Was läuft schief in der Außenpolitik der Ukraine?
Der ukrainische Präsident Selenskyj macht in seiner Außenpolitik Russland zum Hauptproblem für Ukraine. Dabei sollte er auf der Weltbühne die Chancen des Landes hervorheben. Von Iwan Werstjuk
Außenpolitische Erfolge lassen sich auf dem heimischen Markt schwer verkaufen. Das trifft besonders auf die Ukraine zu, einer Nation mit 40 Millionen Einwohnern. Dort lebt man schon seit 30 Jahren in dem Glauben, dass das Land ein großartiges Potential habe.
Den Bürgern ist zwar klar, dass die Ukraine eine wichtige Rolle für die EU und die Staaten der ehemaligen Sowjetunion spielt. Doch der bloße Glaube an Möglichkeiten appelliert eher an politische Gefühle und hat mit den wirtschaftlichen Fakten, die bei den Handels- und Investmentbeziehungen zur EU eine Rolle spielen, wenig zu tun.
Die meisten Ukrainer zeigen sich zufrieden, wenn es um die Zusammenarbeit mit dem Westen geht. Sichere Gehälter, hoher Lebensstandard und starkes Wirtschaftswachstum zählen für sie dennoch mehr, als geopolitische Ambitionen.
Schauen wir auf die Nachbarländer der Ukraine. In die Slowakei flossen gewaltige Unternehmens-Investitionen aus der EU in den Automobilsektor. Die baltischen Staaten haben sich zu einem entscheidenden Partner für die wichtigsten Banken in Nordeuropa entwickelt. Polen, Ungarn und Tschechien erhielten von 2010 bis 2016 zwei bis vier Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes als Transferleistungen aus der EU, was zur Verbesserung der Infrastruktur, des Gesundheitssystems und zur Bewahrung des kulturellen Erbes genutzt wurde. Die Unternehmensinvestitionen in diese Länder waren noch höher und haben sich für europäische Investoren ausgezahlt.
Im Vergleich dazu erhielt die Ukraine im vergangenen Jahr ausländische Direktinvestitionen von nur 1,5 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes. Zu erwähnen bleibt, dass der größte Investmentpartner der Ukraine nicht Deutschland, Frankreich oder Schweden sind, sondern Zypern, wo ukrainische Oligarchen ihr Vermögen geparkt haben, um weniger Steuern zu zahlen.
Was die Ukraine betrifft, so betrachtet die EU das Land eher durch die politische als durch die ökonomische Brille.
Politische Argumente lassen sich jedoch nur bis zu einem bestimmten Punkt anwenden. Der europäische Steuerzahler ist es irgendwann überdrüssig von den Problemen der Ukraine mit Russland zu hören oder von der Korruption, die das Land heimischen Eliten und Oligarchen zu verdanken hat, die ihr illegal angehäuftes Vermögen schützen wollen.
Der ehemalige Präsident Petro Poroschenko nutzte anti-russische Rhetorik als Hauptinstrument der ukrainischen Außenpolitik. Wahrscheinlich hatte er angesichts der Aktionen Russlands im Donbas und auf der Krim 2014 und 2015 keine andere Wahl. Für das Land erweist es sich aber als Bürde, ständig mit einem geopolitischen Konflikt in Verbindung gebracht zu werden. Ähnlichkeiten mit Südsudan drängen sich auf – einem Land reich an Erdöl, geplagt von einer Vielzahl militärischer Konflikte. Natürlich sollte so ein Narrativ keine Basis für die Außenpolitik eines großen osteuropäischen Staates sein.
Selenskyj setzt auf Geopolitik anstatt auf Wirtschaft
Die Außenpolitik von Wolodymyr Selenskyj, dem amtierenden Präsidenten der Ukraine, unterscheidet sich ein wenig von der Poroschenkos. Selenskyj ist nicht so stark anti-russisch eingestellt wie sein Vorgänger Poroschenko. In geopolitischer Hinsicht findet er jedoch, dass die Zukunft der Ukraine eine Erfolgsgeschichte in der postsowjetischen Welt sein solle. Eine Welt, deren Territorium sich vom Pazifik bis zu den heutigen EU-Grenzen erstreckte. Selenskyj mag zwar ein Recht auf solche Art Ambitionen haben. Doch die Rolle der postsowjetischen Erfolgsmacher wurde schon an Estland und seine baltischen Nachbarn Litauen und Lettland vergeben.
