„Monday Kitchen“: Gemein­schaft und Aus­tausch ukrai­ni­scher Geflüch­te­ter in Berlin

Foto: Eli­sa­beth Bauer

Das „Monday Kitchen“-Kollektiv lädt in Berlin und Umge­bung zu Waren­iki-Abenden ein. Bei der gemein­sa­men Zube­rei­tung des ukrai­ni­schen Natio­nal­ge­richts geht es auch um das kul­tu­relle Erbe der Ukraine und poli­tisch-natio­nale Selbstbestimmung.

In der hell aus­ge­leuch­te­ten Küche stehen etwa 20 junge Leute, über­wie­gend schwarz geklei­det, um einen weißen, langen Tisch, dessen glatte Ober­flä­che von Mehl bedeckt ist. Nach län­ge­rer Pause hat das „Monday Kitchen“-Kollektiv an diesem Tag wieder über den Tele­gram-Kanal und Insta­gram zum Waren­iki-Kochen und ‑Essen ein­ge­la­den. Die gemein­same Zube­rei­tung des iko­ni­schen ukrai­ni­schen Natio­nal­ge­richts bringt beson­ders – aber nicht nur – geflüch­tete Ukrainer:innen und Aktivist:innen zusam­men und ist sym­bo­lisch auf­ge­la­den. Es geht bei den Treffen auch um kul­tu­rel­les Erbe und poli­tisch-natio­nale Selbstbestimmung.

Die Kunst des Wareniki-Formens

An diesem Abend ist „Monday Kitchen“ zum ersten Mal in der Galerie der „Between Bridges Foun­da­tion“ in Berlin-Kreuz­berg zu Gast. Die Stif­tung stellt ukrai­ni­schen Geflüch­te­ten und ihren Mitstreiter:innen die Räum­lich­kei­ten drei Monate lang zur Ver­fü­gung. Die Blicke kon­zen­triert und gesenkt, formen die Gäste mit ihren Händen aus feinem weißem Teig hand­bal­len­große Halb­monde mit wel­li­ger Innenseite.

Mischas Flucht aus Mariupol

Mischa* (22) und Vladik* (28) kommen aus Mariu­pol und bilden zusam­men mit Mitya Chu­ri­kov (37) aus Kyjiw das Kern­team von „Monday Kitchen“. Vladik ist als Tattoo-Künst­ler auch unter seinem Pseud­onym Inter Vladik bekannt, Mitya ist eigent­lich Fil­me­ma­cher, und Mischa schrieb früher Beats für die rus­si­sche Battle-Rap-Szene. Abseits von Mehl, Teig und Töpfen spricht Mischa später am Abend von seinem ver­lo­re­nen Leben nach der rus­si­schen Inva­sion am 24. Februar 2022 und von der Flucht aus Mariupol:

„Der Krieg erwischte uns im Schlaf – als wir von den Sirenen auf­wach­ten. Wir lebten jeden Tag mit dem Wissen, dass es unser letzter sein könnte. So ging das einen Monat lang.

Als dann die ersten Raketen in unserem Haus ein­schlu­gen, packten wir schnell ein paar Sachen und liefen in Rich­tung rus­si­scher Block­pos­ten. Dort check­ten die rus­si­schen Sol­da­ten unsere Papiere und Tattoos, und wir wurden durch­ge­las­sen. Zusam­men mit hun­der­ten Leuten war­te­ten wir draußen darauf, nach Russ­land gekarrt zu werden. Doch das war gar nicht so einfach, denn jeder ‚Befreite’ muss davor die soge­nannte ‚Fil­tra­tion’ über sich ergehen lassen.

So wurden auch meine Freunde und ich mit dem Bus in ver­schie­dene Lager in der ‚Donez­ker Volks­re­pu­blik’ gebracht. Sie nahmen unsere Fin­ger­ab­drü­cke ab, machten Fotos, führten einen sehr genauen Han­dy­check durch und eine münd­li­che und schrift­li­che Befra­gung ‚zur aktu­el­len Situa­tion‘. Wer die rich­ti­gen Dinge sagte, durfte nach Russ­land, und wer nicht – schlimm, sich auch nur vor­zu­stel­len, was dann mit dir passiert. 

