„Meine Mutter schützte ihren Enkel mit dem eigenen Körper“

Foto: Maxi­mi­lian Clarke /​ Imago Images

Drei­tei­lige Essay­reihe: Augen­zeu­gen­be­richte von jüdi­schen Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­nern nach Beginn der rus­si­schen Inva­sion. Im dritten Teil berich­tet Wadim* von der all­täg­li­chen Lebens­ge­fahr und dem Über­le­ben unter rus­si­scher Besat­zung in Mariupol.

Das Projekt „Exodus-2022 – Jewish Refu­gees of the Russian-Ukrai­­nian War“ sammelt Augen­zeu­gen­be­richte von jüdi­schen Geflüch­te­ten. Stu­die­rende, Rentner, Unter­neh­mer, Künst­ler, Rab­bi­ner – sie alle mussten unter Lebens­ge­fahr ihre Hei­mat­orte ver­las­sen. Pro­jekt­lei­ter Michael Gold hat bereits 150 Men­schen inter­viewt. Für einige von ihnen war es die zweite Flucht in ihrem Leben. Sie haben den Holo­caust über­lebt – jetzt ver­las­sen sie unter Artil­le­rie­be­schuss bela­gerte Städte wie Mariupol.

Wadim*, Unter­neh­mer /​ Inhaber einer Auto­werk­statt, Mariupol

Am 24. Februar um 5:30 Uhr rief mich meine Tochter aus erster Ehe an: „Papa, der Krieg hat begon­nen, wir werden bom­bar­diert!“ Meine Frau und ich schlie­fen noch, neben unserem zehn Monate alten Sohn.

Am fünften Tag der Inva­sion schlos­sen alle Geschäfte, und es began­nen Plün­de­reien und Kämpfe in den Außen­be­zir­ken der Stadt. Anfang März wurden Kom­mu­ni­ka­ti­ons­netz und Strom abge­schal­tet, aber wir waren in einer pri­vi­le­gier­ten Lage. In unserem großen Haus hatte ich gleich am ersten Tag 2,5 Tonnen Wasser und Ben­zin­vor­räte ein­ge­la­gert, mit denen wir einen Gene­ra­tor betrieben.

Meine Mutter schützte ihren Enkel mit dem eigenen Körper

Am 12. März stellte meine Mutter den Kin­der­wa­gen mit dem Kleinen nach draußen. Um etwa 9:30 Uhr traf die erste Granate die Schule gegen­über. Meine Mutter rannte nach draußen, um ihren Enkel rein­zu­ho­len, und in dem Moment traf eine weitere Granate direkt unseren Hof. Sofort flogen alle Türen und 22 Fenster mit ihren Rahmen heraus. Gra­nat­split­ter durch­bohr­ten die Beine meiner Mutter, sie beugte sich über ihren Enkel und schützte ihn mit ihrem Körper. Meinem Sohn war nichts pas­siert. Ich hörte meinen Vater schreien. Wir zogen meine Mutter schnell ins Haus. Ihr Körper wurde ganz schlaff, sie war schwer ver­letzt und verlor viel Blut. Das eine Bein sta­bi­li­sier­ten wir mit dem Kabel eines Rasier­ap­pa­rats, das andere mit einem Gürtel. Ein Split­ter hatte den Knochen durchschlagen.

Die Russen kon­fis­zier­ten auch Notarztwagen

Wir fuhren in die Not­auf­nahme. Dort wurde meine Mutter ver­bun­den, und man sagte uns, es sei ein Wunder, wenn jemand mit so einer Ver­let­zung über­haupt bis zum nächs­ten Morgen durch­hielte. Ich log ihr natür­lich vor, die Ärzte hätten gesagt, alles käme wieder in Ordnung. Ich orga­ni­sierte die Ver­le­gung meiner Mutter in das Kran­ken­haus, das für uns zustän­dig war. Zu dem Zeit­punkt war es bereits von den Russen ein­ge­nom­men worden. Wir trans­por­tier­ten meine Mutter in unserem gra­nat­zer­split­ter­ten Auto – kein Not­arzt­wa­gen war dazu bereit, weil die Russen Autos kon­fis­zier­ten und das medi­zi­ni­sche Per­so­nal als Geisel nahmen.

Im Kran­ken­haus hatten nur der Keller und der Ope­ra­ti­ons­saal Strom. Meine Mutter wurde ope­riert, kam an den Tropf und erhielt ein Anti­bio­ti­kum. „Ope­riert“ – das Wort ist eigent­lich über­trie­ben: Mit einem Faden wurde die Wunde zusam­men­ge­zo­gen, es wurde nichts fixiert. Zu der Zeit fanden Stra­ßen­kämpfe statt, bei uns in der Nähe wurden zwei ukrai­ni­sche Sol­da­ten gefangengenommen.

