Die Coronakrise belegt einmal mehr, was die Ukraine bereits wusste: Die jetzige UNO funktioniert nicht
Bereits zu Beginn des Donbas-Krieges zeigte sich, dass etablierte internationale Organisationen wie die UNO unwirksam sind, um den seit sechs Jahren andauernden Krieg zwischen der Ukraine und Russland zu beenden. 2020 steht ganz im Zeichen einer weltweiten Pandemie. Doch versagt hier die Organisation, die eigentlich gegründet wurde, um die Interaktion zwischen den Nationen der Welt zu ordnen? Von Pavlo Klimkin und Andreas Umland
Die COVID-19-Pandemie ist noch in vollem Gange, aber die Aufmerksamkeit einiger Beobachter richtet sich bereits auf das veränderte internationale Umfeld, das wir in der Post-Corona-Welt antreffen werden. Ganze Länder befinden sich im Lockdown – mit weitreichenden ökonomischen und sozialen Nachwirkungen. So werden schon Vergleiche mit den geopolitischen Konsequenzen großer Kriege gezogen. Mehr und mehr Kommentatoren erwarten geradezu historische Auswirkungen der Krise auf Politik und Gesellschaft.
Ein prominentes Thema ist die nun offensichtlich gewordene Notwendigkeit, die bisherige Struktur der internationalen Beziehungen zu überdenken. Viele Beobachter sind zunehmend kritisch gegenüber dem Verhalten der Vereinten Nationen beim Ausbruch des Coronavirus. Manche sehen die verspäteten Reaktion der Weltgesundheitsorganisation als vernichtendes Urteil für die gesamte UNO-Struktur, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel gegründet wurde, die Zusammenarbeit der Nationen der Welt zu ordnen. Derlei Zweifel am heutigen Weltsystem sind freilich in der Ukraine nichts neues, wo man bereits seit 2014 intensiv darüber diskutiert, warum die UNO nicht ihre primären Zwecke erfüllt. Wird die Coronakrise jetzt zu einer ernsthaften Debatte über eine grundlegende Reform der Vereinten Nationen führen?
Die Rolle der UNO beim Donbas-Krieg
Als die Aggression Russlands gegen die Ukraine vor sechs Jahren begann, wurde schnell klar, dass die existierenden internationalen Institutionen hier unwirksam sind. Die Ukrainer*innen fanden sich in der absurden Situation wieder, mit einem Aggressor konfrontiert zu sein, der als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat seine exklusive Position und Vetomacht dazu nutzte, eine offizielle Anerkennung der Tatsache, dass es überhaupt zu einer militärischen Aggression gekommen war, zu verhindern. Paradoxerweise verhinderte ein Teil der UN-Charta die Umsetzung eines anderen Teils. Durch seine bloße Existenz legitimiert heute der Sicherheitsrat, das wichtigste Entscheidungsorgan der Vereinten Nationen, die gewaltsame territoriale Expansion eines seiner ständigen Mitglieder auf Kosten eines anderen UN-Mitgliedstaates. Diese Praxis führt zu einer Unterminierung eines zentralen Beweggrunds für die Schaffung der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg: weitere Aggressionskriege zu verhindern.
Trotz der offensichtlichen Ungerechtigkeit dieser Sachlage, gab es bislang nicht viel, was die Ukraine dagegen praktisch unternehmen konnte, außer die russische Aggression so gut es geht vor Ort abzuwehren sowie um internationale Solidarität und Unterstützung zu werben. Zwar half der Fall der Ukraine, eine Diskussion über eine Reform des UN-Sicherheitsrates anzuregen. Es wurden Arbeitsgruppen gegründet und einige neue Konzepte erarbeitet. Doch lief die Debatte letztlich ins Leere.
Das Reformversagen ließ sich auf die Tatsache zurückführen, dass die führenden Nationen der Welt bisher keinen ausreichenden Bedarf für einen Neustart des existierenden internationalen Systems sahen. Russland bemüht sich sogar, trotz seines Ausschluss aus der Gruppe der führenden Industrienationen, die von der G8 wieder zur G7 wurde, seine besonderen Kontakte mit den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates einzusetzen. Der Kreml versuchte, eine Diskussion des Schicksals der Ukraine in Abwesenheit ukrainischer Vertreter*innen durchzuführen und dafür die Eigentümlichkeiten der UN-Struktur zu nutzen.
