Selen­skyjs erster großer Sieg: Abge­ord­ne­ten­im­mu­ti­tät ist Geschichte

© Shut­ter­stock

Nach zwei Jahr­zehn­ten hat das ukrai­ni­sche Par­la­ment die von der Bevöl­ke­rung unter­stützte Auf­he­bung der straf­recht­li­chen Immu­ni­tät der Abge­ord­ne­ten ver­ab­schie­det. Für Prä­si­dent Selen­skyj ist es der erste große Sieg, der bei seiner Wäh­ler­schaft extrem gut ankom­men sollte. An sich bleibt die Immu­ni­täts­auf­he­bung jedoch nicht unumstritten.

Min­des­tens seit 20 Jahren prägt das Thema der Auf­he­bung der straf­recht­li­chen Immu­ni­tät der ukrai­ni­schen Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ten die Kyjiwer Politik. Kaum eine Regie­rung ist ohne die erklärte Absicht ange­tre­ten, die Abge­ord­ne­ten­im­mu­ni­tät auf­zu­he­ben. Auch die vor­he­rige Regie­rungs­ko­ali­tion um den Ex-Prä­si­den­ten Petro Poro­schenko, der selbst einen ent­spre­chen­den Gesetz­ent­wurf bei der Wer­chowna Rada ein­brachte, sprach das Thema in ihrem Koali­ti­ons­ver­trag an. Pas­siert ist dennoch nichts – bis der neue Prä­si­dent, Ex-Komiker Wolo­dymyr Selen­skyj, an die Macht kam.

Portrait von Denis Trubetskoy

Denis Tru­bets­koy ist in Sewas­to­pol auf der Krim geboren und berich­tet als freier Jour­na­list aus Kyjiw.

Der 41-jährige liebt die Show. Und anders als Show kann die Eröff­nungs­sit­zung des neuen Par­la­ments am letzten Don­ners­tag wohl kaum bezeich­net werden. Denn die fri­schen Abge­ord­ne­ten haben 16 Stunden lang unter der genauen Beob­ach­tung Selen­skyjs, der immer wieder emo­tio­nal wurde und zwi­schen­zeit­lich sogar geschrie­hen hat, im Sit­zungs­saal ver­bracht. Her­aus­ge­kom­men sind bereits nach Mit­ter­nacht 363 Stimmen für die Immu­ni­täts­auf­he­bung. Dies war jedoch nur die erste Lesung, die noch wenig bedeu­tete. Erst in zweiter Lesung bräuchte Selen­skyjs Frak­tion „Diener des Volkes“, die mit 254 Sitzen die abso­lute Mehr­heit besitzt, die soge­nannte Ver­fas­sungs­mehr­heit von über 300 Stimmen. Dass andere Frak­tio­nen außer der pro­rus­si­schen „Oppo­si­ti­ons­platt­form – Für das Leben“ in erster Lesung bei dem Thema mit so viel PR-Poten­zial mit­ge­macht haben, war zwar nicht gesetzt, aber auch keine so große Über­ra­schung. Die ent­schei­dende zweite Lesung hätte für Selen­skyj, der mit der Immu­ni­täts­auf­he­bung großen Wahl­kampf gemacht hat („Viele haben es ver­spro­chen, aber wir tun es endlich“), jedoch viel kom­pli­zier­ter aus­se­hen können.

Ein wich­ti­ger Punkt ist dabei, dass „Diener des Volkes“ ver­sucht, gleich am Anfang so viele öffent­lich­keits­wirk­same Gesetze wie möglich zu ver­ab­schie­den. In dieser Eile läuft aller­dings einiges an gel­ten­den Geset­zen vorbei. So hat etwa der Ver­fas­sungs­aus­schuss bereits am Montag grünes Licht für die Auf­he­bung der Immu­ni­tät gegeben. Das hätte der Aus­schuss jedoch erst am Diens­tag machen dürfen, denn die Auf­takt­sit­zung des Par­la­ments war am letzten Don­ners­tag und die nächste Sit­zungs­wo­che des Par­la­ments begann eben erst am Diens­tag. Zwi­schen offi­zi­el­len Sit­zun­gen des Par­la­ments dürfen die Aus­schüsse dagegen laut Geschäfts­ord­nung des Par­la­ments gar nicht tagen. Doch hat die Wer­chowna Rada bereits am Diens­tag­mor­gen über die Immu­ni­tät in der zweiten Lesung abge­stimmt. Und selbst­ver­ständ­lich war Prä­si­dent Selen­skyj wieder vor Ort.

„90 Prozent der Ukrai­ner fordern die Immu­ni­täts­auf­he­bung“, sta­chelte Selen­skyj das ver­sam­melte Plenum an: „Machen Sie doch das, was Sie dem Volk jah­re­lang ver­spro­chen haben. Ich würde nicht über­prü­fen wollen, wie viele Men­schen sonst morgen zum Par­la­ment kommen.“ Inter­es­san­ter­weise stammt der Geset­zes­ent­wurf, der aus büro­kra­ti­schen Gründen genom­men wurde, von seinem Prä­si­dent­schafts­wahl­geg­ner und Vor­gän­ger Petro Poro­schenko, der diesen 2017 in die Rada ein­ge­bracht hat. Sonst hätte man die ganze Gesetz­ent­ste­hungs­pro­ze­dur von vorne anfan­gen müssen, was ange­sichts der Ver­fas­sungs­än­de­run­gen etwas kom­pli­zier­ter als sonst ist. Das brachte Poro­schen­kos kleine Frak­tion „Euro­päi­sche Soli­da­ri­tät“ in eine pikante Lage: Es hätte komisch aus­ge­se­hen, hätten die Abge­ord­ne­ten der Partei des Ex-Prä­si­den­ten gegen den Entwurf des eigenen Chefs gestimmt. „Ich habe die Immu­ni­täts­auf­he­bung immer befür­wor­tet“, meinte Poro­schenko im Par­la­ment. „Die Aus­schüsse dürfen zwar zwi­schen Sit­zun­gen nicht tagen. Trotz­dem stimmt meine Frak­tion für das Gesetz ab.“

