5 Jahre Maidan (1/​4): „Leider ist es uns nicht gelun­gen, das System zu verändern“

Mustaja Najem gilt als einer der Initia­tio­ren der Euro­mai­dan Pro­teste, die im Februar 2014 in der Flucht und Amts­ent­he­bung des Prä­si­den­ten Wiktor Janu­ko­wytsch mün­de­ten. Mit ihm spra­chen wir über seine Ein­schät­zung der letzten fünf Jahre und des Super­wahl­jahrs 2019.

Am 21. Novem­ber 2013 gab die ukrai­ni­sche Regie­rung über­ra­schend nach starkem Druck der rus­si­schen Regie­rung bekannt, das Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der Euro­päi­schen Union vorerst nicht unter­zeich­nen zu wollen. Der Inves­ti­ga­ti­v­jour­na­list Mustaja Najem und andere riefen dar­auf­hin zu fried­li­chen Pro­tes­ten auf dem Unab­hän­gig­keits­platz in Kyjiw auf. Der pro-euro­päi­sche Protest wurde kurze Zeit später zu einer breiten Pro­test­be­we­gung gegen den Prä­si­den­ten und seine Regie­rung. Kurz nach dem fünften Jah­res­tag des Pro­test­be­ginns spra­chen wir im Rahmen einer Kon­fe­renz der Hein­rich-Böll-Stif­tung mit Mustafa Najem, Arkady Ost­row­sky, Andrij Was­ko­wycz und Andrij Portnow darüber, wie sie die ver­gan­ge­nen fünf Jahre bewer­ten und wie sie auf das so wich­tige Super­wahl­jahr 2019 schauen. Den Auftakt macht der Par­la­ments­ab­ge­ord­nete und Jour­na­list Mustaja Najem.

Was hat sich 5 Jahre nach dem Maidan ver­än­dert und wie kann man dieser Ver­än­de­rung an prak­ti­schen Bei­spie­len festmachen?

Mustafa Najem: Zunächst möchte ich sagen, dass wir das Ver­hält­nis zwi­schen Regie­rung und Volk ver­än­dert haben. Fünf Jahre nach dem Maidan kann man beob­ach­ten, dass die Rechen­schafts­pflicht und Trans­pa­renz der Regie­rung viel höher sind als je zuvor. Wir haben eine Art Explo­sion der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft auf allen Ebenen des Landes erlebt. Ein zweites Thema, das für uns sehr wichtig ist, sind die Refor­men zur Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung. Wir haben uns neue Insti­tu­tio­nen gegeben. Natür­lich waren diese bisher nicht in der Lage, die Kor­rup­tion in dieser kurzen Zeit zu besei­ti­gen und nicht alle dieser neuen Insti­tu­tio­nen funk­tio­nie­ren sehr gut.

Viel­mehr haben wir gesehen, dass das Problem bei der Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung darin besteht, hohe Per­sön­lich­kei­ten des alten und gegen­wär­ti­gen Systems ins Gefäng­nis zu bringen. Die Pro­bleme sind die Gerichte, die nach wie vor von alten Rich­tern besetzt sind. Genau des­we­gen haben wir jetzt ein neues Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richt geschaf­fen. Jetzt bleibt es abzu­war­ten, wer dort als Richter bestä­tigt wird. Aber die Erwar­tun­gen sind groß.

Vor fünf Jahren hatten wir das große Ziel, das Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der EU zu bekom­men. Wir haben das Abkom­men bekom­men und vor allem ist es uns gelun­gen, einen visa­freien Zugang nach Europa zu erhal­ten. Das war für uns von zen­tra­ler Bedeutung.

Wenn wir tiefer in die Details der Refor­men gehen, denke ich, dass eine der erfolg­reichs­ten die Dezen­tra­li­sie­rung ist. Sie macht die Kom­mu­nen viel unab­hän­gi­ger von der Zen­tral­macht. Plötz­lich sind die Städte fast gänz­lich für den Haus­halt, die lokale Politik und die Stra­te­gien ver­ant­wort­lich. Ich denke, als Resul­tat dieser Reform enste­hen viele neue, junge Füh­rungs­kräfte, Poli­ti­ker und eine neue Zivil­ge­sell­schaft auf lokaler Ebene eben nicht nur in Kiew.

