Gesellschaft und Politik in der Ukraine haben der Korruption den Kampf angesagt
Die jüngste Welle an Entlassungen zeigt, dass die Korruptionsbekämpfung in der Ukraine erfolgreich ist. Welche Faktoren dafür entscheidend sind und was noch zu tun bleibt, analysiert Iryna Solonenko.
In den vergangenen Wochen wurde die Ukraine von einer Welle von Korruptionsskandalen erschüttert. Innerhalb weniger Tage wurden zahlreiche ranghohe Politiker und Beamte entlassen oder traten zurück – darunter der stellvertretende Leiter des Präsidialamtes, der stellvertretende Generalstaatsanwalt und der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei.
Die für Korruptionsbekämpfung zuständigen Behörden haben zudem eine Reihe von Verdachtsfällen gemeldet und sogar einige Verwaltungsbeamten inhaftiert. All dies geschah trotz des Krieges, der enorme Zerstörungen für die zivile Infrastruktur und die Wirtschaft des Landes mit sich bringt.
Was bedeuten diese Entwicklungen?
Für die deutsche Öffentlichkeit zeigt dies vielleicht ein weiteres Mal, dass es in der Ukraine Korruption gibt. Tatsächlich aber sind die aktuellen Entwicklungen ein Zeichen dafür, dass das System zur Korruptionsbekämpfung in der Ukraine funktioniert und auch der politische Wille vorhanden ist. Mit anderen Worten: Dass wir wieder über Korruption in der Ukraine lesen, ist eher eine gute als eine schlechte Nachricht.
Zur erfolgreichen Bekämpfung der Korruption in der Ukraine haben mehrere Faktoren beigetragen:
1. Medienberichte über Korruption haben jetzt politische Konsequenzen
Viele der jüngsten Entlassungen und Verhaftungen sind eine direkte Reaktion auf Berichte von Investigativjournalisten über mögliches korruptes Handeln der Beamten. Qualitativ hochwertiger Investigativjournalismus existiert in der Ukraine schon seit geraumer Zeit. Aber es ist noch nicht lange her, dass Journalistinnen oder Anti-Korruptions-Aktivisten Opfer von Angriffen und Drohungen wurden oder gar ihr Leben verloren. Und Veröffentlichungen in den Medien riefen bestenfalls eine gewisse Resonanz hervor, hatten jedoch keine politischen Konsequenzen. Heute hingegen führen Medienberichte zu Entlassungen.
So musste der stellvertretende Leiter des Präsidialamtes der Ukraine, Kyrylo Tymoschenko, zurücktreten, nachdem Mychajlo Tkatsch, Journalist des führenden ukrainischen Online-Portals Ukrainska Pravda, über die teure Villa berichtet hatte, in der Tymoschenko und seine Familie leben – und sein teures Auto. Die Villa gehört dem Besitzer eines der größten Bauunternehmen der Ukraine –das Auto einem Geschäftsmann, der oft in dem Präsidialamt zu sehen war.
Ein weiterer Fall war der Rücktritt des stellvertretenden Verteidigungsministers Wjatscheslaw Schapowalow als Reaktion auf einen Bericht in der Wochenzeitung Dzerkalo Tyzhnia über den Einkauf überteuerter Lebensmittel für Soldaten.
Auch der stellvertretende Generalstaatsanwalt Oleksij Simoneko, musste zurücktreten, nachdem Ukrainska Pravda publik machte, dass er seinen Winterurlaub in Spanien verbracht hatte – zu einer Zeit, in der die meisten Männer das Land nicht verlassen durften und viele ihr Leben an der Front verloren.
Die auf diese Veröffentlichungen folgende Reaktion und politischen Konsequenzen sind ein Novum in der jüngeren Geschichte der Ukraine.
2. Die Antikorruptionsbehörden funktionieren
Diese Fälle zeigen: Die Antikorruptionsbehörden arbeiten erfolgreich und unabhängig. So wurde der stellvertretende Minister für territoriale Entwicklung, Vasyl Lozynsky, entlassen, nachdem er von der auf Korruptionsbekämpfung spezialisierten Staatsanwaltschaft (SAP) verhaftet und unter Hausarrest gestellt wurde. Er wird der Korruption bei der Beschaffung von Generatoren und anderem Material verdächtigt.
