Die beiden Nord Stream-Pro­jekte und die soge­nannte Ukraine-Krise

Gas­mess­sta­tion „Uzhgo­rod“ © gudak /​ Shut­ter­stock

Der euro­päi­sche Gas­markt ist nicht nur ein wirt­schaft­li­ches, sondern vor allem ein geo­po­li­ti­sches Projekt. Die Ukraine war dabei schon immer als Tran­sit­land von Russ­land in den Westen. Doch die rus­si­sche Abhän­gig­keit von der Ukraine als Tran­sit­land ist dem Kreml ein Dorn im Auge, wes­we­gen die Nord Stream-Pro­jekte ent­wi­ckelt wurden. Vor allem seit 2014 drängt der Kreml den Westen auf den Bau der zweiten Pipe­line. Von Andreas Umland

Die welt­wei­ten Rück­wir­kun­gen der Corona-Pan­de­mie werden offen­bar nicht nur öko­no­mi­scher Art sein, sondern auch eine sicher­heits­po­li­ti­sche Dimen­sion haben. Zu befürch­ten ist ins­be­son­dere, dass fragile Staaten, schwe­lende Kon­flikt und insta­bile Ver­ein­ba­run­gen wieder in Bewe­gung geraten und ohnehin ange­spannte Situa­tio­nen neu­er­lich eska­lie­ren. Die gilt etwa für Länder in geo­po­li­ti­schen Grau­zo­nen, die nur gering durch inter­na­tio­nale Orga­ni­sa­tio­nen struk­tu­riert sind. In Europa betrifft dies in erster Linie die Ukraine.

Die rus­sisch-ukrai­ni­schen Inter­de­pen­denz bis 2012

Ein grund­le­gen­der Bestim­mungs­fak­tor der geo­öko­no­mi­schen Situa­tion der Ukraine bestand bis kurz vor der Euro­mai­dan-Revo­lu­tion von 2014 darin, dass sie sich auf­grund ihres großen Gas­lei­tungs­sys­tems in einem gegen­sei­ti­gen Abhän­gig­keits­ver­hält­nis mit dem Ener­gie­ex­por­teur Russ­land befand. Ein großer Teil des aus Russ­land kom­men­den west­si­bi­ri­schen und zen­tral­asia­ti­schen Erd­ga­ses für die EU floss bis 2011–2012 durch die Ukraine. Die hohen jähr­li­chen Ein­nah­men des staat­li­chen Groß­kon­zerns Gazprom aus den gewal­ti­gen Gas­ex­por­ten nach Europa waren und sind für die rus­si­sche Wirt­schaft sys­tem­tra­gend. Sie funk­tio­nier­ten damit vor Inbe­trieb­nahme der Nord Stream-Leitung als eine Art Ver­si­che­rung für Kyjiw.

Auch pro­fi­tierte die Ukraine – und pro­fi­tiert heute noch, wenn auch in deut­lich gerin­ge­rem Ausmaß – von den jähr­li­chen mehr oder minder hohen Tran­sit­ge­büh­ren für die Wei­ter­lei­tung west­si­bi­ri­schen und zen­tral­asia­ti­schen Gases durch ihr Land.

Wich­ti­ger noch als der finan­zi­elle Aspekt war die hohe geo­öko­no­mi­sche Hebel­kraft gegen­über Moskau, über welche die Ukraine bis 2011–2012 durch ihre Kon­trolle eines Groß­teils der rus­si­schen Gas­ex­porte verfügte. 

Kyjiw hätte sei­ner­zeit mit einem Hand­schlag über die Hälfte der rus­si­schen Erd­gas­aus­fuh­ren in die EU unter­bin­den können.