Kaum Wasser für die Ver­letz­ten im Krankenhaus

Ich ließ das Auto für meinen Vater im Kran­ken­haus und ging zu Fuß nach Hause. Auf dem Weg überall zer­schos­sene Wagen – in einem Auto am Kon­troll­punkt in Rich­tung Wolo­darsk waren zwei Leichen. Die beiden Toten, ein Ehepaar, saßen wahr­schein­lich schon seit einer Woche so da. Pas­san­ten zapften Treib­stoff aus ihrem Wagen, weil die Gene­ra­to­ren laufen mussten und man irgend­wie über­le­ben wollte – wie im Zweiten Welt­krieg, als man den Toten die Kleider auszog.

Am nächs­ten Tag kam mein Vater nach Hause. Er ging danach fast eine Woche lang zu Fuß ins Kran­ken­haus, holte Wasser aus einem Brunnen und brachte es den Pati­en­ten – die Ver­letz­ten starben fast vor Durst. Die Russen brach­ten in dieser Zeit nur einmal Wasser ins Kran­ken­haus, etwa hundert Liter. Und das für fünf Tage. Mein Vater kam nur nach Hause, um Lebens­mit­tel zu holen, und ging wieder. Wir umarm­ten uns, ich wusste nicht, ob ich ihn wie­der­se­hen würde. Viele kehrten nicht zurück.

Bei der Ankunft im Kran­ken­haus verlor meine Mutter das Bewusstsein

Am fünften Tag holten wir meine Mutter nach Hause, und meine Frau und ich ver­ban­den sie. Wir hatten einen Infu­si­ons­stän­der und schlos­sen den Tropf an, aber am nächs­ten Tag wurde ihr Zustand schlech­ter. Wir fuhren ins Kran­ken­haus. Bei unserer Ankunft verlor sie das Bewusstsein.

Meine Mutter kam auf der Inten­siv­sta­tion wieder zu sich – und nach 12 Tagen brachte mein Vater sie auf die Krim. Wir wollten eigent­lich mit ihr nach Sapo­roschje, aber das hätte zwei Tage und zwei Nächte gedau­ert – das hätte sie nicht über­stan­den. Meine Mutter kam nach Dschankoj (auf der Krim, Anmer­kung der Redak­tion). Sie wurde ope­riert, bekam Blut­trans­fu­sio­nen, ihr wurde wirk­lich gehol­fen. Von dort schrieb sie an den Rabbi von Mariu­pol, Men­achem Mendel Cohen, und bat ihn, mich, meine Frau und das Kind aus der Stadt zu holen.

Begeg­nun­gen mit den Besatzern

Einige Male begeg­nete ich Russen. Einmal plün­der­ten sie ein Geschäft. Sie legten die Waren aus dem Laden in Kartons, stell­ten zwei Mus­ter­sol­da­ten auf – mit dunklen Brillen und her­vor­ra­gend geklei­det, solche Sol­da­ten hatte ich zuvor nur in Hol­ly­wood-Filmen gesehen – und ließen das Ganze foto­gra­fie­ren. Die Lebens­mit­tel waren ukrai­ni­sche Erzeug­nisse – aber wen stört das schon, fertig war das Bild.

Am 16. März kamen die Russen zu uns ins Haus: „Wir müssen uns den Hof ansehen!“ Sie kamen rein, gingen nach oben, sahen sich um, sagten „Welch guter Ort zum Schie­ßen“, fragten, ob wir mit den ukrai­ni­schen Streit­kräf­ten in Ver­bin­dung stünden, ob ukrai­ni­sche Sol­da­ten hier seien usw. Als sie wieder gingen, wun­der­ten sie sich darüber, wie es gekom­men sei, dass sie unser Haus und nicht die Milch­fa­brik getrof­fen hätten – die Milch­fa­brik liegt einige Straßen von uns entfernt.

„Der Rabbi hat dir ein Auto geschickt“

Einmal gingen wir zum Haus meiner Schwie­ger­mut­ter – es war voll­stän­dig abge­brannt, das Tor war offen und beschä­digt. Auf dem Rückweg sahen wir ein zer­schos­se­nes Auto – ein Mann und eine Frau saßen vorne, dahin­ter eine alte Frau und viel­leicht ihr Enkel: Leichen, alles Zivi­lis­ten. Hinten Medi­ka­mente, Zahn­pasta, phy­sio­lo­gi­sche Koch­salz­lö­sung in Schach­teln. Zu Hause ange­kom­men legte ich mich hin, aber dann kam meine Frau gelau­fen: „Es ist jemand am Zaun und ruft nach Dir.“ Ich ging raus. „Bist du Wadim, der Auto­me­cha­ni­ker? Rabbi Mendel Cohen hat dir ein Auto geschickt. Ein zweites wird es nicht geben.“

