„Aus dem Nebel des Krieges“

Foto: Lev Radin /​ Imago Images

Das Grauen, das die Ukrai­ner erleben, wird uns tag­täg­lich in den Medien vor Augen geführt. Was es jedoch mit den Men­schen macht, wie tief der Krieg jeden Aspekt des Zusam­men­le­bens, der Kultur und der mensch­li­chen Exis­tenz in den umkämpf­ten Gebie­ten ver­än­dert, das kann keine Kamera erfas­sen. 17 Autoren und Autorin­nen gewäh­ren uns in einer Antho­lo­gie Einblick.

Das Bild, das der Titel des Buchs evo­ziert, ist bedrü­ckend: Nebel macht einsam. Er schluckt die Geräu­sche und das Licht, die Luft ist schwer, was nur wenige Meter ent­fernt ist, ver­schwin­det aus dem Blick­feld. Im Nebel ist es wichtig, die Ori­en­tie­rung nicht zu ver­lie­ren. Carl von Clau­se­witz nutzte erst­mals in seinem 1832 bis 1834 erschie­ne­nen Buch Vom Kriege das Bild vom Kriegs­ne­bel, in dem Chaos, Unsi­cher­heit, Zeit­druck, Fehl­in­for­ma­tion herr­schen. Ja, die Gegen­wart der Ukraine liegt in diesem Nebel. Mit ihren Essays ver­su­chen die 17 Autoren der Antho­lo­gie, ihn zu durch­drin­gen, die Kon­tu­ren wieder sicht­bar zu machen. Sie fassen in Worte, was eigent­lich unbe­schreib­bar ist: den Unter­gang der Zivi­li­sa­tion, in der sie gelebt hatten, vor allem aber: wie die Seele darauf reagiert.

Die Seele ver­steckt sich vor dem schreck­li­chen Gedan­ken eines Vernichtungskrieges

Die Seele von Mit­her­aus­ge­be­rin Kateryna Mish­chenko etwa, so meint sie, ver­ste­cke sich vor dem schreck­li­chen Gedan­ken, dass ein Ver­nich­tungs­krieg in ihr Leben getre­ten sei und alles darin umbringe. „Die Über­reste des eigenen Selbst befin­den sich irgendwo, nicht unbe­dingt alle an einem Ort: Etwas lebt in der Ver­gan­gen­heit, ein Teil bleibt dem Alltag und der Sorge anver­traut. Manch­mal gehen die Gedan­ken einfach ver­lo­ren.“ Ihr Land werde brutal zer­stört und bleibe doch hart­nä­ckig bestehen. Diese Hart­nä­ckig­keit stellt auch den Über­le­ben­den eine Aufgabe und die ist gleich­sam die Mission dieses Buches. „Wenn man in den Geflüch­te­ten oder den Ukrai­nern in ihrer Heimat nicht nur Opfer sieht, die man zutiefst bedau­ert, sondern Zeugen, dann wird auch dieser Krieg nicht als große Natur­ka­ta­stro­phe, sondern als kal­ku­lier­ter Genozid wahr­ge­nom­men“, so Mishchenko.

„Men­schen, die das Grauen über­lebt haben, sehen leicht wahn­sin­nig aus“

Und das tun alle „Zeugen“ dieses Buches. Sie beschrei­ben wie Ange­lina Karia­kina das Leben vor und seit dem Krieg in Mariu­pol, einer „Zombie-Stadt“, die nicht lebe, aber sich bewege. Sie doku­men­tie­ren wie Nata­liya Gume­nyuk in den befrei­ten Gebie­ten die von den rus­si­schen Sol­da­ten began­ge­nen Kriegs­ver­bre­chen. Oder sie saugen Infor­ma­tio­nen, Ein­drü­cke auf, wie Oksana Kar­po­vych, die in Butscha auf ver­störte, scheue Tiere trifft und auf Men­schen, die diesen Tieren ähneln. In einer ver­wüs­te­ten Wohnung spricht sie eine keh­rende Frau an, die sich selbst als „die Nach­ba­rin, die hier einmal wohnte“ vor­stellt. „Men­schen, die das Grauen über­lebt haben, sehen leicht wahn­sin­nig aus. Als wären sie hier, aber auch woan­ders, nicht ganz anwe­send. Etwas Frag­men­ta­ri­sches, Grenz­wer­ti­ges“, schreibt Karpovych.

„Ich plane mein Leben nicht mehr, weil mir die Zuver­sicht fehlt“

Aber auch die­je­ni­gen, denen es gelun­gen ist, vor dem Grauen zu fliehen, werden aus der Bahn gewor­fen. „Ich plane mein Leben nicht mehr, weil mir die Zuver­sicht fehlt. Ich habe keine Freude an Dingen, weil ich weiß, wie leicht man sie ver­lie­ren kann. (…) Überall fühle ich mich fremd und über­flüs­sig“, kon­sta­tiert Volo­dymyr Rafeyenko, der sein Zuhause gleich zweimal verlor. 2014, nach der Flucht aus Donezk ent­schied er sich als eigent­lich rus­sisch­spra­chi­ger Mensch, das Ukrai­ni­sche so gut zu lernen, dass er mitt­ler­weile sogar in der Sprache schreibt. Im Februar 2022 lebte er mit seiner Familie in der Datscha von Freun­den außer­halb von Kyjiw, ohne eigenes Auto und schutz­los aus­ge­lie­fert, als die rus­si­schen Sol­da­ten langsam die Region umzin­gel­ten. Dass die Familie ver­su­chen musste zu fliehen, stand für sie außer Frage.

