Putins Groß­macht­sucht

Foto: Mikhail Metzel /​ Imago Image

Das Video­ge­spräch zwi­schen den Prä­si­den­ten Biden und Putin am 7. Dezem­ber hat nicht zu einer Dees­ka­la­tion geführt. Viel­mehr ist zu befürch­ten, dass sich die Situa­tion an der ukrai­ni­schen Grenze schnell zuspitzt. Was bezweckt Moskau? Warum gerade jetzt? Und wie sollte sich der Westen ver­hal­ten? Mykhailo Samus, Direk­tor des New Geo­po­li­tics Rese­arch Net­works, ana­ly­siert die neuste Eska­la­tion im Krieg Russ­lands gegen die Ukraine.

Es ist offen­sicht­lich, dass der rus­si­sche Prä­si­dent Wal­d­imir Putin es eilig hat, das geo­po­li­ti­sche Bild Europas zu ver­än­dern und sich die Vor­herr­schaft im so genann­ten post­so­wje­ti­schen Raum zu sichern. Mili­tär­übun­gen, demons­tra­tive Trup­pen­kon­zen­tra­tio­nen und ‑Manöver nahe der Grenze zur Ukraine fanden in diesem Jahr fast unun­ter­bro­chen statt. Nach dem ersten Höhe­punkt im Früh­jahr bekam Putin sein erstes per­sön­li­ches Treffen mit Joe Biden im Juni in Genf. Im Sep­tem­ber folgte das Groß­ma­nö­ver „Sapad-2021“, welches im Novem­ber-Dezem­ber einen neuen Höhe­punkt erreichte. Infol­ge­des­sen war Biden erneut gezwun­gen, einem Treffen mit Putin zuzustimmen.

Dieses Treffen erin­nerte zu sehr an den Kalten Krieg, als das Schick­sal der Mensch­heit von den Ver­hand­lun­gen zwi­schen den Führern der Ver­ei­nig­ten Staaten und der Sowjet­union abhing. Das legt den Schluss nahe, dass Putin eine Welle mili­tä­ri­scher Dro­hun­gen in die Ukraine schickte, um ein der­ar­ti­ges Treffen zu insze­nie­ren. Putins Traum ist die Rache für „die größte geo­po­li­ti­sche Kata­stro­phe des 20. Jahr­hun­derts“ – den Zusam­men­bruch der Sowjet­union, wie er sich ausdrückt.

Die Aggres­sion gegen die Ukraine, Geor­gien, Moldau, Desta­bi­li­sie­rung auf dem Balkan, Kriege im Nahen Osten und in Afrika sind alle­samt Aus­druck von Putins Wunsch, Russ­land Groß­macht­sta­tus zu ver­schaf­fen. Man­gelnde wirt­schaft­li­che Stärke, Inves­ti­ti­ons­at­trak­ti­vi­tät oder Lebens­qua­li­tät der Russen, halten Putin nicht auf. Er kom­pen­siert diese Defi­zite durch den Aufbau aggres­si­ver mili­tä­ri­scher Fähig­kei­ten und vor allem durch die Bereit­schaft, diese auch ein­zu­set­zen. Der rus­si­sche Prä­si­dent ist fest davon über­zeugt, dass der Westen inzwi­schen so schwach und unent­schlos­sen ist, dass er es niemals wagen wird, einen Krieg zu führen.

Doch Putin wird es wagen, denn sein Idol Stalin hat Mil­lio­nen von Sowjet­bür­gern für seine Ideen ver­nich­tet. Und Putin selbst sieht nichts Fal­sches daran, dass rus­si­sche Sol­da­ten für seine Ideen im Donbas oder in anderen Erd­tei­len sterben. Denn er glaubt wirk­lich, dass Men­schen­le­ben für eine große Idee geop­fert werden können. Dies ist natür­lich typisch für auto­krati Regime und Führer. Putins KGB-Ver­gan­gen­heit macht diesen Ansatz nur noch zynischer.

Offen bleibt, warum Putin es so eilig hat, jetzt schon Revan­che anzu­stre­ben. Er könnte doch 2024 eine „Macht­über­gabe“ insze­nie­ren und seine ewige Herr­schaft in einem belie­bi­gen Amt fort­set­zen, um sein Regime stabil zu halten. Die einzige logi­sche Antwort darauf ist die Annahme, dass ent­ge­gen der Äuße­run­gen des Kremls die Wider­stands­fä­hig­keit des Putin-Regimes bedroht ist. Also braucht er Garan­tien vom Westen, um das Regime zu erhal­ten, bevor der sich abzeich­nende Kollaps offen­sicht­lich wird.