Diese Inter­de­pen­denz Kyjiws und Moskaus ver­min­derte sich bereits durch die Inbe­trieb­nahme des ersten Strangs der Nord Stream-Ost­see­pipe­line im Sep­tem­ber 2011. Sie sank noch­mals nach der fei­er­li­chen Eröff­nung des zweiten Nord Stream-Strangs im Oktober 2012. Eine dritte Reduk­tion rus­sisch-ukrai­ni­scher Inter­de­pen­denz durch die Inbe­trieb­nahme der Nord Stream 2‑Pipeline würde das ukrai­ni­sche Lei­tungs­sys­tem für den EU-Russ­land-Gas­han­del poten­ti­ell über­flüs­sig machen. Dies wäre eine schwer­wie­gen­dere geo­po­li­ti­sche Folge dieses Pro­jek­tes, als der häufig zitierte Ein­nah­me­ver­lust, den die Ukraine durch weitere Umlei­tun­gen rus­si­schen Erd­ga­ses in die neue Ost­see­lei­tung erlei­den würde.

Lücken in der west­li­chen Ostwirtschaftsanalyse

Nicht selten sind öffent­li­che Dar­stel­lun­gen dieser kom­pli­zier­ten Situa­tion nicht nur bei den rus­si­schen Pro­pa­gan­da­in­stru­men­ten, wie Russia Today oder Sputnik, sondern auch in den Mas­sen­me­dien, ja teils bei Exper­ten­de­bat­ten in der EU ent­stel­lend. So sind in die publi­zier­ten Beträge der bis­he­ri­gen und künf­ti­gen rus­si­schen Zah­lun­gen für den Gas­trans­port durch die Ukraine und die zu erwar­ten­den finan­zi­el­len Ein­bu­ßen Kyjiws auf­grund einer Reduk­tion des Gas­tran­sits durch Nord Stream 2 als solche irre­füh­rend. Oft werden die ukrai­ni­schen Ein­nah­men aus der Wei­ter­lei­tung rus­si­schen Erd­ga­ses nicht den signi­fi­kan­ten Kosten Kyjiws für die tech­ni­sche Sicher­stel­lung der Trans­port­leis­tung gegenübergestellt.

Die ukrai­ni­schen Aus­ga­ben für die Auf­recht­erhal­tung des exis­tie­ren­den Land­lei­tungs­sys­tems werden darüber hinaus meist unvoll­stän­dig mit den öko­no­mi­schen und öko­lo­gi­schen Gesamt­kos­ten für den Bau und Unter­halt der unter Wasser lie­gen­den Nord Stream-Pro­jekte sowie ihrer inner­rus­si­schen Zulie­fer­in­fra­struk­tur verglichen. 

Diese Unter­las­sun­gen erzeu­gen ein schrä­ges Bild von den Gewin­nern und Ver­lie­rern der beiden kost­spie­li­gen Ost­see­lei­tun­gen. Sowohl der Gaz­prom­kon­zern als auch euro­päi­sche Gas­kon­su­men­ten erschei­nen manch­mal als Geiseln einer ukrai­ni­schen Abzocke für eine andern­orts angeb­lich weit bil­li­ger zu habende Pumpleistung.

Seit mehr als einem Jahr­zehnt zir­ku­liert unter west­eu­ro­päi­schen Befür­wor­tern der Nord Stream-Pro­jekte die Insi­der­infor­ma­tion, dass das von der UdSSR geerbte ukrai­ni­sche Lei­tungs­netz kurz vor dem phy­si­schen Kollaps stehe. Diese schein­bar plau­si­ble Beur­tei­lung post­so­wje­ti­scher Indus­trie­ka­pa­zi­tät wird aller­dings mit jedem Jahr mehr oder minder zuver­läs­si­gen Gas­tran­sits durch die Ukraine fragwürdiger.

Glaubt man in Brüssel, Berlin, Wien und anderen west­eu­ro­päi­schen Haupt­städ­ten seit Jahren kur­sie­ren­der Bin­sen­weis­hei­ten, hätte der Über­land­trans­port rus­si­schen Erd­ga­ses auf­grund des angeb­lich hochma­ro­den ukrai­ni­schen Lei­tungs­sys­tems längst ein­bre­chen bezie­hungs­weise gar zum Erlie­gen kommen müssen. 

