Unbeteiligt geteilt
Die Ukraine wurde von außen mit Gewalt zerteilt. Wer dies rechtfertigt, verkennt, dass es heute in der Ukraine nicht um eine Ost-West-Teilung geht, sondern um gesellschaftliche Kernkonflikte der Gegenwart. Von Jurko Prochasko
Diesen Aufsatz sollte es eigentlich gar nicht geben, mehr noch: dürfte es nicht geben. Er sollte ganz und gar überflüssig sein, im Ideal‑, ja selbst im Normalfall. Denn er behandelt lauter Dinge, die eigentlich ganz offensichtlich, längst allen bekannt und selbstverständlich sein sollten und niсht еinmal ansatzweise in Frage gestellt werden dürften – wenn die Welt vernünftig, gut und gerecht wäre.
Aber das ist sie bekanntlich nicht. Und erfahrungsgemäß sind es gerade die Sachverhalte, die ganz offenkundig sein sollten, es aber aus irgendwelchen Gründen nicht sind, bei denen sich am ehesten die Unwegsamkeiten und Unwägbarkeiten einer Epoche vermuten lassen. Daher lohnt es sich doch, trotz aller damit verbundener Verzweiflung, sich immer wieder um sie zu bemühen.
Eine Frage, die dieser Mühe wert ist, könnte etwa so lauten: Was hindert die Menschen daran, militärischen Überfall, Besatzung und Zerteilung eines Landes durch ein anderes Land auch als solches anzuerkennen? Mehrere schwerwiegende Rechtsbrüche auch als solche bedingungslos einzustufen – und nicht zu versuchen, sich auf der Suche nach Relativierungen und Beschwichtigungen in dubiosen Labyrinthen von quasi-historischen Argumenten zu verirren?
Oder: Was bewegt die Menschen dazu, ein überfallenes und zerteiltes Land für „immer schon geteilt“ zu erklären und in dieser angeblich genuinen Teilung die Ursache für militärische Gewaltanwendung und fremde Machtausübung zu sehen? Was bewegt die Leute dazu, die fremdgesteuerte, gewaltsame Zerteilung entweder als naheliegende Folge der vermeintlich bereits vorliegenden Teilung darzulegen oder aber die letztere als angebliche Rechtfertigung der ersteren anzusehen? Ganz unabhängig davon, wie diese beiden Denkfiguren aufeinander bezogen werden – ob als „ja, es existieren schon Gewalt und Besatzung, aber doch nicht ganz unbegründet“ oder als vermeintlich unausweichliche Kausalität, die geradewegs zu Krieg und Zerfall führt – sie hängen im Fall der Auslegung der Ukraine, der ukrainischen Verhältnisse und Ereignisse ganz offensichtlich zusammen, bedienen und bedingen sich gegenseitig und verraten viel über diejenigen, die sie aufstellen.
Jede Gesellschaft ist heterogen
Jedes, aber wirklich jedes Land ist geteilt. Das sind selbst die Kleinsten und vermeintlich Unteilbarsten. Städte sind geteilt. Und Menschen innerlich zerrissen. Jedes, auch das kleinste Land ist in dem Sinne geteilt, weil es eine Menge von sehr unterschiedlichen, oft konträren historischen Prägungen aus verschiedensten Zeiten in sich trägt und eine Unzahl von kulturellen Einflüssen. Von politischen, weltanschaulichen Gesinnungen ganz zu schweigen, genauso von den Zukunftsvisionen und dem Befinden, was gut und was schlecht für ein Land ist. Unbestritten ist auch, dass diese Prägungen meistens von erstaunlicher Dauer und Zähigkeit sind. Doch deswegen dem Land das Existenzrecht absprechen, oder die Fähigkeit zur Integrität, oder das Recht auf Einheit, darauf kommt man in den meisten Fällen nicht.
Und nicht für jedes Land wird diese elementare Tatsache mit so viel Beharrlichkeit essentialisiert, wie es seit Jahrzehnten für die Auffassung und Beschreibung der Ukraine der Fall ist. Geradezu mit bemerkenswerter Wollust und Sturheit, die jede Wirklichkeit ignoriert, wird gerade darin das gesehen, was dieses Land angeblich erst ausmacht: Teilung, Geteiltsein, Zerrissenheit.
Natürlich könnte sein, dass dies geschieht, weil einem zu diesem Land sonst nichts einfällt; aus Ignoranz, die sich für Kompetenz ausgibt. Das wäre noch die harmlosere Erklärung.