Der einflussreiche britische Wochenzeitschrift The Economist wird nicht müde zu erwähnen, wie vergleichsweise hoch der Lebensstandard in Estland ist, welches sich zu einem Paradies für die Startup-Wirtschaft in Europa entwickelte und immer beliebter wird.
Selenskyj lässt viele wirtschaftliche Argumente, die für die Ukraine sprechen, unerwähnt. Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos sprach er in diesem Jahr über Anreize für potentielle Investoren in der Ukraine. Aber dieser Aspekt bildete nur einen kleinen Teil seiner Ansprache, bei der es meistens um Russland ging. Durch das Assoziierungsabkommen mit der EU könnte sich die Ukraine zu einem wichtigen Glied in der Lieferkette für EU-Unternehmen entwickeln.
Mit relativ geringen Löhnen, der Nähe zur EU-Außengrenze und makroökonomischer Stabilität, die notwendig wäre, um erhoffte Umsätze zu erwirtschaften, könnte die Ukraine ein wichtiger Partner für die EU beim Outsourcing der Produktion werden.
Warum wurde dieses Ziel bisher nicht erreicht? Hauptsächlich, weil es an Rechtsstandards und Vertrauen in den Staatsapparat mangelt.
Sicherlich hat die Corona-Krise die Eurozone in das schlimmste ökonomische Fahrwasser seit ihrem Bestehen gezogen. 3,8 Prozent Rückgang des Bruttoinlandproduktes im ersten Quartal 2020 bedeuten, dass die Ukraine der EU weniger Waren als üblich verkaufen kann. Jedoch hilft kurzfristiges Denken der Ukraine nicht weiter. Das Land benötigt einen langfristigen Ansatz, und das ist kein Wunschdenken.
Die Ukraine muss ihre Opferrolle abschütteln
Selenskyj jedoch hat seinen früheren Außenminister Wadym Prystaiko, einen Experten auf den Gebiet der europäischen Integration, durch Dmytro Kuleba, einen geopolitischen Strategen ersetzt. Einer der ersten Statements von Kuleba implizierte, neben der EU auch Asien zu einem Schlüsselpartner der Ukraine zu machen.
Kuleba macht seinen Job, wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit der Welt auf die Missetaten von Wladimir Putin zu lenken. Dies ist aber nur eine Fortsetzung der außenpolitischen Rhetorik von Poroschenko. Stattdessen sollte die Ukraine ein neues Kapitel in ihren Beziehungen zur EU und den Vereinigten Staaten aufschlagen.
Kuleba fehlt der ökonomische Ansatz in seiner Politik.
Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass er immer noch auf postsowjetische Diplomaten alten Stils setzt, um Positionen in den ukrainischen Botschaften weltweit zu füllen.
Was die Ukraine jetzt braucht sind keine Botschafter, die die Anzahl der internationalen Gesetze kennen, die Russland gebrochen hat. Die Ukraine benötigt Botschafter, die sich effizient für die Interessen der Ukraine im Allgemeinen und für die ukrainische Wirtschaft im Besonderen einsetzen.
Mit diesem Ansatz könnte man den Export fördern und Investoren aus aller Welt auf ukrainische Produktionskapazitäten aufmerksam machen. Diese neue Generation von Diplomaten sollte die Ukraine aus der Opferrolle hinausführen und das ukrainische Narrativ auf etwas Positives lenken. Notwendig dafür ist der Aufbau einer Marke, die Aussagen über die Wirtschaft der Ukraine und ihre Kreativität transportiert, sei es auf dem Gebiet technischer Innovationen, der Kultur oder der Künste. Unbedingt notwendig sind darüber hinaus neue Themen für Ansprachen von Außenminister Kuleba auf internationalen Konferenzen.
Ich war auf vielen internationalen Konferenzen dabei, wie dem Weltwirtschaftsforum in Davos oder der Münchener Sicherheitskonferenz, und ich habe dort oft gehört, wie die Ukraine wegen der russischen Aggression als Opfer dargestellt wird. Jedoch ist die schlimmste Periode im Krieg zwischen der Ukraine und Russland vorbei. Jetzt ist es notwendig, den Friedensprozess für den Donbas auszuhandeln in Übereinstimmung dessen, was die Ukraine erwartet und was die Bürger im Donbas erwarten. [Wir verweisen hier auf die aufschlussreiche Studie des Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche. – Anm. der Redaktion] Bei diesem Prozess kommt es darauf an, was Russland liefern kann, unter Berücksichtigung der außenpolitischen Erfolge, die Putin vorweisen muss, um seine Beliebtheit beim Volk beizubehalten.