Die von 2015 bis 2019 aufgebaute Antikorruptionsinfrastruktur hat wichtige Grundlagen für die heutige Korruptionsbekämpfung geschaffen. Dazu gehören folgende Institutionen:
- das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU)
- die auf Korruptionsbekämpfung spezialisierte Staatsanwaltschaft (SAP)
- das Hohe Antikorruptionsgericht (WASU)
- die Agentur zur Korruptionsprävention
- die Agentur für Vermögensrückgewinnung und ‑verwaltung
Um die Professionalität, vor allem aber die Integrität der ausgewählten Beamtinnen und Beamten zu gewährleisten, wurden Leitung und Mitarbeitende dieser Behörden meist durch mehrstufige und transparente Verfahren ausgewählt, an denen internationale und ukrainische Vertreterinnen und Vertreter von NGO’s und anderen Organisationen beteiligt waren.
3. Politischer Wille ist ausschlaggebend
Doch auf dem Weg gab und gibt es zahlreiche Hürden, die ohne entsprechenden politischen Willen nicht beseitigt werden können. Nur eine entschlossene Haltung der politischen Führung des Landes, vor allem vom Präsidenten Selenskyj – und vorher von Poroschenko – kann gewährleisten, dass keine politische Einmischung in die unabhängige Arbeit der Korruptionsbekämpfung erfolgt.
So gewann der Leiter der SAP, Oleksandr Klymenko schon im Dezember 2021 das fast ein Jahr dauernde Auswahlverfahren der Behörde. Sein Sieg wurde aber erst im Juli 2022 offiziell bekannt gegeben – seine Ernennung wurde offensichtlich von korrupten hochrangigen Beamten oder Politikern als gefährlich angesehen. Erst als Präsident Zelensky im Juli 2022 zur schnellstmöglichen Ernennung aufrief, wurde Klymenko zwei Tage später als Gewinner bekannt gegeben und bald danach ernannt. Seit seiner Ernennung sieht man sehr deutliche Fortschritte in der Korruptionsbekämpfung.
4. Die Rolle der EU
Ein anderer entscheidender Faktor ist die Perspektive der EU-Beitrittsverhandlungen und der damit verbundene Druck des Westens. Denn die zusammen mit der Verleihung des Kandidatenstatus im Juni 2022 von der EU formulierten Bedingungen betreffen auch die Bekämpfung der Korruption.
Die Ukraine arbeitet daran, diese Bedingungen zu erfüllen, um auf dieser Grundlage die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen fordern zu können. Auch die Tatsache, dass am 3. Februar der nächste EU-Ukraine Gipfel stattfindet, spielt eine Rolle: Im gemeinsamen Abschlussdokument des Gipfels können die Erfolge der Ukraine berücksichtigt werden. Das Dokument kann als Ausgangspunkt für die Ukraine und die EU dienen, um sich in Richtung Verhandlungen zu bewegen.
Die EU verfolgt die Entwicklungen in der Ukraine sehr aufmerksam. Nachdem die Ukraine den Kandidatenstatus erhalten hat, haben zahlreiche EU-Vertreter, unter anderem die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, und der Leiter der EU-Delegation in der Ukraine, Matti Maasikas, ausdrücklich auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Anforderungen zu erfüllen.
Und noch am Tag der oben beschriebenen Entlassungen hat die EU reagiert und die Ukraine ermutigt, die Korruption im Land weiter zu bekämpfen.
Es bleibt noch viel zu tun, aber die Richtung stimmt
Die Ukraine hat noch immer mit Korruption zu kämpfen, und in Politik oder Verwaltung gibt es weiterhin viele für Korruption anfällige Stellen. Auch das Justizwesen muss auf den Prüfstand: Die für Auswahl, Ernennung, Beförderung und Entlassung von Richterinnen und Richtern zuständigen Institutionen müssen überprüft und korrupte Beamte entlassen werden.
Aber entscheidend ist auch, dass die Reformen, die nach dem Euromaidan in der Ukraine möglich wurden, nun Früchte tragen. So hat sich die Ukraine im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International seit 2014 stetig verbessert – auch wenn sie aktuell immer noch auf Platz 116 von insgesamt 180 Ländern liegt.
Die jüngsten Entwicklungen bestätigen, dass die Richtung stimmt – und die entscheidenden Faktoren vorhanden sind: der Druck der EU und anderer externer Akteure, sowie der politische Wille der Ukraine. Und nicht zuletzt: Eine starke Zivilgesellschaft, die sich einen korruptionsfreien Staat wünscht. Laut einer im Juli 2022 durchgeführten Umfrage zu „enttäuschten Hoffnungen“ stand die andauernde Korruption auf Platz zwei – direkt hinter der Straffreiheit Russlands.
Es bleibt zu hoffen, dass der jetzt vorhandene politische Wille in der Ukraine erhalten bleibt.
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