Aber warum wird dabei die Tatsache übersehen, dass die Ukraine nicht nur zwei, sondern mindestens 22 wichtige und bleibende Prägungen besitzt. Oder vielleicht 222? Und dass diese allesamt sehr bleibenden Prägungen aus verschiedensten Zeiten stammen, von unterschiedlichsten Umständen und Verhältnissen herrühren und von diversen Urhebern verursacht wurden. Welche dieser Prägungen, welchen Zeitpunkt und welches Ereignis sollte man als Bezugspunkt für das angebliche Geteiltsein wählen?
Alles konnte man in diesen Darstellungen finden, alles Mögliche haben sie enthalten – außer, wie es wirklich gekommen ist: Dass dieses Land sich nicht geteilt hat, sondern geteilt wurde, von außen und mit militärischer Gewalt, durch fremde Besatzung und vor den Augen der nicht wenig staunenden Weltöffentlichkeit.
Die ukrainische Komplexität und Vielfalt wird auf eine vermeintliche Zweiteilung reduziert
Ja, es ist noch viel schlimmer: Anstatt diese Vielfalt der Ukraine als vollkommen normal im europäischen Vergleich anzusehen, reduziert man diese tatsächliche Vielfalt zu einer phantasierten Zweiteilung. Man essentialisiert dadurch die Ukraine als ein geteiltes Land. Man essentialisiert diese vermeintliche Zweiteilung. Und was man auch essentialisiert, ist die angebliche Unverträglichkeit der Charaktere dieser beiden – ach so unvereinbaren! – Teile.
Nur: Wie kann man diese Behauptung mit der Tatsache vereinbaren, dass die vermeintlich essentielle und zeitlose Spaltung Jahr für Jahr geringer wird? Jede weitere Wahl in der Ukraine zeigt nur eins: die unaufhörliche und fortschreitende Homogenisierung des Landes. Und zwar ganz unabhängig davon, wie man diese ominöse Zweiteilung auslegt: in „nationalistischen Westen“ und „prorussischen Osten“, oder – etwas wohlwollender – „prowestlichen Westen und prorussischen Osten“? Und was ist dabei „der Westen“, wenn er immer größer wird und warum will man nicht wahrhaben, dass „der Osten schrumpft“? Auch heute noch spricht man weiterhin von einem Konflikt zwischen den beiden Seiten, ungeachtet der Tatsache, dass das, was als „Osten“ bezeichnet wird, militärisch okkupierte und fremdgesteuerte Gebiete sind, und das, was wir selber traditionell „Osten“ nennen, ganz im Rhythmus des gesamten Landes lebt?
Oder dass das, was wir Nationalisten nennen, niemals – und am allerwenigsten nach dem Maidan, der ja angeblich ein nationalistisch-faschistischer Putsch war – die Unterstützung von mehr als einem verschwindend kleinen Prozentsatz der Bevölkerung gewann, auch nicht im „nationalistischen Westen“ der Ukraine und ganz im Gegensatz zu Frankreich, Dänemark, Deutschland, von den Niederlanden, der Schweiz und besonders Österreich ganz zu schweigen? Oder dass die meisten, die heute auf ukrainischer Seite im Osten kämpfen, Russisch sprechen? Oder dass meine westlich gelegene Stadt Lemberg nicht nur voll ist von russischsprachigen Flüchtlingen aus dem Donbas, sondern auch von Studierenden, die von ihrem Studium in Lemberg sicherlich keine „russische Welt“ (Russkij Mir) erwarten, aber auch keine Bekehrung durch „Nationalisten“ befürchten. Sonst wären sie ja eher nach Moskau gegangen.
Vertreter westlicher Ex-Imperien gestehen dadurch dem Immer-noch- und Wieder-Imperium Russland dessen „historische Rechte“ gern zu
Doch es ist nicht nur die – bewusste oder unbewusste, aber immer krasse – Simplifizierung, die die Betrachtung der Ukraine auszeichnet. Es ist weit schlimmer. Denn immer ist darin implizit oder explizit die Vorstellung von der Lebensunfähigkeit und oft genug auch Unwürdigkeit des Landes enthalten: Diese vorgreifende Lust am künftigen Zerfall, als Beweis der Aussichtslosigkeit einer beständigen eigenen Existenz außerhalb und unabhängig von Großmächten. Das kann nur eins bedeuten: Der Zerfall erscheint denjenigen, die so denken, gerechter – oder zumindest sicherer – als die bis vor kurzem noch bestehende Sachlage. Und was als weniger gerecht oder Sicherheit versprechend erscheint, kann durchaus revidiert werden.
Wir haben es hier also mit einer Form von Revisionismus zu tun, einer sehr subtilen, latenten Form, die dadurch aber nicht weniger gefährlich ist. Nun sollte die Frage lauten: Wo rührt dieser Revisionismus her? Was sind seine Beweggründe und seine ratio? Oder lässt er sich allein von mehr oder minder starken Affekten leiten? Und sind alles andere bloß mehr oder weniger kunstvolle und findige Rationalisierungen dieser Wünsche? Und falls ja, was sind das für Affekte und warum bedürfen sie Rationalisierungen? Was hindert die Menschen, sie direkt und unverhohlen auszusprechen oder zumindest sich selbst in vollem Ausmaß einzugestehen?