Die aktuelle Pandemie stellt nun die bisherigen internationalen Beziehungen in einer Art infrage, dass ein Reset der Vereinten Nationen zum ersten Mal seit einer Generation realistisch erscheint. Tatsächlich ähnelt die derzeitige globale Stimmung teils der weltweiten Atmosphäre am Ende der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die 1918 zur Gründung des Völkerbundes und 1945 zur Gründung der Vereinten Nationen führten. In diesem neuen Umfeld hat die Ukraine womöglich die Chance, gleichgesinnte Verbündete zu finden, die ebenfalls an einer Transformation der Vereinten Nationen interessiert sind.
Es steht freilich zu erwarten, dass derartige Vorschläge weiterhin auf erheblichen Widerstand stoßen. Doch falls es auch in Zukunft nicht möglich wird, in der UNO mit solch einschneidenden Ereignissen wie der Coronakrise oder russischen Aggression gegenüber der Ukraine umzugehen, könnte dies die Legitimität des aktuellen UN-Systems allmählich untergraben. Die Vereinten Nationen könnten zunehmend irrelevant werden, wenn es um die großen Herausforderungen der Menschheit geht. Ähnlich wie ihr Vorgänger, der Völkerbund, könnte auch die UNO in die Überflüssigkeit abrutschten und wäre dann in ihrer Existenz bedroht.
Muss sich die UNO radikal verändern?
Über Veränderungen zu sprechen ist freilich bei den Vereinten Nationen nicht grundsätzlich tabu. Der aktuelle, reformorientierte UN-Generalsekretär António Guterres hat eine weitreichende Diskussion zu diesem Thema angestoßen. Dennoch war Guterres bisher nicht in der Lage, auch nur einige der substanziellen Veränderungen umzusetzen, die er geplant hatte, als er im Januar 2017 sein Amt antrat. Das bedeutet womöglich, dass die Chance für eine schrittweise Reform des UN-Systems schon vertan ist. Stattdessen wird in einer Zeit, in der mit jeder weiteren Woche des Corona-Schocks das Vertrauen in die derzeitigen institutionellen Strukturen rapide abnimmt, die Aussicht auf radikale Veränderung realistischer.
Vor einem solchen Neustart müsste das gesamte UN-System sorgfältig neu bewertet werden. Idealerweise würde das durch einen externen und unabhängigen Auditor erfolgen. Den offensichtlichsten Reformbedarf hat die Weltgesundheitsorganisation, die daran gescheitert ist, gemäß ihrer Verpflichtung eine rechtzeitige und angemessene Vorwarnung hinsichtlich der derzeitigen Pandemie zu kommunizieren. Eine frühere und entschiedenere Reaktion der WHO hätte eventuell zehntausende von Leben retten und den wirtschaftlichen Kollaps, vor dem nun der gesamte Planet steht, verhindern können.
Im Raum steht insbesondere die Frage zur Beziehung der WHO zu China sowie der offensichtliche Unwille dieser VN-Unterorganisation, seine Beziehungen mit Beijing zu belasten. Internationale Institutionen, die nicht auf der Basis einer unparteiischen Analyse handeln können, sind zur Wirkungslosigkeit verdammt. Die Ukraine hat diese schmerzliche Lektion 2014 gelernt. Dieser simple Sachverhalt wird nun auch für ein wachsendes internationales Publikum offensichtlicher.
Bleibt die Frage, wer am besten geeignet wäre, die Initiative, Formulierung und Implementierung einer globalen Lösung für die Probleme des bestehenden internationalen Systems zu übernehmen. Während der zwei vorangegangenen wegweisenden Zeitabschnitte nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg übernahmen die siegreichen Alliierten diese Führungsrolle. Unter den heutigen Umständen gibt es jedoch keinen eindeutigen Kandidaten, der einen umfassenden Neustart initiieren oder durchsetzen könnte.
Daher sollte die Ukraine zunächst darauf abzielen, sich mit anderen Staaten zusammenzuschließen, die ebenfalls eine grundlegende Neugestaltung des UN-Systems unterstützen. Das Ziel einer solchen Koalition sollte darin bestehen, die Frage eines Resets der Vereinten Nationen auf die Agenda von Diplomat*innen, Politiker*innen und Journalist*innen zu setzen. Die Coronakrise exponiert die Schwächen der heutigen internationalen Institutionen, kann aber auch den Weg für eine längst überfällige Umgestaltung freimachen.
Pavlo Klimkin war von 2014 bis 2019 der Außenminister der Ukraine und ist Leiter des Programms für Europa‑, Regional- und Russlandstudien am Ukrainischen Institut für die Zukunft in Kyjiw.
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