Rus­si­sche Staats­pro­pa­ganda für ukrai­ni­sche Geflüchtete

An der Grenze zu Russ­land kam dann ein noch kras­se­res Verhör. Ich setzte mich in einen Zug für Geflüch­tete nach Rjasan, denn dort in der Nähe hatte ich Bekannte. Nach 20 Stunden Fahrt wurden wir von Jour­na­lis­ten mit Kameras emp­fan­gen. Sie berich­te­ten, wie man uns geret­tet habe und jetzt in für uns vor­be­rei­tete Wohn­stät­ten bringen werde. Ein neues Lager, diesmal eine Sport­halle. Im Spei­se­saal stand ein großer Fern­se­her, das rus­si­sche Staats­fern­se­hen berich­tete über die ‚Befrei­ung’ von Mariu­pol und die ‚Fakes von Butscha‘ – es war surreal. 

Endlich in Sicherheit

Schließ­lich konnte ich über Estland nach Berlin aus­rei­sen. Dort ver­stand ich: Ich bin in Sicher­heit. Die Angst vor dem Unbe­kann­ten – nie davor in Europa gewesen zu sein, die Sprache nicht zu spre­chen – ist nicht ver­gleich­bar mit der unun­ter­bro­che­nen Todes­angst, die ich in den Monaten davor erlebt hatte. In Berlin traf ich dann Vladik und wurde so Teil von ‚Monday Kitchen‘ – schon seit dem ersten Treffen bin ich in das Projekt ver­liebt. Ich kann das nächste Mon­tags­tref­fen immer kaum erwar­ten – um mich wieder gebor­gen zu fühlen. Inzwi­schen sind meine Schwes­ter und ihr Freund eben­falls in Deutsch­land, der Krieg hatte uns getrennt. Auch sie habe ich natür­lich gleich zu ‚Monday Kitchen‘ geschleppt, und mitt­ler­weile bin ich hier Koch.“ 

Im Safe Space Geschich­ten erzählen

Wie ging es mit Monday Kitchen los? „Es war im zweiten Monat der rus­si­schen Inva­sion”, erzählt Vladik, „wir hatten die Idee, uns zum Abend­essen zu treffen, Erfah­run­gen aus­zu­tau­schen. Wir fanden einen geeig­ne­ten Ort und wollten uns expli­zit montags treffen, sozu­sa­gen als Gegen­ge­wicht zum ‚aller­här­tes­ten Tag der Woche‘, zum Beginn der Arbeitswoche.“

Das Kol­lek­tiv erreicht über Insta­gram eine hete­ro­gene, über­wie­gend ukrai­ni­sche Com­mu­nity, für die die Küche an wech­seln­den Orten Berlins zu einem Ort der Gemein­schaft und Soli­da­ri­tät gewor­den ist. Es ist ein Ort, an dem im unfrei­wil­li­gen Exil die ukrai­ni­sche Kultur gepflegt wird, ein Ort, an dem das Kochen als sym­bo­li­scher Akt poli­ti­scher Aus­spra­che im geschütz­ten Rahmen zele­briert werden kann. „Monday Kitchen wurde zu einer Art Safe Space”, so Vladik.

Bei den Waren­iki-Treffen werden jetzt, in der kalten Jah­res­zeit, auch Spenden für die Ukraine gesam­melt, zum Bei­spiel für Gene­ra­to­ren. Das Projekt ist in Bewe­gung, ein Video­ar­chiv mit den per­sön­li­chen Flucht­ge­schich­ten der Mit­glie­der soll geschaf­fen werden. Per­sön­li­che Geschich­ten erzäh­len, zuhören und dis­ku­tie­ren, Soli­da­ri­tät zeigen – darin besteht der soziale Aspekt der Wareniki-Abende.