Die ganze Postulierung der „geteilten Ukraine“ hat ganz andere Gründe: Es ist zum einen der tief sitzende, meist verborgene Impuls und Instinkt, von Imperium zu Imperium auf Augenhöhe zu sprechen. Vertreter westlicher Ex-Imperien gestehen dadurch dem Immer-noch- und Wieder-Imperium Russland dessen „historische Rechte“ gern zu, weil dieses eben von „Einflusssphären“ und „Anspruchsgebieten“ ausgeht. Und dabei spielt so ein lächerliches, obwohl territorial riesiges „Nichts“ wie die Ukraine, mit ihrer Geschichte, ihren Wünschen, Bedürfnissen und Interessen keine Rolle.
Oder dahinter steht die Angst, wegen der abgetrennten und besetzten Teile eines in jeder Hinsicht fremden Landes eine noch viel größere Auseinandersetzung auszulösen. Und eigentlich liegt diesen beiden Motivationen ein gemeinsamer Nenner zugrunde: die Anerkennung des und das Bekennen zum Recht des Stärkeren.
Auf der Krim und in der Ostukraine gab es keine separatistischen Bewegungen – die Teilung erfolgte von außen
Nein, die besetzten Gebiete im Donbass und die Annexion der Krim waren keine natürlichen Folgen der „immer schon bestehenden Geteiltheit“. Sie sind nicht geworden. Die besetzten Gebiete und die Krim wurden gemacht. Absichtlich und planmäßig, konsequent. Spätestens seit 2004 war das sichtbar. Täuschen wir uns nicht und lassen uns nicht zu Vergleichen mit Separatisten wie in Katalonien, Korsika und Baskenland verleiten. So etwas gab es im Donbass und auf der Krim nicht. Nie, selbst Anfang 2014, gab es dort eine antiukrainische Partei, eine prorussische Bewegung, eine separatistische Front, eine sezessionistische Tendenz. Die erheblichen Unterschiede bestehen nicht nur zwischen diesen Teilen der Ukraine und dem Rest, sondern zwischen allen Regionen des Landes. Alle Regionen wurden seinerzeit vom korrupten und oligarchisierten Zentrum ausgenutzt und missachtet. Doch niemals wäre daraus ohne das gewaltsame, bewaffnete fremde Zutun ein Bürgerkrieg oder eine Sezession geworden. Die Verkehrung von Ursache und Folge ist ein Grundzug der Auslegung dessen, was mit der Krim und im Donbass passiert ist.
Der Grundkonflikt in der Ukraine ist derselbe wie in Europa: Es geht um den richtigen Umgang mit der komplizierten Welt von heute
Fast überall auf der Welt sehen wir heutzutage hochgradig gespaltene Gesellschaften, nicht nur im Westen. Das sind die neuen Teilungen, deren Trennlinien ganz anders als gewohnt verlaufen. Es wäre an der Zeit, auch die ukrainischen Spaltungen in diesem Lichte zu sehen: nicht katholisch und orthodox, nicht ukrainisch- und russisch-affin, nicht einmal „prowestlich“ und „prorussisch“, nicht „nationalistisch“ und „internationalistisch“, ja nicht einmal vorwärts- und rückwärtsgewandt. Denn das alles bringt nicht viel. Es kann allenfalls einige irrelevante Teilwahrheiten umfassen, aber nicht das Wesen der Sache.
Denn im innigsten Wesen sind es genau die gleichen Konflikte, die auch Europa und die Welt auf eine Zerreißprobe stellen: um den richtigen Umgang mit der komplizierten Welt von heute. Wenn wir das begreifen, wird die vermeintliche Teilung der Ukraine nicht als ferne und lokale, ukrainische Sonderheit missverstanden (und missachtet), sonders als Abbild der Kernkonflikte der Gegenwart. Was sich in der Ukraine derzeit entscheidet, ist genau das, was heute die ganze Welt in Bann hält: Die Suche nach einem solidarischen, pluralistischen und toleranten Zusammenleben; die Suche nach gerechteren Formen des Wirtschaftens und der Verteilung; das Bemühen um Deoligarchisierung; die Anstrengungen dafür, die liberale Demokratie widerstandsfähig zu machen.
Das sollten wir lieber als gemeinsame Aufgabe begreifen, als die Ukraine zu einem Exoten zu erklären und damit in ihrer verkannten Komplexität und Modernität alleine zu lassen.
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