„Auf jedem Qua­drat­me­ter Boden, den man an Russ­land abträte, würde ein tota­li­tä­res Regime errichtet“

Frei­wil­lig unter rus­si­scher Besat­zung zu leben, das ist für keinen der Autoren eine Option und die Aufgabe ukrai­ni­schen Ter­ri­to­ri­ums wird eben­falls nicht in Erwä­gung gezogen. „Auf jedem Qua­drat­me­ter Boden, den man an Russ­land abträte, würde ein tota­li­tä­res Regime errich­tet“, ist Sta­nis­law Assejew über­zeugt. Assejew saß zwei­ein­halb Jahre lang im Donez­ker Lager „Isol­ja­zija“ ein, wo er gefol­tert wurde. Zu seinem Ent­set­zen erfährt er, dass der Kom­man­dant des Lagers seit 2019 unbe­hel­ligt in Kyjiw lebt, vom ukrai­ni­schen Geheim­dienst gedul­det im Aus­tausch gegen Infor­ma­tio­nen. Assejew wird „von einem Opfer zum RussHun­ter“, er ver­schreibt sich der straf­recht­li­chen Ver­fol­gung der Täter und es gelingt ihm tat­säch­lich, den Kom­man­dan­ten vor Gericht zu bringen. „Das Böse muss einen Namen haben, und diese Leute werden als Kriegs­ver­bre­cher in die Geschichte ein­ge­hen, auch für ihre eigenen Familien.“

Auch viele kri­ti­sche Intel­lek­tu­elle in Russ­land suchen die Schuld nur bei Putin

Ein Ein­ge­ständ­nis der rus­si­schen Schuld ist Alissa Gani­jewa, der ein­zi­gen rus­si­schen Autorin dieses Buchs, ein großes Anlie­gen. Sie wurde in Moskau geboren, wuchs in Dage­stan auf, arbei­tete bis März 2022 in Moskau als Lite­ra­tur­kri­ti­ke­rin, Schrift­stel­le­rin und Jour­na­lis­tin, floh dann aber über Lett­land nach Kasach­stan. Sie geht hart ins Gericht mit den Russen, auch mit den­je­ni­gen, die sich selbst als „gut“ betrach­ten, weil sie Putin schon immer abge­lehnt haben. Indem viele durch­aus kri­ti­sche Intel­lek­tu­elle die Schuld nur bei Putin suchten, nähmen sie die Last der Ver­ant­wor­tung von der Bevöl­ke­rung, statt Instru­mente und Insti­tu­tio­nen für eine spätere Neu­ori­en­tie­rung vor­zu­be­rei­ten. Russ­land habe noch einen weiten Weg zurück­zu­le­gen, beklagt Gani­jewa, selbst wenn Putin morgen sterben sollte.

Wie weit soll die Zei­ten­wende jetzt gehen?

Und auch Deutsch­land muss sich mit seiner eigenen Schuld aus­ein­an­der­set­zen. Acht Jahre lang igno­rierte der Groß­teil der Deut­schen den Krieg in der Ukraine, der 2014 mit dem Einfall auf die Krim begann. Den Begriff „Zei­ten­wende“ seziert Susanne Strät­ling als einen „geglät­te­ten Aus­druck für eine trau­ma­ti­sche Scho­ck­er­fah­rung“. Deutsch­land muss sich von ihr die Frage gefal­len lassen, warum es sich 75 Jahre nach dem Ende der NS-Zeit erneut in einer „selbst­ver­schul­de­ten Abhän­gig­keit von einem tota­li­tä­ren Regime wie­der­fin­det“. Und wie weit soll die Zei­ten­wende jetzt gehen? Darf man noch rus­si­sche Musik hören, rus­si­sche Künst­ler aus­stel­len und mit rus­si­schen Wis­sen­schaft­lern zusam­men­ar­bei­ten, wo doch sämt­li­che Kul­tur­in­sti­tute und Bil­dungs­ein­rich­tun­gen sich öffent­lich zu Putin bekannt haben? Und wie steht es um die Lite­ra­tur? Dos­to­jew­ski, Pusch­kin und Tolstoj waren selbst der Ver­fol­gung durch Staats­ge­walt aus­ge­setzt; wer heute aus „Krieg und Frieden“ zitie­ren würde, würde umge­hend ver­haf­tet. Und doch komme dem Pusch­kin-Kult eine Schlüs­sel­rolle bei der Erschaf­fung einer kolo­nia­len Kul­tur­land­schaft zu, zunächst im zaris­ti­schen, später im sowje­ti­schen Impe­rium und schließ­lich noch im post­so­wje­ti­schen Raum.

So hin­ter­lässt die Lektüre des Buchs den Leser mit mehr Fragen als Ant­wor­ten, mit unglaub­lich vielen Denk­an­stö­ßen. Ja, es macht betrof­fen, aber es strahlt auch eine unge­heure Kraft aus. Denn im Grunde ist jeder dieser Essays ein Stück Ori­en­tie­rung, ein Mit­wir­ken an der Zukunft, das Gegen­teil von Ein­sam­keit und damit ein Schritt aus dem Nebel heraus.

Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegen­wart der Ukraine. Hsrg. von Kateryna Mish­chenko und Katha­rina Raabe, Edition Suhr­kamp, Berlin 2023, 283 Seiten, Preis: 20 Euro

Portrait Zöller

Renate Zöller ist freie Jour­na­lis­tin und Autorin mit dem The­men­schwer­punkt Mittelosteuropa.

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