EU-Bei­tritt der Ukraine: Wie steht es um die nötigen Reformen?

Roberta Metsola Prä­si­den­tin des EP, beim Treffen mit Denis Shmyhal, ukrai­ni­scher Pre­mier­mi­nis­ter im Sep­tem­ber 2022, Foto: Euro­pean Parliament

Die Ver­lei­hung des Kan­di­da­ten­sta­tus an die Ukraine zeigt, dass die Ukraine zur euro­päi­schen Familie gehört. Jetzt muss die ukrai­ni­sche Seite eine Reihe von Refor­men umset­zen. Den Stand der Refor­men und die For­de­run­gen an die EU ana­ly­siert Mari­anna Fakhurdinowa.

Die Ver­lei­hung des EU-Kan­di­da­ten­sta­tus an die Ukraine im Juni 2022 war nicht nur eine bedeu­tende Geste der Unter­stüt­zung für das ukrai­ni­sche Volk, sondern auch ein großer Erfolg von Regie­rung, Par­la­ment, Sach­ver­stän­di­gen und einer Zivil­ge­sell­schaft, die zu fast 80 Prozent die Mit­glied­schaft der Ukraine in der EU befürwortet.

Die Ukraine ist fest ent­schlos­sen, den Weg der euro­päi­schen Inte­gra­tion weiter zu beschrei­ten. Doch wie erfolg­reich erfüllt sie ihre Verpflichtungen?

Erfor­der­li­che Reformen

Nachdem die Ukraine den Kan­di­da­ten­sta­tus erhal­ten hatte, ver­pflich­tete sie sich, sieben von der Euro­päi­schen Kom­mis­sion emp­foh­lene Refor­men in den Berei­chen Rechts­staat­lich­keit, Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung, Medien und natio­nale Min­der­hei­ten durch­zu­füh­ren. Die Umset­zung dieser Emp­feh­lun­gen ist eine wich­tige Vor­aus­set­zung für den Über­gang zur nächs­ten Phase der euro­päi­schen Inte­gra­tion: die Auf­nahme von Ver­hand­lun­gen über die EU-Mit­glied­schaft, in deren Verlauf die Ukraine ihre Rechts­vor­schrif­ten in 35 ver­schie­de­nen Berei­chen denen der EU anglei­chen muss.

Das Prinzip der Konditionalität

Das Prinzip der Kon­di­tio­na­li­tät, das erfolg­rei­che Refor­men als Gegen­leis­tung für Ver­hand­lun­gen vor­aus­setzt, ist für die ukrai­ni­schen Behör­den ein wich­ti­ges Druck­mit­tel für die Akzep­tanz wich­ti­ger Refor­men. Es wurde bereits früher erfolg­reich ange­wandt, um bei­spiels­weise einen visa­freien Grenz­ver­kehr zwi­schen der Ukraine und der EU zu ermög­li­chen oder Mittel des IWF bereitzustellen.

Das ukrai­ni­sche New Europe Center hat zusam­men mit anderen poli­ti­schen Think-Tanks begon­nen, die Umset­zung der sieben von der Euro­päi­schen Kom­mis­sion emp­foh­le­nen Refor­men unab­hän­gig zu über­wa­chen. Nach dem Erhalt des Kan­di­da­ten­sta­tus haben ukrai­ni­sche NGOs bereits zwei Über­prü­fun­gen durchgeführt.

Moni­to­ring des Reformprozesses

Um einen genaue­ren Über­blick über den Stand der Refor­men in der Ukraine zu erhal­ten, bewer­tete das New Europe Center den Fort­schritt der Umset­zung auf einer Zehn-Punkte-Skala, die auf den Ein­schät­zun­gen ver­schie­de­ner Sach­ver­stän­di­ger für die ein­zel­nen Berei­che beruht. Das Ergeb­nis: Trotz des Krieges und aller damit ver­bun­de­nen Schwie­rig­kei­ten sind Geschwin­dig­keit und Stand der Refor­men angemessen.

