Bin­nen­flücht­linge in der Ukraine

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Nach der Anne­xion der Krim und dem Beginn der bewaff­ne­ten Aggres­sion Russ­lands im Donbas waren über andert­halb Mil­lio­nen Ukrai­ner gezwun­gen, umge­hend ihren Wohnort zu ver­las­sen und in andere Regio­nen des Landes umzu­sie­deln. Seit 2014 gibt es unter den ukrai­ni­schen Realien einen neuen Begriff: die intern Ver­trie­be­nen oder Binnenflüchtlinge.

Wer sind die Binnenflüchtlinge?

Als Bin­nen­flücht­linge werden heute in der Ukraine die Men­schen bezeich­net, die die Krim, Donezk, Luhansk oder andere Städte und Sied­lun­gen des Front­ge­bie­tes ver­las­sen und sich in Gebie­ten nie­der­ge­las­sen haben, die unter Kon­trolle der ukrai­ni­schen Regie­rung stehen. Nach Angaben des Minis­te­ri­ums für Sozi­al­po­li­tik waren am 05. Februar 2018 in der Ukraine 1,5 Mil­lio­nen Bin­nen­flücht­linge aus dem Donbas-Gebiet und von der Krim registriert.

Sie hatten die umkämpf­ten Gebiete bzw. die Krim ver­las­sen, da sie nicht auf dem von Russ­land kon­trol­lier­ten Ter­ri­to­rium bleiben wollten und auf der Flucht vor dem Krieg waren, und ließen sich in der West‑, Süd‑, Nord- oder Zen­tralukraine nieder, ein Groß­teil in der Haupt­stadt. Die­je­ni­gen, die nicht weg­ge­hen konnten, über­wie­gend Rentner, blieben in den besetz­ten Gebie­ten, ein wei­te­rer kleiner Teil emi­grierte mangels Alter­na­ti­ven zu Ver­wand­ten nach Russ­land oder Belarus. Schät­zun­gen zu Folge könnte es sich um 300.000 Ukrai­ner handeln, die vor alleine nach Russ­land flohen.

Portrait von Tetiana Goncharuk

Tetiana Gon­cha­ruk ist Men­schen­rechts­exper­tin und freie Jour­na­lis­tin aus Kyjiw sowie Mit­ar­bei­te­rin am Zentrum Libe­rale Moderne. 

Die ukrai­ni­sche Regie­rung war auf eine solche Ent­wick­lung der Ereig­nisse nicht vor­be­rei­tet und folg­lich nicht in der Lage, für die unter Beschuss ste­hende Bevöl­ke­rung schnell ange­mes­sene Hilfe zu orga­ni­sie­ren. Eine füh­rende Rolle bei der Unter­stüt­zung und Inte­gra­tion der Bin­nen­flücht­linge über­nah­men daher Men­schen, die selbst aus den Gebie­ten Luhansk und Donezk sowie der Auto­no­men Repu­blik Krim stamm­ten, die sich selbst­or­ga­ni­siert zusam­men­schlos­sen und Selbst­hil­fe­zen­tren wie Wostok SOS oder Krim SOS grün­de­ten. Heute sind dies regis­trierte kari­ta­tive Orga­ni­sa­tio­nen. Hilfe kam auch von Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen und ein­fa­chen Bürgern, denen das Schick­sal der Bin­nen­flücht­linge nicht gleich­gül­tig war und die nach Kräften ver­such­ten, ihnen zu helfen.

Obwohl seit der Anne­xion der Krim und dem Beginn des bewaff­ne­ten Angriffs durch Russ­land mehr als vier Jahre ver­gan­gen sind, ist die Bin­nen­mi­gra­tion in der Ukraine immer noch ein aktu­el­les und hoch­kom­ple­xes Thema. Mit welchen Pro­ble­men haben die Bin­nen­flücht­linge nun zu kämpfen?

Ver­deckte Feind­se­lig­keit und Diskriminierung

Nachdem sie sehr schnell in andere Städte der Ukraine umzie­hen mussten, sahen sich die Bin­nen­flücht­linge mit Inte­gra­ti­ons­schwie­rig­kei­ten und Akzep­tanz­pro­ble­men bei der lokalen Bevöl­ke­rung kon­fron­tiert. Die Ein­stel­lun­gen gegen­über den Bin­nen­flücht­lin­gen, die in großer Zahl aus dem Donbas und von der Krim kamen, sind in der ukrai­ni­schen Gesell­schaft recht unter­schied­lich. Sie reichen von Angst und Ver­ach­tung, gelei­tet von dem Ste­reo­typ „Die Donez­ker kommen ange­strömt.“, über die Ansicht, dass sie Ver­rä­ter seien („Ihr wolltet nach Russ­land – jetzt haben wir wegen euch Krieg.“) bis hin zu schwei­gen­der Beobachtung.

