Prä­si­dent­schafts­wah­len in der Ukraine: Spek­ta­kel oder beson­dere Wahl?

Viele Ukraine sowie inter­na­tio­nale Beob­ach­ter fragen sich, ob die anste­hen­den Prä­si­dent­schafts­wah­len wieder nur ein Spek­ta­kel oder doch eine beson­dere Wahl dar­stel­len. Ein Kom­men­tar von Chris­toph Brumme.

Bisher konnten Ukrai­ner bei Prä­si­den­ten­wah­len maximal zwi­schen zwei rea­lis­ti­schen Vari­an­ten ent­schei­den. Alt gegen neu, Wagnis gegen Starr­sinn, Juscht­schenko gegen Janu­ko­wytsch, „Gas-Prin­zes­sin“ Julia gegen den bösen Viktor. Oft wurden die Ent­schei­dun­gen „hoch­ge­jazzt“ zum Kon­flikt Ost gegen West, Europa oder Russland.

Portrait von Christoph Brumme

Chris­toph Brumme ver­fasst Romane und Repor­ta­gen. Seit dem Früh­jahr 2016 lebt er in der ost­ukrai­ni­schen Stadt Poltawa.

Vielen Ukrai­nern aber berei­te­ten beide Vari­an­ten Bauch­schmer­zen. Exem­pla­risch die Aussage einer Leh­re­rin, mit der ich im Februar (2010) am Wahltag in einer Sied­lung im Donbas sprach.
Janu­ko­wytsch könne sie nicht wählen, aus Gewis­sens­grün­den. „Jeder weiß, dass er ein Bandit ist, aber er ist unser Bandit!“, das war die popu­lärste Begrün­dung in den Kneipen im Donbass. In der Not siegt die Gier. Dieses Ban­di­ten­tum unter­stützte die Leh­re­rin nicht. Eine mutige Ent­schei­dung, sie war Staats­an­ge­stellte, ihrer Schule waren neue Com­pu­ter ver­spro­chen worden, falls die Janu­ko­wytsch-Partei gewin­nen werde. Aber Julia Timo­schenko wollte sie auch nicht wählen. Weil die auch nicht ehrlich sei. Ihre Angaben zu ihrem Ver­mö­gen seien falsch. Angeb­lich besäße sie kein Haus, nur eine kleine Wohnung, angeb­lich sei sie nicht reich, hatte sie in ihren Wahl­un­ter­la­gen ange­ge­ben. „Auch das ist Ban­di­ten­tum!“, so die Leh­re­rin. Dieses „Europa“ wolle sie nicht. Einige Tage nach dem Wahl­abend, bei einem mit­tel­schwe­ren Besäuf­nis, klärte mich eine Wahl­lei­te­rin über die Wirk­lich­keit in dieser Sied­lung vor Donezk auf. Wir standen auf dem Balkon und rauch­ten, unter uns die Lenin-Statue.

2019 ist die Kon­kur­renz groß

Im Jahre 2019 herrscht eine gänz­lich andere Situa­tion. Es ist völlig unklar, was pas­sie­ren wird.
Die alte und neue Favo­ri­tin Julia Timo­schenko gilt in den Augen vieler als „unsi­chere Kan­di­da­tin“ in den Bezie­hun­gen zu Russ­land. Im Westen hat sie das Image der „pro-euro­päi­schen“ Poli­ti­ke­rin, viele Ukrai­ner aber meinen, sie spiele dop­pel­tes Spiel mit gezink­ten Karten. Ihr frü­he­rer Vor­ge­setz­ter, Ex-Prä­si­dent Viktor Juscht­schenko, erzählte jetzt erst, dass die Unab­hän­gig­keit der ukrai­ni­schen Kirche schon in seiner Amts­zeit als Prä­si­dent hätte erreicht werden können, wenn Julia Timo­schenko das nicht „hinter den Kulis­sen“ ver­hin­dert hätte, um die Bezie­hun­gen zu Russ­land nicht zu belasten.

Nach wie vor weigert sie sich, ihr Ver­mö­gen korrekt dar­zu­stel­len. Erst dieser Tage for­der­ten 46 Abge­ord­nete des ukrai­ni­schen Par­la­ments von ihr, sie solle öffent­lich erklä­ren, warum sie ihr Ver­mö­gen als Chefin des Energie-Unter­neh­mens EESU nicht dekla­riert habe.