Im Novem­ber 2022 betrug die Gesamt­be­wer­tung der Exper­ten 4,7 von 10 mög­li­chen Punkten –nach fünf Monaten Kan­di­da­tur. Gleich­zei­tig wurden in allen Berei­chen Fort­schritte bei der Umset­zung festgestellt.

EU erkennt Fort­schritte bei der Umset­zung der Refor­men an

Im Dezem­ber 2022 hat das ukrai­ni­sche Par­la­ment drei wich­tige Gesetze zur euro­päi­schen Inte­gra­tion ver­ab­schie­det, und die EU hat die Fort­schritte der Ukraine bei der Umset­zung der Refor­men öffent­lich anerkannt.

  • Das Gesetz über natio­nale Min­der­hei­ten gewähr­leis­tet deren Rechte auf gesetz­li­cher Ebene.
  • Das Medi­en­ge­setz sieht eine Har­mo­ni­sie­rung der ukrai­ni­schen Rechts­vor­schrif­ten mit der EU-Richt­li­nie zu audio­vi­su­el­len Medien vor.

Die Ver­ab­schie­dung dieser beiden Gesetze war das Kern­stück der beiden EU-Emp­feh­lun­gen und wurde von Exper­ten von der EU und aus der Ukraine begrüßt. Für die voll­stän­dige Umset­zung muss die Ukraine noch mehrere zusätz­li­che Rechts­akte erlas­sen, z. B. ein Gesetz über Fernsehwerbung.

Reform des ukrai­ni­schen Ver­fas­sungs­ge­richts noch nicht zufriedenstellend

Das dritte Gesetz – das Gesetz über die Reform des ukrai­ni­schen Ver­fas­sungs­ge­richtseben­falls im Dezem­ber vom Par­la­ment ver­ab­schie­det und vom Prä­si­den­ten unter­schrie­ben – wurde von der EU weniger positiv bewer­tet. Es sieht die Ein­füh­rung eines Wett­be­werbs­ver­fah­rens für die Ernen­nung von Rich­tern für das Ver­fas­sungs­ge­richt vor, um Kor­rup­tion zu ver­hin­dern. In der Anfangs­phase wurde der Gesetz­ent­wurf begrüßt. Der in der neu­es­ten Fassung des Geset­zes vor­ge­se­hene Mecha­nis­mus zur Ernen­nung von Rich­tern ist jedoch nicht optimal. Nach Ansicht von Exper­ten und der Venedig-Kom­mis­sion, die die EU unter­stützt, sollte ein siebtes Mit­glied in die bera­tende Exper­ten­gruppe auf­ge­nom­men werden, die die Kan­di­da­ten für das Ver­fas­sungs­ge­richt prüft. Derzeit gibt es sechs Mit­glie­der (drei unab­hän­gige inter­na­tio­nale Exper­ten und drei Ver­tre­ter der Behörden).

Wei­chen­stel­lung für das zukünf­tige Jus­tiz­we­sen in der Ukraine

Neben dem Gesetz über die Reform des ukrai­ni­schen Ver­fas­sungs­ge­richts, hat sich die Ukraine auch ver­pflich­tet, neue Mit­glie­der für den Hohen Jus­tiz­rat und die Hohe Qua­li­fi­ka­ti­ons­kom­mis­sion für Richter zu ernen­nen. Die Reform dieser beiden wich­tigs­ten Organe der ukrai­ni­schen Justiz wird darüber ent­schei­den, wie das ukrai­ni­sche Jus­tiz­we­sen in den nächs­ten Jahr­zehn­ten aus­se­hen wird: Der Hohe Jus­tiz­rat und die Hohe Qua­li­fi­ka­ti­ons­kom­mis­sion für Richter müssen min­des­tens 3.000 neue Richter ein­stel­len und die Qua­li­fi­ka­tion der aktu­el­len bewer­ten. Trotz des Krieges bewegt sich die Ukraine auf dieses Ziel zu: Sieben von 21 Stellen im Hohen Jus­tiz­rat wurden besetzt, und das Aus­wahl­ver­fah­ren für die Stellen in der Hohen Qua­li­fi­ka­ti­ons­kom­mis­sion für Richter geht weiter. Die Kan­di­da­ten werden Anfang 2023 bewertet.