Die mili­tä­ri­sche Erpres­sung an den Grenzen der Ukraine, die Ener­gie­krise in Europa, der über Weiß­russ­land geführte Migra­ti­ons­an­griff auf Polen und die bal­ti­schen Staaten, die For­de­rung nach einem NATO-Erwei­te­rungs­stopp auf Kosten der Ukraine und Geor­gi­ens, die Desta­bi­li­sie­rung auf dem Balkan – all das ist Teil eines Plans, der den Westen zum Ver­han­deln zwingen soll. Zuge­ge­be­ner­ma­ßen ist es Putin bisher gelun­gen, west­li­che Staats- und Regie­rungs­chefs zu mani­pu­lie­ren und sie in ein Laby­rinth voller oft vor­ge­täusch­ter Fallen zu locken.

Putin nutzt die beiden Treffen mit Biden, deren wich­tigs­tes Ergeb­nis für ihn die Schaf­fung eines stän­di­gen per­sön­li­chen Kon­takts mit dem US-Prä­si­den­ten war, um zu demons­trie­ren, dass er jetzt ein Welt­macht­füh­rer ist. Außer­dem hat Putin nach Angela Merkels Abtritt nun offen­bar den US-Prä­si­den­ten als seinen wich­tigs­ten west­li­chen Ansprech­part­ner gewählt. Deut­sche Bun­des­kanz­ler, zu denen er keinen per­sön­li­chen Kontakt hat, wird er igno­rie­ren, ins­be­son­dere im Nor­man­die-Format, dem die Ver­ei­nig­ten Staaten wahr­schein­lich bei­tre­ten werden. Trotz der unbe­strit­ten posi­ti­ven Nach­richt, dass Washing­ton sich endlich ent­schlos­sen hat, sich in den bewaff­ne­ten Kon­flikt zwi­schen Russ­land und der Ukraine ein­zu­schal­ten, besteht der Ver­dacht, dass Putin das Nor­man­die-Format nutzen könnte, um die Aus­sich­ten auf eine Eini­gung weiter zu unter­gra­ben. Zudem scheint es, dass Putin ver­sucht, so viele kon­tro­verse Fragen wie möglich auf­zu­brin­gen, etwa die Ver­hin­de­rung eines NATO-Bei­tritts der Ukraine, um die Erör­te­rung der wirk­lich wich­ti­gen Fragen – die Deok­ku­pa­tion der Krim und des Donbas – zu ver­zö­gern. „Diplo­ma­ti­scher Spam“ und end­lo­ses Hin­aus­zö­gern werden von der rus­si­schen Diplo­ma­tie häufig ein­ge­setzt, um ihre Ziele zu erreichen.

Putin wird wohl nächs­tes Jahr den Druck auf den Westen weiter erhöhen, da die nega­ti­ven Trends in Russ­land selbst zuneh­men werden. Sank­tio­nen, tech­no­lo­gi­scher Rück­stand, feh­lende Inves­ti­tio­nen, all­ge­gen­wär­tige Kor­rup­tion und kri­mi­nell-olig­ar­chi­sche Gruppen tun ihr Übriges – sie zer­stö­ren die Fähig­keit der rus­si­schen Nation, sich wett­be­werbs­fä­hig zu ent­wi­ckeln, was wie­derum die Grund­lage für soziale Pro­teste schafft. Und der Mangel an demo­kra­ti­schen Frei­hei­ten schafft unan­nehm­bare Bedin­gun­gen für das Leben der jungen Gene­ra­tion, die früher oder später mit poli­ti­schen For­de­run­gen auf den Plan treten wird. Putin ist sich dieser Bedro­hun­gen durch­aus bewusst und ver­sucht daher, den schlimms­ten Fall zu ver­mei­den und vom Westen Garan­tien für das Über­le­ben seines Regimes zu erhalten.