Foto: Eli­sa­beth Bauer

Das Rezept von Vladiks Großmutter

Auf die Frage, was Waren­iki und die Monday Kitchen für ihn per­sön­lich bedeu­ten, sagt Mischa, der jetzt in einer Klein­stadt in Schles­wig-Hol­stein lebt, einen Inte­gra­ti­ons­kurs besucht und für Monday Kitchen regel­mä­ßig nach Berlin kommt: „So sehr ich es auch ver­su­che, ich kann nicht alles wie­der­ge­ben, was ich fühle. Das Einzige, was ich sagen kann, ist: Das hier ist mein zweites Leben.“

Stolz prä­sen­tiert er ein Blech frisch geform­ter Waren­iki-Monde, bevor er den letzten Arbeits­schritt voll­zieht. Im Edel­stahl­topf schwim­men bereits Kräuter und Gewürze, Peter­si­lie und Lor­beer­blät­ter im kochen­den Wasser: Das ver­wen­dete Rezept stamme noch von Vladiks Groß­mutter, man habe es ledig­lich ein wenig opti­miert, verrät Mischa, während er die Waren­iki vor­sich­tig in das sie­dende Wasser gibt. Waren­iki, die ukrai­ni­sche Vari­ante der in vielen Kul­tu­ren vor­han­de­nen Teig­ta­schen, gibt es mit Füllung aus Sau­er­kraut, Kar­tof­feln und Pilzen, Käse oder Fleisch – oder auch mit süßer Füllung, zum Bei­spiel mit Kir­schen. Im ukrai­ni­schen Volks­glau­ben wird den Waren­iki eine sym­bo­li­sche, mytho­lo­gi­sche und sogar schüt­zende Bedeu­tung zugeschrieben.

Damp­fende Teig­ta­schen an der langen Tafel

An der langen Tafel im Aus­stel­lungs­raum nehmen nach und nach Wareniki-Liebhaber:innen Platz, vor sich Teller mit damp­fen­den mond­för­mi­gen Teig­ta­schen. Dazu wird eine Art Kräu­ter­quark gereicht – „vegan“, hebt Vladik mit einem Lächeln hervor. Zum ersten Mal mit dabei sind Anne (32) aus Süd­ko­rea und ihr bester Freund Oleksij (34). Anne hat auf Insta­gram von Monday Kitchen erfah­ren und Oleksij vor­ge­schla­gen, gemein­sam hinzugehen.

„Sie schaf­fen nicht nur ein Gefühl von Zuhause und Ver­traut­heit für die, die direkt vom Krieg betrof­fen sind, sondern heißen auch Außen­ste­hende wie mich will­kom­men – und teilen diese Wärme“, sagt Anne. Oleksij erzählt, dass er 2014 nach der völ­ker­rechts­wid­ri­gen Anne­xion der Krim und dem Beginn des rus­si­schen Krieges im Donbas nach Deutsch­land gekom­men sei. Er arbeite jetzt in Berlin als IT-Spe­zia­list. „Die Idee gefiel mir sehr: Waren­iki kochen wie damals in der Kind­heit mit meiner Mutter und anschlie­ßend eine Dis­kus­sion über poli­ti­sche Themen führen“, so Oleksij, „mir war wichtig, diese Ver­an­stal­tung zu unter­stüt­zen, denn es wird unter anderem auch Geld für einen Gene­ra­tor und für die ukrai­ni­sche Armee gesammelt.“

Kri­ti­scher Kom­men­tar auf Insta­gram: „Wir brau­chen defi­ni­tiv mehr Luftabwehrsysteme“

An diesem Montag erreicht ein kri­ti­scher Kom­men­tar auf Insta­gram das Waren­iki-Kol­lek­tiv: „Es ist toll, dass ihr uns Medizin und Gene­ra­to­ren und solches Zeug schickt, aber ehrlich gesagt ist es egal, ob du mit oder ohne warme Decke von einer rus­si­schen Drohne getötet wirst“, schreibt Sashko Protyah unter einen neuen Post von Monday Kitchen. Vladik kennt den Fil­me­ma­cher, der jetzt in Sapo­rischschja lebt, noch aus Mariu­pol-Zeiten. „Mein Viertel wurde gerade von den Russen atta­ckiert, wahr­schein­lich mit Drohnen“, schreibt Protyah, „wir brau­chen defi­ni­tiv mehr Luft­ab­wehr­sys­teme: einfach fürs Über­le­ben, um unser Leben zu retten.“ Er besinnt sich offen­bar und kon­kre­ti­siert seine Kritik: „Diese Nach­richt geht natür­lich an alle Deut­schen und nicht an die Frei­wil­li­gen von Monday Kitchen – wir schät­zen eure Unter­stüt­zung wirklich.“

* Mischa und Vladik möchten nicht mit vollem Namen genannt werden.

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