Appell ukrainischer zivilgesellschaftlicher Organisationen an die Staats- und Regierungschefs der NATO vor dem Gipfel in Vilnius
Mit einem Appell wenden sich 71 zivilgesellschaftliche Organisationen aus der Ukraine an die Staats- und Regierungschefs der NATO vor dem Gipfel in Vilnius am 11.–12. Juli und rufen dazu auf, die Ukraine zügig zum Beitritt in das Bündnis einzuladen. Wir dokumentieren diesen Appell in deutscher Sprache:
Der NATO-Gipfel in Vilnius rückt näher. Das Bündnis wird die Gelegenheit haben, eine historische Entscheidung zu treffen: sich zu verpflichten, die Ukraine so bald wie möglich zum NATO-Beitritt einzuladen. Wir, die Vertreter der ukrainischen Zivilgesellschaft, sind der festen Überzeugung, dass eine solche Verpflichtung das wirksamste Instrument zur Beendigung des Krieges Russlands gegen die Ukraine, zur Verhinderung neuer Aggressionen, zur Aufrechterhaltung des demokratischen Wandels in der Ukraine und zum Wiederaufbau der Ukraine durch Partnerschaften mit privaten Unternehmen in den NATO-Mitgliedstaaten sein wird.
Eine Einladung bedeutet nicht gleich den Beitritt. Selbst im Falle des rekordverdächtig schnellen NATO-Beitritts Finnlands dauerte der Prozess fast ein Jahr. Eine Einladung an die Ukraine auf dem Gipfel von Vilnius bedeutet daher keine unmittelbare Verpflichtung zur Verteidigung des Landes nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrags.
Entgegen der landläufigen Meinung gibt es keine Beschränkungen für die Aufnahme neuer Länder in die NATO, selbst wenn diese sich im Krieg befinden. Der Absatz 6 der Studie über die NATO-Erweiterung von 1995 (über die Abwesenheit territorialer Streitigkeiten) gilt für die Ukraine nicht. Er bezieht sich auf die Anforderung an einen Beitrittskandidaten, alle Streitigkeiten mit anderen Ländern „mit friedlichen Mitteln im Einklang mit den Grundsätzen der OSZE“ beizulegen. Die Ukraine erhebt jedoch keine Ansprüche auf fremdes Land; im Einklang mit den Normen des Völkerrechts befreit sie ihre eigenen, von Russland besetzten Gebiete. Außerdem hat die Ukraine seit 2014 ihre Bereitschaft zu friedlichen Verhandlungen gezeigt, die der Aggressor abgelehnt hat. Sollte Absatz 6 zu einer Rechtfertigung dafür werden, die Ukraine nicht einzuladen, würde dies bedeuten, dass die NATO Russland ein Veto gegen die Erweiterung des Bündnisses einräumt.
Stattdessen wird die Aussicht auf eine Einladung der Ukraine in das Bündnis das Ende des Krieges beschleunigen, ohne dass Artikel 5 in Anspruch genommen werden muss. Während der derzeitigen entscheidenden Gegenoffensive würde eine Einladung zum NATO-Beitritt die Moral der Ukrainer stärken. Der künftige Beitritt der Ukraine zur NATO würde einen Moment der Unumkehrbarkeit markieren, da die Möglichkeit einer Rückkehr des Landes zum Russischen Reich wegfallen würde – eine Möglichkeit, von deren Wiederherstellung Putin und viele Vertreter der russischen Elite träumen. Im Gegenteil, eine „strategische Unklarheit“ über die Zukunft der Ukraine in der NATO wird Russland nur dazu motivieren, seine Invasion fortzusetzen und die Ukraine nach dem Ende des Krieges erneut anzugreifen.
Es gibt keinen Grund, eine Eskalation zu befürchten. Putin selbst hat Angst vor einer Eskalation, weil er weiß, dass die russische Armee in einer militärischen Konfrontation mit der NATO keine Chance hat. Es besteht auch keine Notwendigkeit, Putin bei der „Gesichtswahrung“ zu helfen. Putins totale Kontrolle über den Medienraum bedeutet, dass der Kreml seinen eigenen Weg finden wird, jedes von ihm gewünschte Narrativ zu verbreiten. Das zeigt beispielsweise die jüngste Erklärung von Putins Sprecher, dass trotz der massiven Lieferung westlicher Waffen an die Ukraine und der Modernisierung ihrer Streitkräfte Russlands „Ziel, die Ukraine zu entmilitarisieren... weitgehend erreicht worden“ sei.
Die Einladung und der weitere Beitritt der Ukraine werden die euro-atlantische Sicherheit stärken. Im Laufe des bereits eineinhalbjährigen vollumfänglichen Krieges haben die ukrainischen Streitkräfte ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, zu einem Pfeiler der Ostflanke der NATO zu werden und Russland, das im Strategischen Konzept der NATO als „bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung“ bezeichnet wird, erheblich abzuschrecken. Während der groß angelegten Invasion haben die ukrainischen Streitkräfte ein hohes Maß an militärischer Interoperabilität und Koordination mit den Bündnismitgliedern erreicht. In verschiedenen Bereichen sind bereits Reformen im Gange, um die Korruption zu bekämpfen und die Rechtsstaatlichkeit zu stärken. Die Einladung der Ukraine in die NATO wird den Reformen im Sicherheits- und Verteidigungssektor weiteren Auftrieb verleihen und die Bereiche der demokratischen zivilen Kontrolle innerhalb der Streitkräfte verbessern.