Es mag paradox erschei­nen, aber durch die Zuspit­zung der Bedro­hun­gen in den Berei­chen Militär, Energie, Migra­tion und Infor­ma­tion hofft Putin, den Westen dazu zu bewegen, die Sank­tio­nen auf­zu­he­ben, die Krim von der Tages­ord­nung zu strei­chen und in den Club der zivi­li­sier­ten Natio­nen zurück­zu­keh­ren. Dees­ka­la­tion durch Eska­la­tion ist Russ­lands belieb­teste und tra­di­tio­nellste Methode. Doch die Praxis zeigt, dass ihre Wirk­sam­keit ganz vom Gegner abhängt. Je weniger das Objekt der Erpres­sung erpress­bar ist, desto weniger bekommt Russ­land. Leider glauben west­li­che Poli­ti­ker oft, dass es möglich ist, sich mit Putin zu einigen, und ver­su­chen, einen kon­struk­ti­ven Dialog mit ihm auf­zu­bauen. Die bis­he­ri­gen Erfah­run­gen in den Bezie­hun­gen zu Putins Russ­land lassen jedoch anderes ver­mu­ten. Russ­land sucht in Ver­hand­lun­gen keine Eini­gung, sondern setzt ledig­lich die Auf­ga­ben eines umfas­sen­de­ren Plans zur Wie­der­her­stel­lung eines neuen Impe­ri­ums. Daher wird jeder Flirt mit dem Kreml nega­tive Folgen haben.

Die Gefahr einer mili­tä­ri­schen Invasion

Ein paar Worte zu der tat­säch­li­chen mili­tä­ri­schen Bedro­hung, die Russ­land für die Ukraine dar­stellt. Die Bedro­hung ist real und ist seit der Krim-Anne­xion und der Schaf­fung nicht aner­kann­ter Enkla­ven in der Ost­ukraine 2014 kon­stant hoch geblie­ben. Darüber hinaus hat der Kreml seit 2017, nachdem Russ­land neue Mili­tär­ver­bände rund um die Ukraine geschaf­fen hat – die 1. Gar­de­pan­zer­ar­mee in der Nähe von Moskau, die 20. Gar­de­ar­mee in der Nähe von Woro­nesch und die 8. Gar­de­ar­mee  in Nowot­scher­kassk – genü­gend Kräfte für eine stra­te­gi­sche Offen­sive gegen die Ukraine sowie gegen Polen und die bal­ti­schen Staaten vor­be­rei­tet. Dabei ist die 8. Gar­de­ar­mee in Nowot­scher­kassk spe­zi­ell für die Führung und Unter­stüt­zung des rus­si­schen Besat­zungs­kon­tin­gents im ukrai­ni­schen Donbas geschaf­fen worden – das 1. und 2. Armee­korps in Donezk und Luhansk. Ins­ge­samt hält Russ­land ständig rund 100.000 Sol­da­ten in Grenz­nähe, dazu Hun­derte Panzer, Flug­zeuge, Hub­schrau­ber und andere Waffensysteme.

Bereits während des „Sapad-2017“ Manö­vers haben die neuen um die Ukraine sta­tio­nier­ten Ver­bände ihre offen­si­ven Fähig­kei­ten getes­tet. Gleich­zei­tig wurde weiß­rus­si­sches Hoheits­ge­biet für eine raschere Ver­le­gung rus­si­scher Truppen sowie als Auf­marsch­raum für kom­bi­nierte Mili­tär­ope­ra­tio­nen gegen Polen und das Bal­ti­kum sowie die Ukraine genutzt.

In der Folge ist die rus­si­sche mili­tä­ri­sche Infra­struk­tur rund um die Ukraine ver­bes­sert und erwei­tert worden. An regel­mä­ßi­gen Übungen nahmen sowohl ständig in Grenz­nähe sta­tio­nierte als auch aus dem Hin­ter­land ver­legte Ver­bände teil, was offen­sicht­lich das Offen­siv­po­ten­zial erhöhte.

Gleich­zei­tig hat Russ­land seine Streit­kräfte (Marine, Luft­waffe, Heer) auf der Krim derart maxi­miert, dass es eine Domi­nanz im Schwar­zen Meer innehat und rund um die besetzte Halb­in­sel eine mili­tä­ri­sche Sperre (soge­nannte A2AD-Zone) sowohl über und unter Wasser als auch in der Luft sicher­stel­len kann. Die Zahl der auf U‑Booten, Schif­fen und boden­ge­stütz­ten Sys­te­men sta­tio­nier­ten Rakenten der rus­si­schen Schwarz­meer­flotte beträgt derzeit 200 (ein­schließ­lich Lang­stre­cken-Marsch­flug­kör­pern „Kaliber“), welche nicht nur die gesamte Ukraine, sondern auch weite Teile Europas bedrohen.

