Nord Stream II – die Problempipeline?

©shut­ter­stock

Während die Bau­ar­bei­ten vor­an­ge­hen, nimmt die Debatte um die umstrit­tene Nord Stream II-Pipe­line an Fahrt auf. Für die Ukraine hat das Projekt gra­vie­rende öko­no­mi­sche und poli­ti­sche Konsequenzen.

Die EU impor­tiert 69 Prozent ihres Erd­gas­be­darfs, wobei bis zu 40 Prozent dieser Importe aus Russ­land kommen. Dabei ist das ukrai­ni­sche Pipe­line­sys­tem von ent­schei­den­der Bedeu­tung für den Trans­port, denn mehr als 45 Prozent des rus­si­schen Gases – und damit bis zu 17 Prozent der EU-Gas­nach­frage – werden über ukrai­ni­sche Pipe­lines in die EU eingeführt.

Wenn die Gas­pro­duk­tion inner­halb der EU zurück­geht, während der EU-Ver­brauch stabil bleibt, wird das Thema Gasim­port in Zukunft an Bedeu­tung gewin­nen. Ent­spre­chend stehen Ver­sor­gungs­si­cher­heit und Diver­si­fi­zie­rung auf der ener­gie­po­li­ti­schen Agenda der EU wei­ter­hin hoch oben – es soll ver­hin­dert werden, dass ein­zelne Export­län­der die EU aus einer domi­nan­ten Posi­tion heraus zu wirt­schaft­li­chen oder poli­ti­schen Zuge­ständ­nis­sen zwingen können.

EU will Ener­gie­un­ab­hän­gig­keit und ‑sicher­heit stärken...

In letzter Zeit hat die EU viel getan, um ihre Ener­gie­un­ab­hän­gig­keit zu stärken und die Infra­struk­tur weiter zu ent­wi­ckeln. Die bereits exis­tie­ren­den und die geplan­ten Import­ka­pa­zi­tä­ten für Flüs­sig­erd­gas decken mehr als 50 Prozent ihrer der­zei­ti­gen Gas­nach­frage ab (der EU-Ver­brauch lag 2016 bei 428,8 Mil­li­ar­den Kubik­me­ter, die Flüs­sig­gas­ka­pa­zi­tä­ten betra­gen 223 Mil­li­ar­den Kubik­me­ter), vier vor­ran­gige Gas­kor­ri­dore ermög­li­chen in Zukunft nahezu unbe­schränkte Gas­trans­porte zwi­schen ihren Mit­glieds­staa­ten und der Schub in Rich­tung höhere Ener­gie­ef­fi­zi­enz und erneu­er­bare Ener­gien wird die Abhän­gig­keit vom Import fos­si­ler Ener­gie­trä­ger verringern.

Die neue Ver­ord­nung zur Gas­ver­sor­gungs­si­cher­heit sieht den Grund­satz der Soli­da­ri­tät vor, der eine Unter­bre­chung der Gas­ver­sor­gung der­je­ni­gen Ver­brau­cher ver­hin­dern soll, die dadurch am emp­find­lichs­ten getrof­fen würden. Außer­dem soll die Schaf­fung der Ener­gie­union zur Ent­wick­lung einer trag­fä­hi­gen Ener­gie­au­ßen­po­li­tik der EU bei­tra­gen. Stra­te­gisch betrach­tet muss die EU eine Diver­si­fi­zie­rung ihrer Gas­ver­sor­gung und mehr Ener­gie­si­cher­heit anstreben.

...während Russ­land seine füh­rende Rolle aus­bauen will

Unter­des­sen ver­sucht Russ­land, seine bedeu­tende Rolle für die Gas­ver­sor­gung der EU auf­recht­zu­er­hal­ten. Obwohl die Preise auf dem EU-Gas­markt von 2013 bis 2017 gestie­gen sind, ver­folgt Gazprom die Stra­te­gie, wei­ter­hin große Mengen Gas an die EU und die Türkei zu expor­tie­ren – die Menge des dorthin expor­tier­ten Gases stieg von 158,6 Mil­li­ar­den Kubik­me­tern im Jahr 2015 auf 193,9 Mil­li­ar­den Kubik­me­ter im Jahr 2017, wobei die an Deutsch­land gelie­ferte Gas­menge den Rekord­wert von 53,4 Mil­li­ar­den Kubik­me­tern erreichte. Der Anteil des rus­si­schen Gases am EU-Import wächst also weiter – eine Ent­wick­lung, die der Idee der Diver­si­fi­zie­rung zuwi­der­läuft. Beson­ders gilt das für Deutsch­land, das bereits jetzt mehr als die Hälfte seines Gases aus Russ­land bezieht. Mit dem Bau von Nord Stream II könnte sich die Abhän­gig­keit Deutsch­lands auf 60 bis 70 Prozent erhöhen – eine große Her­aus­for­de­rung für die Ener­gie­si­cher­heit. Für die EU ist es wichtig, ein aus­ge­wo­ge­nes Ver­hält­nis zwi­schen ihren Gas­lie­fe­ran­ten sicher­zu­stel­len und Situa­tio­nen zu ver­hin­dern, in denen einer von ihnen „wich­ti­ger” als die anderen wird.