Weit­ge­hend unbe­rück­sich­tigt bleibt in der west­li­chen Medien- und Exper­ten­de­batte die Frage, welche sozia­len Folgen die Inbe­trieb­nahme der Nord Stream 2‑Pipeline und eine etwaige Ein­stel­lung jeg­li­chen Tran­sits rus­si­schen Erd­ga­ses durch die Ukraine in die EU hätte. Unter ost­eu­ro­päi­schen Ener­gie­spe­zia­lis­ten wird dis­ku­tiert, ob und wie die Gas­ver­sor­gung inner­halb der Ukraine für die Bevöl­ke­rung in diesem Fall gesi­chert werden kann.

Was pas­siert, sollte der bislang durch die rus­si­sche Gas­ein­spei­sung erzeugte Druck im ukrai­ni­schen Gesamt­lei­tungs­sys­tem ent­fal­len? Derzeit scheint offen zu sein, wie der Ener­gie­trans­port inner­halb der Ukraine tech­nisch zu bewerk­stel­li­gen ist, sollte das jetzige Lei­tungs­netz keine Tran­sit­funk­tion mehr haben. Das in den sieb­zi­ger Jahren für eine gleich­zei­tig externe und interne Nutzung gebaute Pipe­line­sys­tem ist womög­lich nicht voll betriebs­fä­hig, wenn es nur noch für seine sekun­däre Aufgabe, die Gas­ver­sor­gung ukrai­ni­scher Abneh­mer, not­wen­dig wäre.

Igno­rierte Lehren aus der Geschichte

Der 12-jährige „Röh­ren­kre­dit I“ Bonns für Moskau vom Jahr 1970 stellte das bis dahin das größte deutsch-sowje­ti­sche Finanz­ge­schäft dar. Das 2005 initi­ierte erste Nord Stream-Projekt war das bis dahin größte Infra­struk­tur­vor­ha­ben Europas. Beide Abkom­men haben zur Annä­he­rung von Deut­schen und Russen bei­getra­gen. Sie haben für mehr Ener­gie­si­cher­heit in West­eu­ropa und sozio­öko­no­mi­sche Ent­wick­lung in der UdSSR bezie­hungs­weise Russ­land gesorgt.

Weder der eine noch der andere Pipe­line­deal konnte jedoch den jeweils neun Jahre später erfol­gen­den Trup­pen­ein­marsch Moskaus in einem Nach­bar­land 1979 und 2014 sowie die dar­auf­fol­gen­den tiefen Zer­würf­nisse des Kremls mit dem Westen verhindern.

Tra­gi­ko­mi­scher­weise war es aus­ge­rech­net die ver­flech­tungs­för­dernde Frie­dens­macht Deutsch­land, die seit Unter­zeich­nung des ersten Nord Stream-Ver­trags 2005 eine zen­trale Rolle bei der Auf­wei­chung der rus­sisch-ukrai­ni­schen öko­no­mi­schen Inter­de­pen­denz gespielt hat. 

Mit dem Nord Stream-2-Projekt schickt Berlin sich derzeit gerade an, diesen Sack end­gül­tig zuzu­ma­chen. In Zeiten sin­ken­den inter­na­tio­na­len Ener­gie­be­darfs und wach­sen­der poli­ti­scher Fra­gi­li­tät ist das von Anfang an frag­wür­dige Nord Stream-Projekt dubio­ser denn je geworden.

Eine aus­führ­li­che Dar­stel­lung dieses Sach­ver­halts erscheint dem­nächst in „Sirius: Zeit­schrift für Stra­te­gi­sche Ana­ly­sen“.

Textende

Portrait von Andreas Umland

Dr. Andreas Umland ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Stock­hol­mer Zentrum für Ost­eu­ro­pa­stu­dien (SCEEUS) und Senior Expert am Ukrai­nian Insti­tute for the Future in Kyjiw. 

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