Die Russen hatten einige Tage zuvor in der Schule direkt neben unserem Haus Stel­lung bezogen – sie hatten mit ihren Panzern den Zaun umge­fah­ren und eröff­ne­ten das Feuer direkt vom Schul­hof aus. Gra­nat­wer­fer, Schüt­zen­pan­zer – es war sehr laut, und ich machte mir Sorgen um meinen Sohn. Das machte die Ent­schei­dung leich­ter. Beim Ver­las­sen der Stadt wurden meine Hände genau kon­trol­liert – die sind bei mir voller Schwie­len und schwarz, ich bin doch Auto­me­cha­ni­ker. Das war am 26. März.

Verhöre an den Kontrollposten

Wir wurden nach Mele­kino gebracht. Dort gab es eine Pension, deren Zimmer an Juden ver­mie­te­tet wurden. Einige Tage später kam für uns ein Auto von der Krim. Der Rabbi aus Sewas­to­pol war an der Aktion betei­ligt, auch ein Koor­di­na­tor aus Moskau, viele Leute. Ich kenne unseren Rabbi seit mehr als fünf Jahren. Sogar am Schab­bat hielt er bei unserer Flucht den Kontakt zu uns.

Die Kon­troll­pos­ten – es waren mehr als 50 – pas­sier­ten wir sehr langsam. An jedem mussten wir anhal­ten, aus­stei­gen, Schul­tern, Knie und Hals zeigen. Irgendwo nahmen sie Fin­ger­ab­drü­cke ab, foto­gra­fier­ten das Gesicht von vorne und im Profil, führten Verhöre durch und am Ende hän­dig­ten sie uns einen Papier­fet­zen mit Stempel aus.

Die Grenze zur Krim über­quer­ten wir zu Fuß. Uns wurden Fragen zu unserer Haltung gestellt (vom rus­si­schen Militär, Anmer­kung der Redak­tion): „Was denken Sie, wie es zu dem Ganzen gekom­men ist? Wer steht dahin­ter?“ Sie ließen uns alle Fotos von zer­stör­ten Häusern und tech­ni­schem Gerät löschen. Wenn du nicht die rich­tige Antwort gabst, bohrten sie nach. Mein Telefon hatten sie weg­ge­bracht und dann sagten sie: „Es gibt ein Problem.“ Sie führten mich in ein Zimmer des rus­si­schen Inlands­ge­heim­diens­tes FSB. Ich stand da zwei Stunden lang, dann riefen sie mich und sagen: „Wir wissen alles über dich, auf Wiedersehen.“

Flucht nach Israel

Wir ver­brach­ten einige Tage in Niko­la­jewka, und ich besuchte meine Mutter. Wir brach­ten sie nach Sewas­to­pol ins Kran­ken­haus. Sie ver­ga­ßen dort, ihr etwas zu essen zu geben – sie hatte fast 40 Stunden lang nichts geges­sen. Außer­dem erschien nachts ein Mann vom FSB und ver­hörte sie bis vier Uhr morgens. Zum Schluss ließ man sie ein Papier unter­schrei­ben, dass Neo­na­zis und nicht die rus­si­sche Armee ihr die Ver­let­zun­gen zuge­fügt hätten.

Meine Mutter und noch eine andere bett­lä­ge­rige alte Frau wurden mit dem Ret­tungs­wa­gen nach Mine­ral­nyje Wody (in Süd­russ­land, Anmer­kung der Redak­tion) gebracht, wir fuhren mit dem Bus. Von Mine­ral­nyje Wody flogen wir nach Kasach­stan, dort wurde auf­ge­tankt, und es ging weiter nach Tiflis. Am Freitag, den 15. April lan­de­ten wir endlich in Israel.

Jetzt muss ich mein Leben neu auf­bauen, alle meine bis­he­ri­gen Mühen wurden zunichte gemacht.“

Das Mate­rial wurde von Michael Gold, Leiter des Pro­jekts „Exodus-2022 Project (Jewish Refu­gees of the Russian-Ukrai­­nian War)” erstellt und bear­bei­tet. Michael Gold führte das Inter­view mit Wadim am 18. April 2022. Aus dem Rus­si­schen über­setzt von Dr. Doro­thea Kollenbach.

* Wadim möchte nicht mit vollem Namen genannt werden.

Portrait Gold

Michael Gold ist Chef­re­dak­teur der ukrai­nisch-jüdi­schen Zeitung „Hada­shot“.

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