Fort­schritte bei der Korruptionsbekämpfung

Im Bereich der Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung war die Ernen­nung von Olek­sandr Kly­menko zum Leiter der Spe­zia­li­sier­ten Anti­kor­rup­ti­ons-Staats­an­walt­schaft eine äußerst posi­tive Nach­richt. Die Exper­ten stellen fest, dass die Ukraine seither die Durch­füh­rung wirk­sa­mer Ermitt­lun­gen bei Kor­rup­ti­ons­fäl­len auf höchs­ter Ebene erheb­lich ver­bes­sert hat, ins­be­son­dere wurden gegen eine Reihe von Spit­zen­be­am­ten Ver­dachts­an­zei­gen erstat­tet. Im nächs­ten Schritt wird der Posten des NABU-Direk­tors (Natio­na­les Anti­kor­rup­ti­ons­büro der Ukraine) besetzt, das ent­spre­chende Aus­wahl­ver­fah­ren wird derzeit vor­be­rei­tet: 74 Bewer­ber wurden zum Aus­wahl­ver­fah­ren zugelassen.

Im Dezem­ber hat die Ukraine bereits eine Reihe von Rechts­ak­ten zur Bekämp­fung von Geld­wä­sche ver­ab­schie­det, und die Behör­den haben die Reform des Straf­ver­fol­gungs­we­sens vor­an­ge­trie­ben. Nach Aus­sa­gen der Regie­rung kann die Ukraine die Umset­zung der meisten Refor­men Anfang 2023 abschließen.

Zwar ist die ukrai­ni­sche Exper­ten­ge­mein­schaft bei der zeit­li­chen Ein­schät­zung der Reform­vor­ha­ben vor­sich­tig, die ehr­gei­zi­gen inter­nen Fristen demons­trie­ren jedoch die Ent­schlos­sen­heit der ukrai­ni­schen Seite und sollen die EU dazu bringen, sich mit der Ukraine im glei­chen Tempo zu bewegen.

EU sollte die Ukraine bei der Umset­zung der Refor­men unterstützen

Die EU sollte die Ukraine nun nicht nur bewer­ten, sondern auch bei der Umset­zung der Refor­men unter­stüt­zen. Doch schon in den ersten Monaten der Kan­di­da­ten­schaft wurde klar, dass die EU es nach der bahn­bre­chen­den Ent­schei­dung, der Ukraine den Kan­di­da­ten­sta­tus zu ver­lei­hen, nun nicht mehr eilig hat, den Ambi­tio­nen der Ukraine zu folgen.

Ins­be­son­dere die Ent­schei­dung der Euro­päi­schen Kom­mis­sion, erst im Herbst 2023 einen Bericht über die Umset­zung der sieben Refor­men vor­zu­le­gen, war eine unan­ge­nehme Über­ra­schung für Kyjiw – wohin­ge­gen sich die ukrai­ni­sche Seite eine ehr­gei­zige interne Frist bis spä­tes­tens Ende 2022 gesetzt hat. Die Argu­men­ta­tion Brüs­sels war: Mit dem Win­ter­ein­bruch hat die finan­zi­elle Unter­stüt­zung der Ukraine, die Unter­stüt­zung der Ener­gie­infra­struk­tur und die huma­ni­täre Hilfe für die Bevöl­ke­rung oberste Prio­ri­tät. Unter­des­sen betonte Kyjiw, dass die euro­päi­sche Inte­gra­tion trotz drin­gen­der Bedürf­nisse wei­ter­hin auf der Tages­ord­nung der bila­te­ra­len Bezie­hun­gen stehen sollte.

„Europa der ver­schie­de­nen Geschwindigkeiten“

Das „Europa der ver­schie­de­nen Geschwin­dig­kei­ten“ trifft also auch hier zu, da die Ukraine eine größere Bereit­schaft zur Inte­gra­tion zeigte als die EU zur Erwei­te­rung. Die Ver­zö­ge­rung bei der Umset­zung der Refor­men in der Ukraine ist teil­weise auch auf die EU zurück­zu­füh­ren. So wartete die Ukraine bei­spiels­weise auf die Beschlüsse der euro­päi­schen Seite zu dem Gesetz über natio­nale Min­der­hei­ten und Medi­en­ge­setz sehr lange – auf die Ent­schei­dung der Venedig-Kom­mis­sion zum Anti-Olig­ar­chie­ge­setz wartet sie immer noch.