Die Ukraine sollte überdenken, welche Rolle sie in der Welt spielen will.
Es ist zu spät, jedes Mal dieselbe Geschichte über die Ukraine als Opfer russischer Aggression zu wiederholen. Selbstverständlich müssen auch Schritte in dieser Hinsicht unternommen werden. Zurzeit ist ein Prozess beim Bezirksgericht in Den Haag wegen des Abschusses der Malaysian-Airlines-Maschine über dem Donbas 2014 anhängig. Außerdem haben Europa und die Vereinigten Staaten Sanktionen gegen das Putin-Regime verhängt. Das ist aber nur ein Teil der Gleichung, die zu einer besseren Position der Ukraine auf dem internationalen Parkett führen könnte. Der andere Teil sind Unternehmertum und Wirtschaft.
Erzähle keine Geschichte, die schon jeder kennt
Werfen wir einen Blick auf den ukrainischen Botschafter in den Vereinigten Staaten. Das ist Wolodymyr Jeltschenko, ein lang gedienter außenpolitischer Beamter, der sich gut mit den Strukturen und Prozessen der Vereinten Nationen auskennt und die E‑Mail-Adressen der Mitarbeiter im U.S. State Department kennt. Allerdings wäre es besser, wenn Jeltschenko die E‑Mail-Adressen der Vorstandsvorsitzenden großer amerikanischer Unternehmen kennen würde, die vielleicht Geschäfte in der Ukraine machen wollen.
Gibt es in der Ukraine Diplomaten, die erfolgreiche Botschafter in den entwickelten Industrieländern sein könnten und sich in der Wirtschaft gut auskennen? Ja, es gibt sie. Man darf sich nämlich nicht nur auf die Absolventen des Instituts für Internationale Beziehungen an der Taras-Schewtschenko-Universität konzentrieren. Man sollte den Blick auch auf lokale Entscheidungsträger richten, die bereits Reformen auf den Weg gebracht haben. Zum Beispiel auf Experten wie Oleksandr Danyliuk, einen ehemaligen Finanzminister mit guten Beziehungen zu Führungskräften im Westen. Auch Switlana Zalischtschuk, außenpolitische Beraterin des ehemaligen Premierminister Oleksij Hontscharuk wäre zu nennen.
Die Ukraine kann auf gut ausgebildete, pro-westliche Fachkräfte zurückgreifen, die nötige Erfahrungen mitbringen und ein neues Bild der Ukraine auf der globalen Bühne zeichnen können.
Jedoch glaubt Selenskyj immer noch, dass die Außenpolitik ein Werkzeug des Staates wäre, um seine Stimme zu erheben. Man kann seine Stimme aber nur erheben, wenn man etwas zu sagen hat. Und über die russische Aggression ist in den letzten fünf bis sechs Jahren schon oft berichtet worden.
Vor einigen Monaten hatte ich ein Gespräch mit Zuzana Caputova, der Präsidentin der Slowakei. Ich stellte ihr die Frage, ob Osteuropa eine stärkere Stimme in der EU braucht. Caputova antwortete, dass es in der Außenpolitik nicht darauf ankomme, sich mit einer lauten Stimme Gehör zu verschaffen. Wichtig sei vielmehr, ein verlässlicher Partner zu sein, der die EU politisch und wirtschaftlich stärkt.
Diese Tatsachen sollte der ukrainische Präsident Selenskyj verstehen. Bei der EU geht es um die Schaffung eines freien Marktes, von dem beide Seiten profitieren – sei es die Finanzindustrie oder der normale Arbeiter in den Fabriken in der Slowakei, Österreich oder Bulgarien.
Was wir brauchen sind Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung der Korruption, Marktregulierung und Digitalisierung sowie wirtschaftliche Bildung.
Wir müssen der EU nicht ständig mitteilen, dass wir einen Konflikt mit Russland ausfechten – das ist in der EU hinlänglich bekannt. Wir müssen der EU das Bild einer Ukraine vermitteln, die in der Lage ist, ihren Beitrag zum wirtschaftlichen Wohlergehen in Europa zu leisten.
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