Warum wir die Krim nie ver­ges­sen sollten

In seiner ersten Kolumne schreibt der Phi­lo­soph und Jour­na­list Wolo­dymyr Jer­mo­lenko, warum wir die Krim auch nach sechs Jahren seit der Anne­xion nicht ver­ges­sen sollten und warum wir das neue Buch der Jour­na­lis­tin Natalja Gumen­juk über die Krim lesen sollten.

Vor sechs Jahren, im Februar 2014, star­tete Russ­land einen Einsatz mit dem Ziel, die mili­tä­ri­sche und poli­ti­sche Kon­trolle über die Krim zu erlangen.

Seitdem wird geo­po­li­tisch vieles beredet. Es wird dis­ku­tiert, ob das „Refe­ren­dum“ und die Anne­xion von 2014 unrecht­mä­ßig waren, ob die Sank­tio­nen gegen Russ­land wirksam sind und ob die Krim schon „immer“ rus­sisch war.

Meine Antwort auf diese Fragen ist klar.

Nein, die Anne­xion war nicht recht­mä­ßig, da ihr eine rus­si­sche Mili­tär­ope­ra­tion unter der Regie von Prä­si­dent Putin selbst vor­aus­ging, wie dieser mitt­ler­weile zugibt.

Ja, Sank­tio­nen gegen Russ­land sind not­wen­dig, aber nein, sie werden nicht voll­stän­dig ein­ge­hal­ten; es gibt zum Bei­spiel hun­derte Fälle, in denen Schiffe die Sank­ti­ons­re­ge­lung unter­lau­fen haben.

Und nein, bei der Krim handelt es sich nicht um „hei­li­ges rus­si­sches Land“, da sie nur für 5 Prozent ihrer doku­men­tier­ten Geschichte zu Russ­land gehört hat.

Im Zuge dieser geo­po­li­ti­schen Dis­kus­sio­nen ver­ges­sen wir oft das Wich­tigste: die Men­schen. Was geschieht mit den Men­schen, die unter der rus­si­schen Besat­zung ver­blie­ben sind? Wie emp­fin­den die Krim­ta­ta­ren ihre aktu­elle und zukünf­tige Situa­tion? Kann ein ukrai­ni­scher Bürger, der einen rus­si­schen Pass ablehnt, ein wür­de­vol­les Leben auf der besetz­ten Krim führen?

Ein neues Buch von Natalja Gumenjuk

Jetzt gibt es ein Buch, das mehr Infor­ma­tio­nen ans Tages­licht bringt. Zahub­lenyi Ostriv (Ver­lo­rene Insel) von Natalja Gumen­juk ist gerade in der Ukraine erschie­nen und sowohl auf Ukrai­nisch als auch auf Rus­sisch erhält­lich. Und dieses Buch ist ein Muss. Ein Buch, bei dem ich euro­päi­schen Ver­la­gen rate, es ins Eng­li­sche, Deut­sche, Fran­zö­si­sche und in alle mög­li­chen anderen Spra­chen auf der ganzen Welt zu über­set­zen. (Hier können Sie sich den Ukrai­ne­World-Podcast mit Natalja Gumen­juk auf Eng­lisch anhören.)

Gumen­juk ist eine pro­mi­nente unab­hän­gige ukrai­ni­sche Jour­na­lis­tin und Mit­be­grün­de­rin der unab­hän­gi­gen Medi­en­platt­form Hro­madske, die während der Maidan-Unruhen 2013–2014 entstand.

Sie ist außer­dem eine mutige Bericht­erstat­te­rin. Zwi­schen 2014 und 2019 ging sie sieben Mal auf die Krim, während viele ukrai­ni­sche Repor­ter wegen des Risikos der Gefan­gen­nahme oder Ent­füh­rung ver­ständ­li­cher­weise ver­mie­den, die besetz­ten Gebiete zu besuchen.

Sie war im späten Februar 2014 eine Beob­ach­te­rin, als Russ­land während des Füh­rungs­wech­sels in Kiew nach dem Maidan wider­recht­lich die mili­tä­ri­sche Macht auf der Halb­in­sel ergriff.

Sie beob­ach­tete und beschrieb den Wider­stand von Krim­ta­ta­ren und Ukrai­nern, der oftmals Gefan­gen­nah­men, Folter und jahr­zehn­te­lange Haft­stra­fen nach sich zog, unter Vor­wür­fen von „Ter­ro­ris­mus“ und „Extre­mis­mus“.

