Selenskyjs erster großer Sieg: Abgeordnetenimmutität ist Geschichte
Nach zwei Jahrzehnten hat das ukrainische Parlament die von der Bevölkerung unterstützte Aufhebung der strafrechtlichen Immunität der Abgeordneten verabschiedet. Für Präsident Selenskyj ist es der erste große Sieg, der bei seiner Wählerschaft extrem gut ankommen sollte. An sich bleibt die Immunitätsaufhebung jedoch nicht unumstritten.
Mindestens seit 20 Jahren prägt das Thema der Aufhebung der strafrechtlichen Immunität der ukrainischen Parlamentsabgeordneten die Kyjiwer Politik. Kaum eine Regierung ist ohne die erklärte Absicht angetreten, die Abgeordnetenimmunität aufzuheben. Auch die vorherige Regierungskoalition um den Ex-Präsidenten Petro Poroschenko, der selbst einen entsprechenden Gesetzentwurf bei der Werchowna Rada einbrachte, sprach das Thema in ihrem Koalitionsvertrag an. Passiert ist dennoch nichts – bis der neue Präsident, Ex-Komiker Wolodymyr Selenskyj, an die Macht kam.
Der 41-jährige liebt die Show. Und anders als Show kann die Eröffnungssitzung des neuen Parlaments am letzten Donnerstag wohl kaum bezeichnet werden. Denn die frischen Abgeordneten haben 16 Stunden lang unter der genauen Beobachtung Selenskyjs, der immer wieder emotional wurde und zwischenzeitlich sogar geschriehen hat, im Sitzungssaal verbracht. Herausgekommen sind bereits nach Mitternacht 363 Stimmen für die Immunitätsaufhebung. Dies war jedoch nur die erste Lesung, die noch wenig bedeutete. Erst in zweiter Lesung bräuchte Selenskyjs Fraktion „Diener des Volkes“, die mit 254 Sitzen die absolute Mehrheit besitzt, die sogenannte Verfassungsmehrheit von über 300 Stimmen. Dass andere Fraktionen außer der prorussischen „Oppositionsplattform – Für das Leben“ in erster Lesung bei dem Thema mit so viel PR-Potenzial mitgemacht haben, war zwar nicht gesetzt, aber auch keine so große Überraschung. Die entscheidende zweite Lesung hätte für Selenskyj, der mit der Immunitätsaufhebung großen Wahlkampf gemacht hat („Viele haben es versprochen, aber wir tun es endlich“), jedoch viel komplizierter aussehen können.
Ein wichtiger Punkt ist dabei, dass „Diener des Volkes“ versucht, gleich am Anfang so viele öffentlichkeitswirksame Gesetze wie möglich zu verabschieden. In dieser Eile läuft allerdings einiges an geltenden Gesetzen vorbei. So hat etwa der Verfassungsausschuss bereits am Montag grünes Licht für die Aufhebung der Immunität gegeben. Das hätte der Ausschuss jedoch erst am Dienstag machen dürfen, denn die Auftaktsitzung des Parlaments war am letzten Donnerstag und die nächste Sitzungswoche des Parlaments begann eben erst am Dienstag. Zwischen offiziellen Sitzungen des Parlaments dürfen die Ausschüsse dagegen laut Geschäftsordnung des Parlaments gar nicht tagen. Doch hat die Werchowna Rada bereits am Dienstagmorgen über die Immunität in der zweiten Lesung abgestimmt. Und selbstverständlich war Präsident Selenskyj wieder vor Ort.
