bei uns, es gab schon Straßenkämpfe, eine Säuberung stand bevor. Es war klar, dass wir fliehen mussten. Am 14. April fassten wir um sechs Uhr morgens den endgültigen Beschluss. Das Auto hatten wir in einem Schuppen versteckt, denn es war ein Diesel und die Volksrepublik-Donezk-Leute konfiszierten manchmal Autos. Diesel gab es genug – im Gegensatz zu Benzin. Witalij entblößte seinen Oberkörper bis zum Gürtel und zeigte so, dass er nicht bewaffnet war. In weiße Lumpen gehüllt stieg er auf das Fahrrad und fuhr voraus. Mit Witalij am Steuer hätten sie uns erschossen – ein männlicher Fahrer in einem schwarzen Auto. Also saß ich am Steuer des Wagens. Mama und die Tante winkten mit weißen Handtüchern, wir hatten alle Fenster geöffnet. Sie hatten es nur mit Mühe geschafft, den Mann der Tante hineinzusetzen, er verstand kaum noch, was vor sich ging und stand praktisch nicht mehr auf. Außerdem nahmen wir noch zwei Hunde mit, von denen einer verwundet war.
Alle 200 Meter ein Kontrollposten
Die Straße hatte sich schon lange in einen Morast verwandelt – eine Mischung aus Beton, Erdklumpen, nicht explodierten Granaten, Dachteilen und Bruchstücken von Zäunen. Die Reifen wurden schon beim Verlassen der Garage durchbohrt, und wir fuhren nur auf den Felgen und sehr langsam. Witalij zeigte mir, wie ich fahren sollte, um nicht auf Granaten zu treffen. Wir fuhren und schrien dabei, wir lasen Psalm 90 und flehten die Kontrollposten an, uns nicht zu töten – es war schrecklich. Buchstäblich alle 200 Meter ein Kontrollposten, viele Leute mit Maschinengewehren. Wenn sie sich näherten, bat Witalij: „Jungs, nicht schießen – hinter mir sind nur eine Frau und alte Menschen.“
Von den Volksrepublik-Donezk-Leuten, die sich in der Stadt mit Tschetschenen abwechselten, schrie mich einer an: „Ich erschieße dich gleich, zeig mir, was im Auto ist!“ Ringsumher die Hölle – und da fährt ein einzelnes Auto – das sieht sehr verdächtig aus. Außerhalb der Stadt waren reguläre russische Kontrollposten. Die verhielten sich nicht so grob.
Der Pass des Blockade-Leningraders
So gelangten wir nach Mangusch – Witalij voraus auf dem Fahrrad, ich auf den zerstochenen Reifen 50 Meter hinter ihm Wir waren in einer Warteschlange von 4980 Menschen. Man sagte uns, wir würden im Laufe einer Woche abgefertigt sein. Aber wo übernachten, was essen? Man konnte dort nirgends wohnen, ein Menschenmeer, wir hatten uns 50 Tage lang nicht gewaschen, die Alten waren krank, wir hatten zwei Hunde …
Am Ende fuhren wir auf gut Glück, wir sagten jedem Kontrollposten, dass wir einen Blockade-Leningrader mit uns hatten – was die reine Wahrheit war. Nikolaj Aleksejewitsch, der Mann der Tante, hatte 870 Tage in der Blockade überlebt. „Ein russischer Marineoffizier, die Blockade hat er überlebt und jetzt wird er sterben, weil ihr ihn nicht durchlasst“, das sagten wir, so fuhren wir, und zeigten seinen Pass vor. Das war ein Wunder, es gab keinen Korridor, die Fahrzeuge hinter uns kehrten um, während wir bei jedem Kontrollpunkt ein und denselben Satz wiederholten. Der erste ukrainische Posten war in Nowodanilowka in der Nähe von Saporoschje. Wir weinten und konnten nicht glauben, dass wir bei den Unseren waren.
Meine Tante Elvira erzählt ihre eigene Geschichte.“ Diese beginnt während des Zweiten Weltkriegs – Anmerkung der Redaktion.
Elvira Michajlowna (86), Rentnerin, Mariupol
„Mein Vater war ein Enkel des Oberrabbiners Priasow, und meine Mama war Kosakin. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war ich sechs Jahre alt. Mein Vater wurde eingezogen, und meine Mutter versteckte sich, damit man mich durch ihre Spur nicht finden konnte. Mich versteckten sehr ehrliche und gute einfache Menschen. Für das Verstecken eines jüdischen Kindes liefen sie Gefahr, auf der Stelle erschossen zu werden. Sie kümmerten sich zwei Jahre lang um mich. Sie versteckten mich in Kellern, auf Speichern – wie es gerade ging. Die letzten Monate vor der Befreiung von Mariupol verbrachte ich mit einem Mädchen, das durch ein Wunder der Erschießung entgangen war. Wir lebten in einem Unterstand in einer Schlucht, alles war mit Gebüsch überwuchert. Dort erkrankte ich an Typhus und Lungenentzündung. Ich wurde Anfang September 1943 befreit.
Und jetzt – nur einen halben Tag vor der vollständigen Blockade – sind wir geflohen. Niemals hätte ich gedacht, dass unser Nachbarland so handeln würde. Als wir wegfuhren, hielten sie uns am Kontrollpunkt an. Ein Soldat prüfte die Papiere meines Mannes und fragte, was schwerer gewesen sei – die jetzige Belagerung oder die Leningrader Blockade damals?
Meine Nichte erzählt Ihnen (Michael Gold, Anmerkung der Redaktion), wie wir zwei Alte trafen, die sich dahinschleppten, sich an den Händen haltend, während ringsum Granaten und Bomben fielen. Sie blieben stehen und fragten, Kinder, sind wir auf dem richtigen Weg raus aus Mariupol? Und sie waren nicht allein, einige gingen auf Krücken, andere mit Rollator, es floss Blut – ein furchtbares Schauspiel. Wenn die Flugzeuge Bomben warfen, schleppten sie sich einfach weiter, so gut sie konnten.“
Innas Satolokas Sohn Mark war über sechs Monate in russischer Gefangenschaft in der sogenannten Volksrepublik Donezk und wurde vor Kurzem im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen. Der Mann von Elvira Michajlowna, Nikolaj Aleksejewitsch, starb am 16. Juni in Kyjiw – Anmerkung der Redaktion.
Das Material wurde von Michael Gold, Leiter des Projekts „Exodus-2022 Project (Jewish Refugees of the Russian-Ukrainian War)” erstellt und bearbeitet. Michael Gold führte das Interview mit Inna Satoloka und Elvira Michajlowna am 5. Mai 2022. Aus dem Russischen übersetzt von Dr. Dorothea Kollenbach.
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