Ein Neuling als Überraschungskandidat

Einen uner­war­te­ten Kon­kur­ren­ten hat sie mit Wla­di­mir Selen­ski bekom­men, ein Schau­spie­ler und Mär­chen­prä­si­dent. Kein Olig­arch. Er hat die Rolle des ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten in einer Film­se­rie schon sehr über­zeu­gend gespielt, da ist er „Der Diener des Volkes“, der mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. Ein Held im Kampf gegen die Kor­rup­tion, ein Vorbild an Bescheidenheit.
Im wirk­li­chen Leben hat er keine Erfah­run­gen als Poli­ti­ker. Er ist stu­dier­ter Jurist und erfolg­rei­cher Manager in der Krea­ti­ven Indus­trie. Auf ihn werden derzeit Wünsche nach einer viele Wünsche nach einer ehr­li­chen Gesell­schaft pro­ji­ziert. Ihn könnte die Leh­re­rin im Donbas wählen.

Vielen Ukrai­nern graust jedoch bei dem Gedan­ken, ein Neuling und Komiker werde in Zeiten des Krieges das höchste Amt des Staates über­neh­men. Manche müssen sich erst daran gewöh­nen, dass in einer offenen Gesell­schaft auch Über­ra­schun­gen möglich sind.

Im Zweifel für den Status Quo?

Die soli­deste Vari­ante bietet sich mit dem amtie­ren­den Prä­si­den­ten Petro Poro­schenko. Er hat sich einige Ver­dienste um das Land erwor­ben – die Ver­tei­di­gung des Landes gesi­chert; den visa­freien Verkehr mit Europa und zuletzt sogar die Unab­hän­gig­keit der Ukrai­ni­schen Kirche erfolg­reich mit­or­ga­ni­siert. Wäre da nicht „die Achil­les­ferse“ des man­geln­den Ein­sat­zes im Kampf gegen die Kor­rup­tion oder sogar die Blo­ckade dieses Kampfes, wäre seine Wie­der­wahl wohl gesichert.

Die Kor­rup­tion aber ist für viele Ukrai­ner eben­falls eine Frage um Leben und Tod, wie der Krieg. Etwa im Gesund­heits­we­sen, wenn Kranke die ärzt­li­chen Unter­su­chun­gen oder lebens­not­wen­dige Medi­ka­mente nicht kaufen können. Ver­eiste Fußwege, das hört sich wie eine Klei­nig­keit an. Aber ein fal­scher Schritt kann eine Tra­gö­die aus­lö­sen, wenn eine allein­ste­hende Mutter sich die Knochen bricht, wenn sie noch eine demente Groß­mutter betreuen soll.

Liste der Bewer­ber ist mit über 40 Kan­di­da­ten und Kan­di­da­tin­nen lang

Ein bes­se­res Ver­ständ­nis für die Nöte der Men­schen traut man da dem Lem­ber­ger Bür­ger­meis­ter Andrij Sadowyj zu, Vor­sit­zen­der der Partei „Selbst­hilfe“. Doch seine Umfra­ge­werte lagen zuletzt bei unter fünf Prozent.

Wer das Militär und die Bezie­hun­gen zum Westen gestärkt sehen will, kann den frü­he­ren Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter und Chef der Partei „Bür­ger­li­che Posi­tion“ wählen, Ana­to­lij Hryzenko.
Rea­lis­ti­sche Chancen hat er aber wohl nicht, ebenso wie der frühere Chef des Inlands­ge­heim­diens­tes SBU, Walen­tyn Naly­wajt­schenko. Oder gar der zur Fahn­dung aus­ge­schrie­bene und in Spanien lebende Mil­li­ar­där Olek­sandr Onyscht­schenko. Ganz zu schwei­gen von der inhaf­tier­ten frü­he­ren Mili­tär­pi­lo­tin Nadija Sawtschenko, die einen Angriff mit Mörsern und Hand­gra­na­ten auf das Par­la­ment geplant haben soll.

Jedes Volk bekommt die Regie­rung, die es ver­dient. Der Spruch ist brutal, aber schwer zu wider­le­gen. Nach wie vor sind zu wenige Ukrai­ner bereit, sich poli­tisch oder gesell­schaft­lich zu enga­gie­ren. Die Mehr­heit schweigt und fühlt sich nicht zuständig.

„Die Par­teien sind nicht von unten gewach­sen, sondern eher das Resul­tat und das Instru­ment ein­zel­ner Köpfe“, schreibt der Ukraine-Kenner Fritz Ehrlich auf Face­book. „Eine inner­par­tei­li­che Lenkung und Kon­trolle ist so gar nicht erst möglich“. Manche Beob­ach­ter spre­chen deshalb gar von einer „Fas­sa­den-Demo­kra­tie“. Demo­kra­tie aber gründet sich auf die Weis­heit vieler.

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