Selen­skyjs kon­sul­ta­ti­ves Refe­ren­dum am Wahltag – Herr­schaft des Volkes oder gefähr­li­che Finte?

Ein Mann über seinem Wahl­zet­tel am Tag der Lokal­wah­len am 25.10.2020 in Kyjiw © Evgen Kotenko /​ Imago Images

Heute werden in der Ukraine Regio­nal­wah­len abge­hal­ten. Es handelt sich um die ersten Lokal­wah­len, seitdem Prä­si­dent Selen­skyj im ver­gan­ge­nen Jahr mit einer großen Mehr­heit der Stimmen in sein Amt gewählt wurde. Vor dem Hin­ter­grund seiner fal­len­den Umfra­ge­werte sieht sich das Büro des Prä­si­den­ten gezwun­gen, einige unpo­pu­läre Ent­schei­dun­gen zu treffen. Ein Gast­bei­trag von Mykola Worobjow.

Heute, am 25. Oktober 2020, werden in der Ukraine Regio­nal­wah­len abge­hal­ten. Es handelt sich um die ersten Lokal­wah­len, seitdem Prä­si­dent Selen­skyj im ver­gan­ge­nen Jahr mit 73,2% der Stimmen in sein Amt gewählt wurde. Zwei Monate später war es seinem Lager um die Partei Diener des Volkes gelun­gen, den Erfolg ihrer Gal­li­ons­fi­gur zu bestä­ti­gen. Bei den natio­na­len Par­la­ments­wah­len fuhr die Partei ein Ergeb­nis von 43,16% ein, womit sie das höchste je erzielte Wahl­er­geb­nis einer Partei seit der Unab­hän­gig­keit des Landes erreichte.

Durch den Wahl­er­folg war es Selen­skyj möglich gewor­den, eine Koali­tion aus einzig seiner eigenen Frak­tion bestehend aus 254 Abge­ord­ne­ten zu bilden. Diese Kon­zen­tra­tion der Macht gestat­tete es Selen­skyj, seine eigene Regie­rung auf­zu­stel­len, und zudem eine Reihe auf­se­hen­er­re­gen­der Geset­zes­vor­ha­ben auf den Weg zu bringen. Dazu zählen etwa die Abschaf­fung der poli­ti­schen Immu­ni­tät für Abge­ord­nete, die Boden­re­form, das Gesetz über das Amts­ent­he­bungs­ver­fah­ren des Prä­si­den­ten, die Lega­li­sie­rung des Glücks­spiel­ge­schäfts und nicht zuletzt die Wahrung der staat­li­chen Kon­trolle über die bedeu­tende Privat Bank.

Diese hatte einst dem ukrai­ni­schen Olig­ar­chen Ihor Kolo­mo­js­kyj gehört, bevor sie im Jahr 2016 ver­staat­licht worden war. Dabei war die Regie­rung einer For­de­rung des Inter­na­tio­na­len Wäh­rungs­fonds gefolgt, um eine Ver­trags­ver­let­zung durch die Ukraine zu ver­hin­dern. Die Auf­recht­erhal­tung dieser Ent­schei­dung sorgte für ein Zer­würf­nis zwi­schen Selen­skyj und Kolo­mo­js­kyj, die eine lange Zusam­men­ar­beit mit­ein­an­der ver­bin­det. So spielte der Schau­spie­ler Selen­skyj die Rolle des ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten Holo­bo­rodko in der für seine Partei namens­ge­ben­den Fern­seh­se­rie Diener des Volkes, die auf dem über­re­gio­na­len Fern­seh­sen­der 1+1 aus­ge­strahlt wurde, der wie­derum Kolo­mo­js­kyj gehört.

Unge­ach­tet dieser Erfolge steht Selen­skyj und seiner Partei bei den anste­hen­den Wahlen der regio­na­len Volks­ver­tre­tun­gen eine wich­tige Prüfung bevor, von deren Ergeb­nis­sen die Frage nach ihrem Macht­er­halt unmit­tel­bar abhän­gen wird. 

Beson­ders deut­lich wird dies anhand des jüngs­ten Umfra­ge­tiefs für die Partei des Prä­si­den­ten, für die heute nur noch 17,2% derer stimmen würden, die sich bereit zeigen, an diesem Sonntag über­haupt eine Stimme abzu­ge­ben. Die Werte des Prä­si­den­ten selbst sind nach seinem ersten Amts­jahr auf 29% abge­sun­ken, und dennoch führt er in den Umfra­gen wei­ter­hin mit siche­rem Abstand vor seinen Kon­kur­ren­tin­nen und Konkurrenten.