Viele Ver­mie­ter wei­ger­ten sich, Wohn­raum zu ver­mie­ten, sobald sie eine Donez­ker oder Luhans­ker Mel­de­adresse im Pass sahen. Andere nutzten die Situa­tion aus und ver­mie­te­ten an Bin­nen­flücht­linge zu höheren Preisen. Ähnlich ver­hielt es sich bei der Arbeitssuche.

Der Staat ver­pflich­tet alle Geflüch­te­ten aus dem Donbas und der Auto­no­men Repu­blik Krim, sich an ihrem neuen Wohnort bei den Sozi­al­be­hör­den regis­trie­ren zu lassen, also ihren Status als Bin­nen­flücht­ling offi­zi­ell bestä­ti­gen zu lassen. Die Regis­trie­rung und der offi­zi­elle Status als Bin­nen­flücht­ling ermög­li­chen ihrer­seits Erwach­se­nen und Kindern den Bezug eines monat­li­chen staat­li­chen Zuschus­ses zu den Wohn­kos­ten sowie Rent­nern eine Wie­der­aus­zah­lung ihrer Rente.

Die staat­li­chen Aus­gleichs­zah­lun­gen betru­gen jedoch nur circa 400 Hrywna (circa 13 Euro) für Erwach­sene und 884 Hrywna (circa 28 Euro) für Kinder. Seit Januar 2018 hat die Regie­rung die Zah­lun­gen erhöht: für Rentner und Fami­lien mit Kindern auf 1000 Hrywna (circa 35 Euro). Aller­dings wird diese finan­zi­elle Unter­stüt­zung nicht gewährt, wenn ein Fami­li­en­mit­glied Spar­ein­la­gen bei einer Bank oder die Familie zwei Autos hat. Wenn ein arbeits­fä­hi­ger Mensch inner­halb von zwei Monaten an seinem neuen Wohnort keine Arbeit findet, werden die Zah­lun­gen eben­falls ein­ge­stellt. Zum Ver­gleich: Die nied­rigste Miete für eine Ein­zim­mer­woh­nung in Kiew und anderen Groß­städ­ten der Ukraine bewegt sich um die 280–300 Euro pro Monat. Kann es sich ein Bin­nen­flücht­ling da leisten, mit der staat­li­chen Aus­gleichs­zah­lung eine Wohnung zu mieten?

Momen­tan kehren einige Bin­nen­flücht­linge aus dem Donbas sogar in ihre halb zer­stör­ten Häuser zurück in den umkämpf­ten Gebie­ten zurück, da sie nicht in der Lage sind, in anderen Städten der Ukraine Arbeit zu finden und die Mieten zu zahlen. Der Status als Bin­nen­flücht­ling ist trau­ri­ger­weise in der ukrai­ni­schen Gesell­schaft zu einer Art Stigma und Grund für ver­deckte Feind­se­lig­keit und Dis­kri­mi­nie­rung geworden.

Dis­kus­sio­nen über die Rentenzahlung

Nach ukrai­ni­schem Gesetz haben Rentner, die die besetz­ten Gebiete der Ukraine (Donezk, Luhansk, die Auto­nome Repu­blik Krim) und die umkämpf­ten Gebiete im Donbas zeit­wei­lig ver­las­sen haben, ein Anrecht auf Aus­zah­lung ihrer Rente in den Städten und Sied­lun­gen der Ukraine, in die sie umge­zo­gen sind und wo sie regis­triert sind.