Russ­land hat eine Reihe von Gas­ver­sor­gungs­rou­ten in die EU gebaut und plant den Bau wei­te­rer solcher Stre­cken. Fak­tisch werden diese zusätz­li­chen Kapa­zi­tä­ten jedoch nicht gebraucht, denn schon jetzt arbei­ten nicht alle exis­tie­ren­den Routen mit voller Aus­las­tung. Gazprom lastete Nord Stream I 2017 zwar zu über 90 Prozent aus, das ukrai­ni­sche Gas­pipe­line­sys­tem wurde aber nur zu 50 Prozent genutzt. Der Bau nicht benö­tig­ter Routen könnte zum Schüren von Span­nun­gen und Kon­flik­ten unter den Tran­sit­län­dern genutzt werden, um diese zu nied­ri­ge­ren Tran­sit­ge­büh­ren zu bewegen oder – wie es in der Ukraine lange der Fall war – um poli­ti­sche Inter­es­sen durch­zu­set­zen. Russ­land hat seine Stra­te­gie „Gas gegen stra­te­gi­sche poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen” nicht ver­heim­licht – sie tritt etwa in dem Brief offen zutage, den Prä­si­dent Putin an die EU-Ver­ant­wort­li­chen schrieb, als 2014 die Gas­krise zwi­schen Russ­land und der Ukraine ausbrach.

Nord Stream II aus öko­no­mi­scher Perspektive...

Ein Argu­ment für die Unter­stüt­zung von Nord Stream II ist die wirt­schaft­li­che Bedeu­tung, die diese Pipe­line auf­grund gerin­ge­rer Gas­trans­port­kos­ten erlan­gen könnte. Die tat­säch­li­chen Bau­kos­ten für Nord Stream II sind jedoch unbe­kannt – 2016 wurden sie mit acht Mil­li­ar­den US-Dollar ver­an­schlagt, 2017 stiegen sie auf 9,5 Mil­li­ar­den Euro. Durch ein vom däni­schen Par­la­ment im Dezem­ber 2017 ver­ab­schie­de­tes neues Gesetz werden sie wahr­schein­lich weiter steigen. Zudem zeigt eine Analyse des Regio­nal Centre for Energy Policy Rese­arch aus Ungarn, dass Nord Stream II weitere Infra­struk­tur­in­ves­ti­tio­nen der EU von bis zu einer Mil­li­arde Euro erfor­der­lich machen wird und dass die Gas­preise in Ost- und Süd­eu­ropa unter dem Ein­fluss von Nord Stream II steigen werden. Für die Ukraine sind die wirt­schaft­li­chen Ver­luste sehr deut­lich: Sie werden bei bis zu zwei Mil­li­ar­den US-Dollar für Gas­tran­sit liegen. Die Ukraine und die EU zusam­men würde Nord Stream II also drei Mil­li­ar­den Euro zusätz­lich kosten.

... und als Sicher­heits­ri­siko für die Ukraine

Durch die neue Nord Stream II-Pipe­line könnten für die Ukraine neben dem Thema Ener­gie­si­cher­heit auch Fragen der natio­na­len Sicher­heit rele­vant werden. Momen­tan ist die Ukraine eines der wich­tigs­ten Gas­tran­sit­län­der für die EU – wobei die EU die Sta­bi­li­tät des Gas­trans­ports über das ukrai­ni­sche Ter­ri­to­rium sehr genau im Blick hat. Jeg­li­che poten­zi­elle Gefähr­dung der Sicher­heit dieser Trans­porte, dar­un­ter auch bewaff­nete Inter­ven­tio­nen, würde mit hoher Wahr­schein­lich­keit zu einer unver­züg­li­chen Reak­tion sämt­li­cher EU-Länder führen, da eine solche Gefähr­dung deren Inter­es­sen und deren Ener­gie­si­cher­heit berüh­ren würde. Für Russ­land ist dieser Umstand eines der Argu­mente für eine mili­tä­ri­sche Zurück­hal­tung – könnte Russ­land für eine Unter­bre­chung der Gas­ver­sor­gung ver­ant­wort­lich gemacht werden, stünde auch seine Repu­ta­tion als zuver­läs­si­ger Lie­fe­rant in Frage. Eine Umge­hung der ukrai­ni­schen Trans­port­rou­ten könnte rus­si­schen Mili­tär­ge­nerä­len dagegen viele Argu­mente für eine Inter­ven­tion in der Ukraine liefern.