Vom Popu­la­ri­täts­ver­lust der herr­schen­den Partei pro­fi­tiert indes ihre Kon­kur­renz, unter anderem auch das pro­rus­si­sche Lager. So liegt der Kopf der Partei Oppo­si­ti­ons­platt­form – Für das Leben, Jurij Bojko, mit 15,5% auf dem zweiten Platz, gefolgt von Ex-Prä­si­dent Petro Poro­schenko mit 13,7%.

Unter den Par­teien folgt Bojkos Oppo­si­ti­ons­platt­form mit 12,6% auf dem zweiten Platz hinter Diener des Volkes. Auf dem dritten Platz liegt die Partei Euro­päi­sche Soli­da­ri­tät von Petro Poro­schenko, die aktuell 11,7% der Stimmen auf sich vereint.

Selen­skyjs Kunst­griff: Volks­be­fra­gung am Wahltag

Vor dem Hin­ter­grund seiner fal­len­den Umfra­ge­werte sieht sich das Büro des Prä­si­den­ten gezwun­gen, einige unpo­pu­läre Ent­schei­dun­gen zu treffen. Am 14. Oktober ver­öf­fent­lichte Selen­skyj die erste von fünf Fragen, die den Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­nern am Wahltag im Rahmen einer Volks­be­fra­gung vor­ge­legt werden. Einige Tage später folgten die übrigen vier.

  1. Sollte für beson­ders schwere Fälle von Kor­rup­tion die Mög­lich­keit lebens­lan­ger Haft ein­ge­führt werden?
  2. Befür­wor­ten Sie die Ein­rich­tung einer Son­der­wirt­schafts­zone auf dem Ter­ri­to­rium der Oblaste Donezk und Luhansk?
  3. Befür­wor­ten Sie die Ver­klei­ne­rung der Wer­chowna Rada auf 300 Sitze?
  4. Befür­wor­ten Sie die Lega­li­sie­rung medi­zi­ni­schen Can­na­bis, um das Leid von Schwer­kran­ken zu mindern?
  5. Befür­wor­ten Sie das Recht der Ukraine, die Erfül­lung der durch das Buda­pes­ter Memo­ran­dum defi­nier­ten Sicher­heits­ga­ran­tien auf inter­na­tio­na­ler Ebene einzufordern?

Der Vize­spre­cher der Wer­chowna Rada, Ruslan Ste­fant­schuk von der Partei Diener des Volkes, erklärte, die Volks­be­fra­gung bei den Regio­nal­wah­len stelle ein „Pro­be­re­fe­ren­dum“ dar.  Die Umfrage könnte dem Prä­si­den­ten also als Fort­set­zung seiner Geset­zes­in­itia­tive „Über die Herr­schaft des Volkes mit­hilfe eines allukrai­ni­schen Refe­ren­dums“ dienen, die am 18. Juni in der ersten Lesung durch das Par­la­ment bestä­tigt wurde. Das Doku­ment sieht vor, über die drän­gends­ten Fragen des All­ge­mein­wohls mittels eines natio­na­len Refe­ren­dums abstim­men zu lassen. Eine dieser Fragen betraf das Gesetz „Über den Boden­markt“, welches auf die Abschaf­fung des bestehen­den Mora­to­ri­ums für dessen Verkauf abzielt.

Obwohl die Normen für eine Volks­ab­stim­mung in der ukrai­ni­schen Ver­fas­sung ver­an­kert sind, gibt es bis zum heu­ti­gen Tage keine ein­deu­tige Gesetz­ge­bung für deren Durch­füh­rung. Im Jahr 2018 urteilte das Ver­fas­sungs­ge­richt, das Gesetz „Über das allukrai­ni­sche Refe­ren­dum“ sei nicht verfassungskonform.

„Die Herr­schaft des Volkes in der Ukraine wird kommen. Der unbe­schränkte Zugang zu Infor­ma­tio­nen für poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen wird allen Bürgern gewährt werden, das ist staat­li­che Pflicht. Die Men­schen müssen sowohl Ein­fluss auf aktu­elle Anlie­gen der Nation, als auch in ihrer Region nehmen können. Egal ob wöchent­lich, monat­lich oder einmal im Jahr“, erklärte Selen­skyj während eines Auf­trit­tes vor dem Par­la­ment am 20. Oktober.

Kri­ti­ker seiner Initia­tive halten die zeit­glei­che Durch­füh­rung einer Volks­be­fra­gung am Wahltag für einen schlecht kaschier­ten Manipulationsversuch. 

Es ist nach wie vor nicht bekannt, auf welche Art und Weise die Befra­gung durch­ge­führt wird, und ob und welchen Ein­fluss dies auf die Wil­lens­äu­ße­rung der Bür­ge­rin­nen und Bürger haben könnte, die nach ihrer Teil­nahme an der Befra­gung an die Wahl­urne treten. Und nicht zuletzt ist offen, auf wessen Rech­nung die Befra­gung durch­ge­führt wird, zumal sich ihre Kosten auf einige Mil­lio­nen Dollar sum­mie­ren dürften, die im Staats­haus­halt nicht vor­ge­se­hen sind.