Für Bin­nen­flücht­linge aus dem Donbas hat die Ukraine bereits 2015 die Ren­ten­zah­lun­gen wieder auf­ge­nom­men. Für Bin­nen­flücht­linge von der Krim hat der Ren­ten­fonds der Ukraine eben­falls 2015 aus eigenem Ent­schluss und ent­ge­gen der gel­ten­den Gesetz­ge­bung die Regeln für die Ren­ten­be­wil­li­gung geän­dert und sendet jetzt eine offi­zi­elle Anfrage nach Russ­land, um zu klären, ob der Antrag­stel­ler eine Rente aus Russ­land bezogen hat, als er auf der besetz­ten Krim lebte. In Moskau werden die Unter­la­gen genau geprüft und Kiew erhält eine ent­spre­chende Antwort. Wenn sich her­aus­stellt, dass Russ­land eine Rente gezahlt hat, lehnt der Ren­ten­fonds der Ukraine den Antrag ab, was einen groben Verstoß gegen die ukrai­ni­sche Gesetz­ge­bung dar­stellt. Mit der Anfrage an Russ­land über­mit­telt der ukrai­ni­sche Ren­ten­fonds auch die aktu­elle Wohn­adresse des Umsied­lers in der Ukraine, infor­miert also die Besat­zungs­macht offi­zi­ell über seine Aus­reise von der Krim auf von der Ukraine kon­trol­lier­tes Ter­ri­to­rium. Die Über­mitt­lung per­sön­li­cher Daten erfolgt ohne Zustim­mung des betrof­fe­nen Rent­ners, dessen per­sön­li­che Angaben nach Russ­land gesandt werden.

Kom­pli­ziert ist die Situa­tion auch für Rentner, die in den soge­nann­ten Volks­re­pu­bli­ken Luhansk und Donezk leben, aber in den von der ukrai­ni­schen Regie­rung kon­trol­lier­ten Gebie­ten ihre Rente abholen. Ein Groß­teil der Rentner ist gezwun­gen, in den besetz­ten Gebie­ten zu bleiben, nicht, weil sie Anhän­ger der Idee „Nowo­ros­sija“ wären, sondern weil sie einfach keine Mög­lich­keit zur Aus­reise haben. Mit einer Rente von umge­rech­net 100 Euro ist es nicht rea­lis­tisch, in einer anderen Stadt eine Wohnung zu mieten und sich zu ernäh­ren. Andere bleiben, weil sie erwor­be­nes Eigen­tum oder eine Immo­bi­lie nicht zurück­las­sen wollen. Sie müssen regel­mä­ßig die „Grenze“ zwi­schen den von der Ukraine kon­trol­lier­ten Gebie­ten und den von ille­gi­ti­men bewaff­ne­ten Truppen kon­trol­lier­ten Gebie­ten über­que­ren, um an Bank­au­to­ma­ten der Oscht­schad­bank die ukrai­ni­sche Rente abzuheben.

Stanyzja Luhanska ist eine Klein­stadt, acht Kilo­me­ter ent­fernt von der soge­nann­ten Volks­re­pu­blik Luhansk. Momen­tan ist dies der einzige Fuß­gän­ger­über­gang zwi­schen den vom ukrai­ni­schen Militär kon­trol­lier­ten Gebie­ten und dem Ter­ri­to­rium der Ukraine, das sich unter Kon­trolle der ille­gi­ti­men bewaff­ne­ten Truppen der „Volks­re­pu­blik Luhansk“ befindet.

Diese soge­nannte „Grenze“ pas­sie­ren täglich unge­fähr 15.000 Ukrai­ner. Alle, die aus irgend­wel­chen Gründen von ukrai­nisch kon­trol­lier­tem Ter­ri­to­rium auf das von den pro­rus­si­schen Kämp­fern kon­trol­lierte Ter­ri­to­rium gelan­gen müssen, reihen sich in die lange Schlange an der Pass­kon­trolle der ukrai­ni­schen Grenzer ein. Dann über­que­ren sie zu Fuß eine neu­trale Zone, um danach den Check­point der pro­rus­si­schen Kämpfer zu pas­sie­ren. Eine große Tortur für die alten Ret­ne­rin­nen und Retner, wie Human Rights Watch zuletzt in einem umfang­rei­chen Bericht darstellte.

