Der Ukraine eine Per­spek­tive in Europa geben

Foto: Ukraine Presidency

Der rus­si­sche Angriffs­krieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen die euro­päi­sche Inte­gra­tion des Landes. Dort hat sich eine nach Europa gerich­tete Zivil­ge­sell­schaft gebil­det. Ein Kom­men­tar von Robin Wagener

Im Winter des Jahres 2013 ver­sam­mel­ten sich Mil­lio­nen Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner über Wochen und Monate im Zentrum von Kyjiw. Sie pro­tes­tier­ten für Demo­kra­tie, eine ver­läss­li­che Justiz, ein Ende der ufer­lo­sen Kor­rup­tion – und für den pro-euro­päi­schen Pfad ihres Landes, den Janu­ko­wytsch unter dem Druck des Kremls ver­las­sen wollte. Den Men­schen auf dem Euro­mai­dan war klar, dass für die Durch­set­zung ihrer Rechte – ihrer Würde – mittels Refor­men nur die EU der einzig denk­bare Partner sein kann. Ihnen war sehr klar, dass Wla­di­mir Putin dafür kein Partner sein würde. Und spä­tes­tens heute, im vierten Monat des rus­si­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukraine, wissen wir alle, wie sehr Putin eine freie, sou­ve­räne Ukraine und einen Sieg von Demo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit im post­so­wje­ti­schen Raum bekämpft.

Seit dem Euro­mai­dan war die Ukraine nicht nur per­ma­nen­ten rus­si­schen Desta­bi­li­sie­rungs­maß­nah­men, der An­nexion der Krim und dem Krieg im Don­bas aus­ge­setzt, sondern hat trotz alledem Refor­men umge­setzt, die ihres­glei­chen suchen. Leit­stern dieser posi­tiven Ent­wick­lung und der enga­gier­ten Zi­vilgesellschaft dahin­ter war und ist die EU.

Seit 2019 ist die Mit­glied­schaft in der EU ein in der Ver­fas­sung des Landes ver­an­ker­tes Staats­ziel. Das Ziel der EU-Mit­glied­schaft hat Agrar‑, Justiz‑, Fi­nanz- und Pri­va­ti­sie­rungs­re­for­men ebenso ange­sto­ßen wie die Ver­fas­sungs­än­de­rung zur Dezen­tra­li­sie­rung, mit der die demo­kra­ti­sche Selbst­ver­wal­tung der Regio­nen massiv gestärkt wurde. 

Genau wie in vielen Ländern der EU bleibt zwar auch in der Ukraine die Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung eine enorme Her­aus­for­de­rung. Das ukrai­ni­sche Hohe Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richt und Anti­kor­rup­ti­ons­büro geben jedoch Anlass zur Hoff­nung, die bestehen­den Beharrungs­kräfte lang­fris­tig über­win­den zu können.

Der rus­si­sche Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen die euro­päi­sche Inte­gra­tion des Landes und damit mit­tel­bar gegen unsere Wer­te­ge­mein­schaft. In Aner­ken­nung dieser Tat­sa­che hat die EU prä­ze­denz­lose Sank­tio­nen beschlos­sen und sich an die Seite der Ukraine gestellt. Auch die Ver­ein­ba­run­gen zu ste­ti­gen Waf­fen­lie­fe­run­gen sind Aus­druck unserer Soli­da­ri­tät. Damit er­füllt die EU schon heute einen Teil der Ver­pflich­tun­gen aus der viel dis­ku­tier­ten EU-Bei­stands­klau­sel. Und dennoch braucht es mehr, als das Selbst­ver­tei­di­gungs­recht der Ukraine zu bekräftigen.

Es braucht eine Per­spek­tive für die freie, demo­kra­ti­sche Ukraine. Und wieder stellt sich die Frage, wer auf diesem Kon­ti­nent eine solche Per­spek­tive geben kann, wenn nicht die Euro­päi­sche Union: Es braucht das poli­ti­sche Signal der EU für eine klare Beitrittsperspek­tive der Ukraine. 

Diese Per­spek­tive be­ginnt mit einem Kan­di­da­ten­sta­tus und einem glaub­wür­di­gen Verhandlungs­prozess. Nur wer Putin einen erneu­ten Etap­pen­sieg gönnen will, versagt der Ukraine den EU-Kan­di­da­ten­sta­tus. Auf dem Weg zur Voll­mit­glied­schaft gilt es dabei auch die OSZE und den Euro­pa­rat als zen­trale Insti­tu­tio­nen der europä­ischen Frie­dens­ord­nung zu stärken.

Viele Vor­aus­set­zun­gen für den ukrai­ni­schen EU-Bei­tritt werden heute noch nicht erfüllt, und die Zer­stö­rung des Krieges erhöht die bestehen­den Ein­tritts­bar­rie­ren. Doch der Kan­di­da­ten­sta­tus würde ver­schie­dene poli­tische Funk­tio­nen erfül­len: Er ver­deut­licht dem Kreml den ein­deu­ti­gen Pfad der Ukraine. Er wird dazu bei­tra­gen, die immensen Kosten der Zer­stö­rung und des Wie­der­auf­baus zu stemmen. Denn vor allem die schritt­weise Inte­gration in den EU-Bin­nen­markt wird der Ukraine lang­fris­tig wieder auf die Füße helfen. Der Zugang zum Bin­nen­markt und die Aus­sicht auf EU-Mit­glied­schaft sind die Wachstumsim­pulse, die die Ukraine brau­chen wird. Letzt­lich schafft der Status die drin­gend not­wen­dige Inves­ti­ti­ons­si­cher­heit. Niemand würde in ein Land in­vestieren und es wieder auf­bauen, dessen Zukunft unge­wiss bleibt. Und ne­ben der Ukraine pro­fi­tiert auch die EU, zum Bei­spiel um die Lücken rus­si­scher Ener­gie­im­porte zu füllen.

Wenn wir aner­ken­nen, dass sich der Krieg auch gegen die EU-Inte­gra­tion richtet, wird deut­lich, dass der Kan­di­da­ten­sta­tus im stra­te­gi­schen Inter­esse der EU liegt. 

Das sollten sich die Haupt­städte ver­ge­gen­wär­ti­gen, wenn Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin von der Leyen eine Emp­feh­lung über den Kan­didatenstatus aus­spricht. Selen­skyjs Wunsch nach einem schnellstmög­lichen Bei­tritt unter­streicht dabei vor allem den Willen seiner Lands­leute, den Weg der kon­ti­nu­ier­li­chen Her­an­füh­rung trotz des Krieges wei­ter­zu­ge­hen. Niemand wünscht sich einen rabat­tier­ten Bei­tritt, im Gegen­teil – die Ukrai­ner gründen ihren Stolz darauf, sich die EU-Mit­glied­schaft zu ver­die­nen. Dass hier kein Spa­zier­gang wartet, ist allen bewusst. Der Kan­di­da­ten­sta­tus muss daher auch Ver­pflich­tung der EU zu einer enga­gier­ten Beglei­tung eines lang­wie­ri­gen Pro­zes­ses sein.

Dieser Artikel erschien zunächst bei der Frank­fur­ter All­ge­meine Zeitung.

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Portrait von Robin Wagener

Robin Wagener ist euro­pa­po­li­ti­scher Spre­cher der Bun­des­tags­frak­tion Bündnis 90/​Die Grünen und Vor­sit­zen­der der deutsch-ukrai­ni­schen Parlamentariergruppe.

 

 

 

 

 

 

 

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