Es gibt auch Argu­mente dafür, dass die Ukraine wei­ter­hin eine Tran­sit­route in die EU sein soll. Als Mit­glied der Ener­gie­ge­mein­schaft ist sie auf den gemein­sa­men EU-Ener­gie­markt ein­schließ­lich seiner Regeln und Vor­schrif­ten ver­pflich­tet. Ein Part­ner­land zu haben, das auf Grund­lage der­sel­ben Regeln wie die EU arbei­tet, ist siche­rer als die Koope­ra­tion mit einem Partner, der sowohl über Ver­sor­gungs- als auch über Trans­port­funk­tio­nen verfügt und nicht einmal die Ener­gie­charta ver­ab­schie­det hat.

Nord Stream II löst keine Pro­bleme sondern schafft sie

Die Ukraine hat bereits Fort­schritte bei der Reform ihres Gas­markts vor­zu­wei­sen – das Dritte Ener­gie­pa­ket ein­schließ­lich des neuen Geset­zes über den Gas­markt wurde ver­ab­schie­det, woraus sich neue Mög­lich­kei­ten zur Markt­li­be­ra­li­sie­rung ergeben. EU-Gas­han­dels­un­ter­neh­men sind jetzt auf dem ukrai­ni­schen Gas­markt präsent. Außer­dem wird die Ukraine nun in einem neuen jähr­li­chen Bericht des Ver­bands der euro­päi­schen Ener­gie­händ­ler berück­sich­tigt, in dem ihre Posi­tion unter den 20 wich­tigs­ten Gasum­schlags­plät­zen ange­ge­ben wird. Mit der Auf­tei­lung der Funk­tio­nen des Netz­be­trei­bers GTS und der Eta­blie­rung einer unab­hän­gi­gen Auf­sichts­be­hörde hat der Prozess der Ent­flech­tung begon­nen. Den gel­ten­den Markt­me­cha­nis­men ent­spre­chend wurden die Preise für alle Ver­brau­cher ange­ho­ben. Laut Ener­gie­ge­mein­schaft gehört die Ukraine zu den Ländern, die die Gas­markt­re­form am erfolg­reichs­ten umge­setzt haben. Es gibt noch immer einige Hin­der­nisse, die die Reform in Zukunft besei­ti­gen sollte – obwohl Naf­to­gaz vor dem Stock­hol­mer Schieds­ge­richt den Sieg über den rus­si­schen Konzern Gazprom davon­ge­tra­gen hat. Zur Voll­endung der Reform muss die Ukraine ihren Ein­fuhr­punkt an ihre öst­li­che Grenze ver­la­gern. Der juris­ti­sche Sieg im Gas­streit sollte sich nicht auf dem Papier, sondern im wirk­li­chen Leben fort­set­zen. Hierfür ist die Unter­stüt­zung der EU-Länder wichtig.

Der Bau von Nord Stream II ist nicht nur über­flüs­sig – er löst keine Pro­bleme, sondern schafft statt­des­sen welche. Die EU-Ver­brau­cher müssen mehr für den Gas­trans­port zahlen und die Ver­brau­cher in Ost­eu­ropa mög­li­cher­weise mehr für Gas; wenn Russ­land seine Vor­macht­stel­lung als Gas­lie­fe­rant für poli­ti­sche Inter­es­sen ein­setzt, werden die Span­nun­gen zwi­schen den Trans­port­län­dern inner­halb der EU zuneh­men. Außer­dem könnten die Sicher­heits­fra­gen an den öst­li­chen Außen­gren­zen der EU im Fall einer Eska­la­tion des Kon­flikts zwi­schen Russ­land und der Ukraine zusätz­lich an Rele­vanz gewin­nen. Die euro­päi­schen Wähler müssen eine ernste Frage beant­wor­ten: Wollen sie ein solches Sze­na­rio tat­säch­lich zuguns­ten eines wei­te­ren rus­si­schen Pro­jekts in Kauf nehmen?

Unter Mit­ar­beit von Ana­sta­siya Synytsia.


Über­set­zung aus dem Eng­li­schen von Sophie Hellgardt.

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