Die Gesellschaften der NATO-Mitgliedstaaten unterstützen den Beitritt der Ukraine zur NATO. Aus einer kürzlich durchgeführten Meinungsumfrage geht hervor, dass von den Teilnehmern, die ihre Meinung geäußert haben, 70 % der Amerikaner, 56 % der Franzosen, 53 % der Italiener, 55 % der Niederländer und 50 % der Deutschen eine Ausweitung der politischen Einladung der NATO an die Ukraine bereits auf dem Gipfel von Vilnius befürworten. Im eigenen Land verzeichnet die Ukraine eine rekordverdächtige Unterstützung von 82 % für die NATO-Mitgliedschaft. Diese breite Zustimmung dient als einigende Kraft für die Ukraine und räumt mit dem Mythos einer „geteilten Ukraine“ und „pro-russischen Regionen“ auf. Bemerkenswert ist, dass 80 % der Einwohner im Süden und 72 % im Osten der Ukraine die NATO-Mitgliedschaft befürworten. Als Bündnis demokratischer Staaten kann sich die NATO nicht über den Willen ihrer Bürger und der Bürger des Bewerberlandes hinwegsetzen.
Die Einladung der Ukraine zum NATO-Beitritt wird ein wichtiges Signal für Investoren sein, die eine Beteiligung am Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg in Erwägung ziehen, aber über Sicherheitsrisiken besorgt sind. Die künftige Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO wird auch Millionen von Ukrainern signalisieren, dass es sicher ist, in die Ukraine zurückzukehren, und damit einen überzeugenden Grund für die Repatriierung liefern.
Wir fordern daher die NATO-Mitgliedstaaten nachdrücklich auf, sich politisch zu verpflichten, die Ukraine auf dem Gipfeltreffen in Vilnius zügig zum Beitritt in das Bündnis einzuladen. Die ukrainische Zivilgesellschaft wird ihr Partner auf dem Weg zur Mitgliedschaft sein.
Unterschrieben wurde dieser Appell von:
- Center for Civil Liberties, the Nobel Peace Prize Laureate 2022
- New Europe Center
- European Pravda
- Anti Corruption Action Centre
- National Interests Advocacy Network ‘ANTS’
- International Centre for Ukrainian Victory
- Reanimation Package of Reforms Coalition
- Centre for Defence Strategies
- Razumkov Centre
- Foreign Policy Council „Ukrainian Prism“
- DEJURE Foundation
- Transparency International Ukraine
- Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation
- International Renaissance Foundation
- Ukraine Crisis Media Center
- Civil Network OPORA
- Human Rights Center ZMINA
- Institute for Economic Research and Political Consulting
- NGO „SUVIATO“ (The Union of Participants, Veterans, Disabled People of Anti-terrorist operations and Army Actions)
- Ukrainian Centre for Nonviolent Communication and Reconciliation „Dignity Space“
- New Geopolitics Research Network
- Ukrainian Сenter for Independent Political Research
- CHESNO Movement
- Open Dialogue Foundation
- Center for Research on the Liberation Movement
- The Centre for Global Studies „Strategy XXI“
- Charitable Organization „The Black Sea Institute of Strategic Studies“
- Regional Center for Human Rights
- Centre for Economic Strategy
- Agency for Legislative Initiatives
- Ukrainian Foundation for Security Studies
- NGO Independent Defense Anticorruption Commission
- Public organization „All-Ukrainian Forum for Democracy“ (DEMFORUM)
- Transatlantic Dialogue Center
- Ukrainian Association for American Studies
- Resource & Analysis Center „Society and Environment“
- National Assembly of People with Disabilities of Ukraine
- Centre of Policy and Legal Reforms
- Strategic and Security Studies Group
- Civil Organization „Centre for International Security“
- Ukrainian Foreign Policy Association
- Think tank StateWatch (Kyiv-based)
- Cedos think tank
- Internews Ukraine
- Center of Social Initiatives „Prospect“
- Ukrainian women lawyers association JurFem
- NGO „Veles+“
- Partnership for Every Child
- Ukrainian Foundation for Public Health
- NGO League of Social Workers of Ukraine
- Open Policy Foundation
- NGO „Parents for Vaccination“
- Association of Cinematographers of Ukraine
- Regional Press Development Institute
- Centre for Social and Gender Research „New Life“
- NGO Euroatlantic course
- Kharkiv Anticorruption Center
- Institute for Central European Strategy
- Ukrainian Centre for European Policy
- DiXi Group
- NGO „Promotion of Intercultural Cooperation“ (Ukraine Analytica)
- School for Policy Analysis NaUKMA
- Anti-Corruption Research and Education Centre
- Data Journalism Agency (TEXTY)
- Bureau of Gender Strategy and Budgeting
- Centre of United Actions
- Civil Organization „Institute of Applied Humanitarian Research“(Kharkiv)
- VoxUkraine
- NGO „New Solutions Center“
- NGO „Detector Media“
- Analytical Center of the Ukrainian Catholic University
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