2021 erreich­ten die rus­si­schen Vor­be­rei­tun­gen für eine groß ange­legte Aggres­sion gegen die Ukraine ihren Höhe­punkt. Zunächst führte Russ­land im April und Mai unge­plante stra­te­gi­sche Manöver durch, an denen bis zu 110.000 Sol­da­ten teil­nah­men. Im Sep­tem­ber führte Russ­land dann (auch in Weiß­russ­land) das Manöver „Sapad-2021“ durch, welches das Ausmaß des Manö­vers vom April tat­säch­lich wie­der­holte. Als Russ­land im Novem­ber erneut Truppen ver­stärkte, wurde das von ukrai­ni­schen und west­li­chen Geheim­diens­ten bemerkt und löste ein großes Medi­en­echo aus.

Wird Putin in die Ukraine ein­mar­schie­ren und was kann der Westen tun?

Berei­tet also Moskau wirk­lich eine große Mili­tär­ope­ra­tion gegen die Ukraine vor und wie wahr­schein­lich ist deren Durch­füh­rung? Meiner Ein­schät­zung nach ist der Kreml aus rein mili­tä­ri­scher Sicht voll und ganz bereit, eine stra­te­gi­sche Offen­sive gegen die Ukraine in meh­re­ren Rich­tun­gen durch­zu­füh­ren, sowohl aus Russ­land als auch aus Belarus, der besetz­ten Krim, dem besetz­ten Donbas und aus Trans­nis­trien (der besetzte Teil der Repu­blik Moldau).

Im Gegen­satz zu 2014, als die Ukraine in einer schwie­ri­gen Lage war und die Kampf­kraft der Streit­kräfte gering war, wird es für Russ­land jetzt schwe­rer, eine Mili­tär­of­fen­sive erfolg­reich umzu­set­zen. Ein groß ange­leg­ter mili­tä­ri­scher Kon­flikt zwi­schen Russ­land und der Ukraine wird unter den der­zei­ti­gen Umstän­den nicht nur für die Ukraine und Europa, sondern auch für Russ­land kata­stro­phale Folgen haben.

Wahr­schein­lich sind die stän­di­gen Mili­tär­ma­nö­ver Russ­lands nahe der Ukraine Teil eines umfas­sen­de­ren Groß­macht-Plans des Kremls, um dem „neuen rus­si­schen Reich“ die Führung in einem „Orches­ter der Natio­nen“ zu sichern, das sich mit der glo­ba­len Auf­tei­lung von Ein­fluss­sphä­ren befas­sen soll.

Wichtig ist, dass mili­tä­ri­sche Druck­mit­tel bei Russ­lands hybri­der geo­po­li­ti­schen Ope­ra­tion eine Schlüs­sel­rolle spielen. Wenn Russ­land in den Ver­hand­lun­gen mit dem Westen nicht das gewünschte Ergeb­nis erzielt, wird der Kreml seine Bereit­schaft zu einem erneu­ten Angriff auf die Ukraine immer aggres­si­ver demons­trie­ren. Gleich­zei­tig hängt die Wahr­schein­lich­keit, dass Russ­land seine Dro­hun­gen in die Tat umsetzt, von der Fähig­keit des Westens und der Ukraine ab, einer rus­si­schen Mili­tär­ag­gres­sion wirksam zu begegnen.

Daher ist meine Schluss­fol­ge­rung, dass ein anhal­ten­der und starker kon­so­li­dier­ter diplo­ma­ti­scher und wirt­schaft­li­cher Wider­stand gegen Putins globale Erpres­sung mit inten­si­ven Schrit­ten zur Stär­kung der Ver­tei­di­gungs­ka­pa­zi­tä­ten der Ukraine kom­bi­niert werden muss. Russ­land wird erst dann auf­hö­ren, die mili­tä­ri­sche Bedro­hung der Ukraine zu ver­stär­ken, wenn es erkennt, dass jede neue mili­tä­ri­sche Aggres­sion zu viel kosten wird. Schließ­lich geht es Putin um die Siche­rung seiner dau­er­haf­ten Herr­schaft – den Sturz seines Regimes will er vermeiden.

Textende

Portrait von Mykhailo Samus

Mykhailo Samus ist Direk­tor der Denk­fa­brik „New Geo­po­li­tics Rese­arch Network“.

 

 

 

 

 

 

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