Euro­päi­sche Kom­mis­sion will Stand der Refor­men bald bewerten

Die Ukraine begrüßte die Bereit­schaft der Euro­päi­schen Kom­mis­sion, im Früh­jahr 2023 eine erste Bewer­tung der Umset­zung der Refor­men nach Ver­lei­hung des Kan­di­da­ten­sta­tus durch­zu­füh­ren – was auch Prä­si­dent Selen­skyj in seiner Rede auf dem EU-Gipfel im Dezem­ber 2022 for­derte. Dieser Schritt zeigt, dass die EU bereit ist, sich dem Tempo der Ukraine anzunähern.

Das andere Ziel Kyjiws ist die baldige Auf­nahme von Bei­tritts­ver­hand­lun­gen – wobei es sich im Wesent­li­chen um eine Anglei­chung der ukrai­ni­schen Rechts­vor­schrif­ten an das EU-Recht handelt. Ob die EU dem zustimmt, ist jedoch noch unklar. Die Auf­nahme von Ver­hand­lun­gen ist eine poli­ti­sche Ent­schei­dung, die nicht nur von den Fort­schrit­ten der Ukraine, sondern auch von der Bereit­schaft der EU-Mit­glied­staa­ten abhängt. In der EU wurden indes Stimmen laut, die fordern, vor der Auf­nahme neuer Mit­glie­der eine interne Reform durch­zu­füh­ren, um die derzeit für eine Ent­schei­dung nötige Ein­stim­mig­keit durch einen Mehr­heits­be­schluss zu ersetzen.

„Lasst uns gleich­zei­tig reformieren!“

Nach Ansicht der ukrai­ni­schen Seite ist dieser Ansatz kon­tra­pro­duk­tiv – sie schlägt statt­des­sen vor: Lasst uns gleich­zei­tig refor­mie­ren! Die Ukraine ist sich der Her­aus­for­de­run­gen bewusst und ist bereit für einen in mehrere Etappen unter­teil­ten Beitrittsprozess:

  • Eröff­nung von Verhandlungspositionen
  • Bei­tritt zum Bin­nen­markt und zu den vier Freiheiten
  • Mit­glied­schaft

Die schritt­weise Umset­zung der für alle EU-Mit­glieds­staa­ten ver­bind­li­chen Rechte und Pflich­ten in der Ukraine muss die EU kei­nes­wegs daran hindern, par­al­lel dazu interne Refor­men durch­zu­füh­ren. Äußerst positiv ist in diesem Zusam­men­hang der Vor­schlag des EU-Rates an die Euro­päi­sche Kom­mis­sion, einen Stu­fen­plan aus­zu­ar­bei­ten, um der Ukraine den Zugang zum euro­päi­schen Bin­nen­markt zu erleichtern.

Eine demo­kra­ti­sche, stabile und pro­spe­rie­rende Ukraine ist auch im Inter­esse der EU

Der Erfolg der euro­päi­schen Inte­gra­tion der Ukraine hängt also nicht nur von den Fort­schrit­ten der Ukraine ab – Vor­aus­set­zung ist auch die Bereit­schaft der EU, fle­xi­ble und schnelle, zugleich auch faire und leis­tungs­be­zo­gene Ent­schei­dun­gen über die wei­te­ren Schritte auf dem Weg zur Mit­glied­schaft zu treffen.

Die Ukraine hofft auf die Unter­stüt­zung und Ent­schlos­sen­heit der EU – denn eine demo­kra­ti­sche, stabile und pro­spe­rie­rende Ukraine ist auch im Inter­esse der EU.

Portrait von Fakhurdinowa

Mari­anna Fak­hur­di­nova ist Rese­arch Fellow und Com­mu­ni­ca­ti­ons Manager am New Europe Center.

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