„Dop­pelte Staats­bür­ger­schaft“ und Lücken in der Gesetzgebung

Seit 2017 hat sich die Zahl der Krim­be­woh­ner erhöht, die auf das Ter­ri­to­rium der Fest­lan­d­ukraine reisen, um neue ukrai­ni­sche Papiere zu bean­tra­gen, ins­be­son­dere natio­nale und bio­me­tri­sche Pässe, die eine visa-freie Ein­reise in den Schen­gen-Raum ermög­li­chen. Dabei geben die Beamten des Migra­ti­ons­diens­tes der Ukraine keine Papiere an Bewoh­ner der Krim aus, da diese dann angeb­lich eine dop­pelte Staats­bür­ger­schaft und sowohl einen ukrai­ni­schen als auch einen rus­si­schen Pass hätten. Aller­dings legt das Gesetz der Ukraine über die besetz­ten Gebiete ganz klar fest, dass eine auf der Krim zwangs­weise zuer­kannte Staats­bür­ger­schaft von der Ukraine nicht aner­kannt wird, also keine recht­li­chen Folgen hat. Somit müsste man nicht von einer dop­pel­ten Staats­bür­ger­schaft ausgehen.

Kein Recht auf Teil­nahme an Kommunalwahlen

Die Bin­nen­flücht­lin­gen haben in der Ukraine kein Wahl­recht bei Kom­mu­nal­wah­len. Die meisten der Bin­nen­flücht­linge sind immer noch offi­zi­ell an der alten Adresse ange­mel­det, obwohl sie als Bin­nen­flücht­linge regis­triert und tat­säch­lich in anderen Regio­nen der Ukraine leben. Aus diesem Grund können die Men­schen ihr Wahl­recht bei Kom­mu­nal­wah­len nicht voll aus­nut­zen, weil die Wahl­lis­ten nicht am Ort des tat­säch­li­chen Wohn­sit­zes einer Person, sondern am Ort der Anmel­dung gebil­det werden. Im Jahr 2017 hat die Gruppe der Akti­vis­ten einen Gesetz­ent­wurf erstellt zu den Wahl­rech­ten von Bin­nen­flücht­lin­gen und anderen beweg­li­chen Bür­ger­grup­pen. In dem Gesetz­ent­wurf wurde vor­ge­schla­gen, den Wählern die Mög­lich­keit zu geben, an einem tat­säch­li­chen Wohn­sitz zu wählen. Er wurde jedoch von der Verkhovna Rada nicht berück­sich­tigt. Diese Situa­tion sieht als Paradox aus. Die Kom­mu­nal­be­hör­den sind ver­pflich­tet das Leben im neuen Ort für Bin­nen­flücht­lin­gen zu orga­ni­sie­ren: die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung, Unter­brin­gung, Kin­der­gär­ten, Schulen etc. zur Ver­fü­gung zu stellen. Aber die Kom­mu­nal­be­hör­den sehen die Bin­nen­flücht­linge nicht als ihre Wählern. Damit können zahl­rei­che Men­schen ihr fun­da­men­ta­les Wahl­recht nicht in Anspruch nehmen.

Posi­tive Tendenzen

Ein Teil der Bin­nen­flücht­linge aus dem Donbas kehrt, da sie nicht in der Lage sind ange­mes­sen bezahlte Arbeit zu finden, nach Hause zurück. Das tun sie, obwohl die Kampf­hand­lun­gen andau­ern, viele Gebiete vermint sind und die Men­schen im Kriegs­ge­biet in per­ma­nen­ter Gefahr leben. Aller­dings sind auch posi­tive Ten­den­zen zu beob­ach­ten. Viele Bin­nen­flücht­linge haben es trotz aller Schwie­rig­kei­ten geschafft, an ihrem neuen Wohnort Wurzeln zu schla­gen, sind beruf­lich erfolg­reich und tragen aktiv zu posi­ti­ven Ver­än­de­run­gen in den Gemein­den bei. Da sie keine Fest­an­stel­lung finden konnten, haben sich viele selb­stän­dig gemacht und ihr eigenes Unter­neh­men gegrün­det, wodurch sie auch die Wirt­schaft in ihren neuen Hei­mat­re­gio­nen ankur­beln. Inte­gra­ti­ons­fra­gen werden eben­falls selb­stän­dig gelöst, zum Bei­spiel durch die Grün­dung von Selbst­hil­fe­grup­pen. Aller­dings bedür­fen die Akti­vi­tä­ten der Bin­nen­flücht­linge dennoch der Unter­stüt­zung durch den Staat und die lokale Bevöl­ke­rung, in erster Linie bei der Über­win­dung von Ste­reo­ty­pen und Dis­kri­mi­nie­rung, einer Ver­ein­fa­chung des Pro­ze­de­res bei der Bean­tra­gung von Papie­ren und glei­chen Chancen auf ein wür­di­ges Leben am neuen Wohnort.

Aus dem Rus­si­schen von Lydia Nagel

 

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