„90 Prozent der Ukrainer fordern die Immunitätsaufhebung“, stachelte Selenskyj das versammelte Plenum an: „Machen Sie doch das, was Sie dem Volk jahrelang versprochen haben. Ich würde nicht überprüfen wollen, wie viele Menschen sonst morgen zum Parlament kommen.“ Interessanterweise stammt der Gesetzesentwurf, der aus bürokratischen Gründen genommen wurde, von seinem Präsidentschaftswahlgegner und Vorgänger Petro Poroschenko, der diesen 2017 in die Rada eingebracht hat. Sonst hätte man die ganze Gesetzentstehungsprozedur von vorne anfangen müssen, was angesichts der Verfassungsänderungen etwas komplizierter als sonst ist. Das brachte Poroschenkos kleine Fraktion „Europäische Solidarität“ in eine pikante Lage: Es hätte komisch ausgesehen, hätten die Abgeordneten der Partei des Ex-Präsidenten gegen den Entwurf des eigenen Chefs gestimmt. „Ich habe die Immunitätsaufhebung immer befürwortet“, meinte Poroschenko im Parlament. „Die Ausschüsse dürfen zwar zwischen Sitzungen nicht tagen. Trotzdem stimmt meine Fraktion für das Gesetz ab.“
Mit 373 Ja-Stimmen wurde die Immunitätsaufhebung in zweiter Lesung von noch mehr Abgeordneten als am Donnerstag verabschiedet. Wieder war es vor allem die prorussische „Oppositionsplattform“, die ihre Stimmen verweigert hat. Wie kamen dennoch am Ende überhaupt so viele Volksvertreterstimmen zusammen? Nun, natürlich hätte jede Fraktion, die gegen die Immunitätsaufhebung gestimmt hätte, schlecht ausgehen. Viel wichtiger ist jedoch, dass die Fraktion „Diener des Volkes“ in mit ihrer absoluten Mehrheit bereits jetzt schon problemlos die Immunität einzelner Abgeordnete aufheben könnte. Für eine kleine Fraktion, wie die „Europäische Solidarität“, macht es also de-facto keinen großen Unterschied, ob die Immunität von einer Mehrheit der Selenskyj-Fraktion aufgehoben wird oder grundsätzlich abgeschafft wird.
Für Präsident Selenskyj dagegen schon. Denn damit kann er seine eigene zusammengewürfelte und aus Politneulingen bestehende Fraktion besser kontrollieren und auf Linie bringen. Die Gefahr einer möglichen strafrechtlichen Verfolgung – in einem schwach ausgeprägten Rechtsstaat – könnte unter Umständen größeren Einfluss auf die eigenen Abgeordneten haben als auf die politischen Gegner. Das ist aber Spekulation. Fakt ist dagegen, dass ab dem 1. Januar 2020 die Passage aus der Verfassung genommen wird, nach der Abgeordnete eben nur mit der Zustimmung der Werchowna Rada zur strafrechtlichen Verfolgung gezogen werden dürfen. Juristische Verantwortung für Parlamentsabstimmungen oder für Äußerungen im Parlament (außer Beleidigungen) tragen die Volksvertreter aber nach wie vor nicht.
Nun, trotz der Unterstützung durch die Bevölkerung bleibt die Immunitätsaufhebung auf mehreren Ebenen umstritten. 2015, noch vor dem Gesetzentwurf Poroschenkos, hatte die Venedig-Kommission die Ukraine grundsätzlich darauf verwiesen, dass die vollständige Aufhebung der Abgeordnetenimmunität zur Gefährdung der Parlamentsautonomie führen könnte. Empfohlen wurde stattdessen ein Modell, das unter anderem in Italien eingesetzt wird: Nicht das Parlament, sondern das Verfassungsgericht entscheidet über die Immunitätsaufhebung eines Abgeordneten. Das ukrainische Verfassungsgericht fand den Poroschenko-Entwurf verfassungskonform, hat aber dennoch extra auf die Empfehlung der Venedig-Kommission verwiesen.
Fest steht bereits, dass die prorussische „Oppositionsplattform“ gegen die Immunitätsaufhebung vor dem Verfassungsgericht klagen wird. Das ist insofern logisch, weil Präsident Selenskyj im vom Sender 1+1 ausgestrahlten Interview zu seinen ersten 100 Tagen im Amt mögliche Strafverfolgung faktisch angekündigt hat: „Wir wissen, wie viel Bargeld sie bekommen, und aus welchem Land. Das wird eine große Geschichte sein, die für sie schlecht zu Ende geht.“ Aber auch hier gilt: Mit der absoluten Mehrheit hätte „Diener des Volkes“ die Immunität der Abgeordneten der „Oppositionsplattform“ aufheben können. Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass das Verfassungsgericht, welches etwa die rechtlich sehr umstrittenen vorgezogenen Parlamentswahlen für verfassungskonform hielt, die Immunitätsaufhebung trotz vieler juristischer Kleinigkeiten kippt.
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