Jüngs­ten Umfra­gen gemäß halten 44% der Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner die Initia­tive des Prä­si­den­ten für eine poli­ti­sche Finte. Darüber hinaus sind 43% geneigt, den Resul­ta­ten der Volks­be­fra­gung zu ver­trauen, während sich 41% zu dieser Frage negativ äußern.

In dieser Situa­tion haben Selen­skyj und seine Partei den Vorteil ein­deu­tig auf ihrer Seite, denn es sind Frei­wil­lige der Initia­tive des Prä­si­den­ten, die die Wäh­le­rin­nen und Wähler am Wahltag befra­gen werden. Und auch wenn die Befra­gun­gen außer­halb der Wahl­bü­ros statt­fin­den sollen, so schließt dies ver­steckte Ein­fluss­nahme doch nicht aus. Schließ­lich werden die Leute bei ihrer Stimm­ab­gabe auto­ma­tisch die Agenda des Prä­si­den­ten und seiner Partei vor Augen haben. Abge­se­hen davon werden die meisten Teil­neh­men­den Schwie­rig­kei­ten haben, zu ver­ste­hen, worauf die Fragen abzie­len, auf die sie ant­wor­ten sollen. So ist bei­spiels­weise unklar, ob die Ein­rich­tung einer Son­der­wirt­schafts­zone auf dem Ter­ri­to­rium der Oblaste Luhansk und Donezk auch die nicht ukrai­nisch-kon­trol­lier­ten Ter­ri­to­rien miteinschließt.

Was die fünfte Frage über die Sicher­heits­ga­ran­tien im Rahmen des Buda­pes­ter Memo­ran­dums von 1994 betrifft, so liegt auf der Hand, dass diese durch Groß­bri­tan­nien und die USA auch derzeit schon erfüllt werden, nicht jedoch durch die Rus­si­sche Föde­ra­tion. Diese hatte gegen das Memo­ran­dum in eben jenem Moment ver­sto­ßen, als sie die Krim annek­tierte und eine Mili­tär­of­fen­sive gegen die Ukraine im Donbas begann. Folg­lich wird auch eine Beja­hung dieser Frage den Kreml nicht dazu bringen, sich wieder auf die eins­tige Abma­chung zu besin­nen. Und weil eine sozio­lo­gi­sche Volks­be­fra­gung kei­ner­lei juris­ti­sche Bindung hat, werden der Prä­si­dent und sein Team die Ver­ant­wor­tung für ihre Imple­men­tie­rung auch schlicht und einfach von sich weisen können.

Eben­falls nicht ver­ges­sen werden sollte, dass eine unver­bind­li­che Umfrage wie diese gerne durch Moskau zur Macht­le­gi­ti­ma­tion genutzt wird, so auch auf der Krim und im Donbas geschehen. 

Die Anne­xion der Halb­in­sel legi­ti­mierte man unter dem Deck­man­tel des „Refe­ren­dums“ vom 16. März 2014. Diese Form der Volks­ab­stim­mung birgt eine Gefahr für die natio­nale Sicher­heit und Sou­ve­rä­ni­tät in sich. Wer bietet eine Garan­tie dafür, dass ein pro­rus­si­scher Ver­tre­ter der Macht in der Ukraine nicht auch den „Volks­wil­len“ beschwö­ren könnte? Wenn auch ohne juris­ti­sche Ver­bind­lich­keit, so doch mit schwe­ren Folgen für die Inte­gri­tät und Einig­keit des Landes. Ein solches Vor­ha­ben könnte den Status der rus­si­schen Sprache, Min­der­hei­ten­rechte, die Macht­be­fug­nisse regio­na­ler Regie­run­gen oder ähn­li­che Fragen betref­fen, die in den Kom­pe­tenz­be­reich des Staates fallen.

Im vor­lie­gen­den Fall hätten Selen­skyj und sein Team sich an die bestehen­den Gesetze zu regio­na­len Refe­ren­den halten sollen, wodurch sie eine Wil­lens­äu­ße­rung der Bür­ge­rin­nen und Bürger auf demo­kra­ti­schem Wege hätten ermög­li­chen können, anstelle einer über­has­te­ten Initia­tive des Prä­si­den­ten­bü­ros, die nun rein zufäl­lig mit dem Tag der Regio­nal­wah­len zusam­men­ge­fal­len ist.

Mykola Wor­ob­jow ist ukrai­ni­scher Jour­na­list und ehe­ma­li­ger Fellow der Aus­trian Mar­shall Plan Foun­da­tion an der Johns-Hopkins-Uni­ver­si­tät (SAIS).

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