Mit 373 Ja-Stimmen wurde die Immu­ni­täts­auf­he­bung in zweiter Lesung von noch mehr Abge­ord­ne­ten als am Don­ners­tag ver­ab­schie­det. Wieder war es vor allem die pro­rus­si­sche „Oppo­si­ti­ons­platt­form“, die ihre Stimmen ver­wei­gert hat. Wie kamen dennoch am Ende über­haupt so viele Volks­ver­tre­ter­stim­men zusam­men? Nun, natür­lich hätte jede Frak­tion, die gegen die Immu­ni­täts­auf­he­bung gestimmt hätte, schlecht aus­ge­hen. Viel wich­ti­ger ist jedoch, dass die Frak­tion „Diener des Volkes“ in mit ihrer abso­lu­ten Mehr­heit bereits jetzt schon pro­blem­los die Immu­ni­tät ein­zel­ner Abge­ord­nete auf­he­ben könnte. Für eine kleine Frak­tion, wie die „Euro­päi­sche Soli­da­ri­tät“, macht es also de-facto keinen großen Unter­schied, ob die Immu­ni­tät von einer Mehr­heit der Selen­skyj-Frak­tion auf­ge­ho­ben wird oder grund­sätz­lich abge­schafft wird.

Für Prä­si­dent Selen­skyj dagegen schon. Denn damit kann er seine eigene zusam­men­ge­wür­felte und aus Polit­neu­lin­gen bestehende Frak­tion besser kon­trol­lie­ren und auf Linie bringen. Die Gefahr einer mög­li­chen straf­recht­li­chen Ver­fol­gung – in einem schwach aus­ge­präg­ten Rechts­staat – könnte unter Umstän­den grö­ße­ren Ein­fluss auf die eigenen Abge­ord­ne­ten haben als auf die poli­ti­schen Gegner. Das ist aber Spe­ku­la­tion. Fakt ist dagegen, dass ab dem 1. Januar 2020 die Passage aus der Ver­fas­sung genom­men wird, nach der Abge­ord­nete eben nur mit der Zustim­mung der Wer­chowna Rada zur straf­recht­li­chen Ver­fol­gung gezogen werden dürfen. Juris­ti­sche Ver­ant­wor­tung für Par­la­ments­ab­stim­mun­gen oder für Äuße­run­gen im Par­la­ment (außer Belei­di­gun­gen) tragen die Volks­ver­tre­ter aber nach wie vor nicht.

Nun, trotz der Unter­stüt­zung durch die Bevöl­ke­rung bleibt die Immu­ni­täts­auf­he­bung auf meh­re­ren Ebenen umstrit­ten. 2015, noch vor dem Gesetz­ent­wurf Poro­schen­kos, hatte die Venedig-Kom­mis­sion die Ukraine grund­sätz­lich darauf ver­wie­sen, dass die voll­stän­dige Auf­he­bung der Abge­ord­ne­ten­im­mu­ni­tät zur Gefähr­dung der Par­la­ments­au­to­no­mie führen könnte. Emp­foh­len wurde statt­des­sen ein Modell, das unter anderem in Italien ein­ge­setzt wird: Nicht das Par­la­ment, sondern das Ver­fas­sungs­ge­richt ent­schei­det über die Immu­ni­täts­auf­he­bung eines Abge­ord­ne­ten. Das ukrai­ni­sche Ver­fas­sungs­ge­richt fand den Poro­schenko-Entwurf ver­fas­sungs­kon­form, hat aber dennoch extra auf die Emp­feh­lung der Venedig-Kom­mis­sion verwiesen.

Fest steht bereits, dass die pro­rus­si­sche „Oppo­si­ti­ons­platt­form“ gegen die Immu­ni­täts­auf­he­bung vor dem Ver­fas­sungs­ge­richt klagen wird. Das ist inso­fern logisch, weil Prä­si­dent Selen­skyj im vom Sender 1+1 aus­ge­strahl­ten Inter­view zu seinen ersten 100 Tagen im Amt mög­li­che Straf­ver­fol­gung fak­tisch ange­kün­digt hat: „Wir wissen, wie viel Bargeld sie bekom­men, und aus welchem Land. Das wird eine große Geschichte sein, die für sie schlecht zu Ende geht.“ Aber auch hier gilt: Mit der abso­lu­ten Mehr­heit hätte „Diener des Volkes“ die Immu­ni­tät der Abge­ord­ne­ten der „Oppo­si­ti­ons­platt­form“ auf­he­ben können. Außer­dem ist es unwahr­schein­lich, dass das Ver­fas­sungs­ge­richt, welches etwa die recht­lich sehr umstrit­te­nen vor­ge­zo­ge­nen Par­la­ments­wah­len für ver­fas­sungs­kon­form hielt, die Immu­ni­täts­auf­he­bung trotz vieler juris­ti­scher Klei­nig­kei­ten kippt.

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