Repor­ta­gen über Menschen

In diesem Buch werden Sie Geschich­ten über Men­schen wie Synawer Kadyrow lesen, der 1988 nach Gor­bat­schows Dekret als letzter sowje­ti­scher Dis­si­dent ent­las­sen wurde, und der nun eine Rück­kehr des Auto­ri­ta­ris­mus beob­ach­tet. Über inhaf­tierte Krim­ta­ta­ren, die nicht auf den Listen des „Gefan­ge­nen­aus­tauschs“ zwi­schen der Ukraine und Russ­land auf­tauch­ten und die beinahe ver­ges­sen sind. Eine Geschichte über Emi­ru­sein Kuku, der 12 Jahre im Lager erhielt, oder Muslim Aliew, 19 Jahre im Lager, für angeb­li­che Betei­li­gung an einer „ter­ro­ris­ti­schen“ Orga­ni­sa­tion. Geschich­ten über andere krim­ta­ta­ri­sche Akti­vis­ten, die wegen „Ter­ro­ris­mus“ ver­ur­teilt wurden, obwohl seit 2014 kein ter­ro­ris­ti­scher Akt von Krim­ta­ta­ren verübt wurde. Geschich­ten über Frauen – Mütter und Ehe­frauen dieser poli­ti­schen Gefan­ge­nen – die ihre Männer viele Jahre lang nicht sehen werden, und die ihre Kinder alleine groß­zie­hen. (Krim­ta­ta­ren­fa­mi­lien sind gewöhn­lich kin­der­reich.) Nur ihre Gemein­schaft hilft ihnen, zu überleben.

Sie werden außer­dem Geschich­ten lesen über die Über­le­ben­den der Depor­ta­tion von 1944: Wie den Men­schen gesagt wurde, dass ihnen 15 Minuten bleiben, um ihr Hab und Gut zu holen, wie sie in Vieh­wag­gons trans­por­tiert wurden, in denen einige zu Tode kamen, und wie den Über­le­ben­den fünf Minuten gegeben wurde, um draußen die Gräber auszuheben.

Sie werden über den ukrai­ni­schen Bauern Wolo­dymyr Balukh lesen, der in einem rus­si­schen Gefäng­nis inhaf­tiert wurde, nur weil er eine ukrai­ni­sche Natio­nal­flagge aus seinem Gebäude hängte.

Sie werden auch über die ukrai­ni­sche Kirche und ihr mutiges Ober­haupt Erz­bi­schof Klyment lesen: Eine Kirche, die von den rus­si­schen Besat­zungs­be­hör­den schritt­weise in den Unter­grund gedrängt wird. Oder Geschich­ten über jene, die sich wei­ger­ten, rus­si­sche Pässe anzu­neh­men, und die statt­des­sen nur eine befris­tete Auf­ent­halts­er­laub­nis für die Krim erhiel­ten. Sie fürch­ten nun Depor­ta­tio­nen, obwohl sie ihr ganzes Leben lang auf der Krim gelebt haben. Sie werden auch Geschich­ten über Frei­wil­lige lesen, die die letzte ukrai­ni­sche Zeitung auf der Krim her­aus­ge­ben, oder über Lehrer der ukrai­ni­schen Sprache, die plötz­lich ohne ihren Job dastanden.

In Gumen­juks Buch finden Sie Repor­ta­gen über Men­schen, die auf­grund rus­si­scher Gesetz­ge­bung starben: Hun­derte jener, die unter ukrai­ni­schem Recht eine Metha­don­be­hand­lung erhiel­ten, wachten plötz­lich in einem Land auf, in dem diese Behand­lung illegal war. Hun­derte dieser Men­schen sind seither gestor­ben; einige sind zu Stra­ßen­dro­gen zurück­ge­kehrt, ein Weg in Rich­tung Ernied­ri­gung und Tod.

Stets geht es dabei um Men­schen­le­ben. Einige Namen wurden geän­dert, da die Men­schen Angst vor Ver­fol­gung haben. Andere nennen offen ihren Namen und tun das Unmög­li­che: Sie leisten unter dem Druck der rus­si­schen Behör­den Widerstand.

Das ist etwas, das wir in Bezug auf die Krim nie aus dem Blick ver­lie­ren sollten. Und sie leben mit der uto­pi­schen Hoff­nung, dass die Krim eines Tages zurück­keh­ren wird zu einer demo­kra­ti­schen Ukraine und einem demo­kra­ti­schen Europa.

Portrait von Volodymyr Yermolenko

Volo­dymyr Yer­mo­lenko ist ukrai­ni­scher Phi­lo­soph und Chef­re­dak­teur von UkraineWorld.org.

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