Wir sind von einem der kor­rup­tes­ten Länder zu einem Land mit einem preis­ge­krön­ten Online und extrem trans­pa­ren­ten Beschaf­fungs­sys­tem über­ge­gan­gen. Das ist eine der sicht­bars­ten Errun­gen­schaf­ten von Maidan. 

Das öffent­li­che Beschaf­fungs­we­sen ist ein wei­te­rer Erfolg. Wir sind von einem der kor­rup­tes­ten Länder zu einem Land mit einem preis­ge­krön­ten Online und extrem trans­pa­ren­ten Beschaf­fungs­sys­tem über­ge­gan­gen. Das ist eine der sicht­bars­ten Errun­gen­schaf­ten von Maidan.

Ich könnte mit anderen kleinen Refor­men fort­fah­ren, von denen viele kom­pli­ziert sind und trotz Stocken immer noch umge­setzt werden, wie Ener­gie­ef­fi­zi­enz, Poli­zei­re­form und Refor­men des Sicher­heits­sek­tors. All diese Fragen sind die Ergeb­nisse des Maidans.

Im Wesent­li­chen haben wir in den letzten vier Jahren mehr Refor­men durch­ge­führt als in allen Jahren seit der Unab­hän­gig­keit zusammen. 

Im Wesent­li­chen haben wir in den letzten vier Jahren mehr Refor­men durch­ge­führt als in allen Jahren seit der Unab­hän­gig­keit zusammen.

Trotz­dem bin ich frus­triert über die Mono­pole der Olig­ar­chen, die immer noch die Medien und große Teile der Wirt­schaft, ein­schließ­lich Energie, sowie große Teile der Fer­ti­gung kon­trol­lie­ren. Leider ist es uns nicht gelun­gen, das System zu ver­än­dern. Als ich und andere nach Maidan in die Politik gegan­gen sind, stießen wir auf einen sehr starken Wider­stand des eta­blier­ten Systems. Ich habe keine Ahnung, wie man sie ohne erheb­li­che Res­sour­cen und Zugang zu den Medien bekämp­fen kann.

Was sind Hoff­nun­gen und Ängste für das Jahr 2019?

Ich denke, die beste Nach­richt über 2019 ist, dass kaum etwas vor­her­zu­se­hen ist. Wenn man nicht weiß, wer die nächs­ten Wahlen gewin­nen wird, ist das ein Zeichen für einen demo­kra­ti­schen Prozess, oder? Die schlechte Nach­richt ist, dass das alte System lebt und leider immer noch sehr mächtig ist. Die alte Garde gibt Hun­derte von Mil­lio­nen für poli­ti­sche Werbung der ver­schie­dens­ten Kan­di­da­ten, Berater und Agi­ta­to­ren offline und online aus. Also, ich denke, dass der Wider­stand des Systems die größte Bedro­hung für 2019 ist.

Wenn man nicht weiß, wer die nächs­ten Wahlen gewin­nen wird, ist das ein Zeichen für einen demo­kra­ti­schen Prozess, oder? 

Die größte Hoff­nung für uns ist, dass viele Men­schen, die sich 2004 und 2013 orga­ni­siert haben, bereit und viel reifer sind. Ich denke, wir werden her­aus­fin­den, wie wir unsere Anstren­gun­gen bündeln können. Letzt­end­lich müssen wir die Kraft sein, die das System bedroht und die Ideale der Revo­lu­tion der Würde verwirklichen.

In den nächs­ten Wochen werden wir ver­su­chen, eine Bewe­gung zu schaffen. 

In den nächs­ten Wochen werden wir ver­su­chen, eine Bewe­gung zu schaf­fen. Wir werden ver­su­chen, die Men­schen zu finden, die wir vor vier Jahren ver­lo­ren haben und die von den Ergeb­nis­sen ent­täuscht sind. Es wird eine Bewe­gung von Men­schen sein, die nicht ent­täuscht sind, um die­je­ni­gen zu inspi­rie­ren, die ent­täuscht sind. Wenn die Revo­lu­tion nicht her­aus­fin­den wird, wie sie zur Evo­lu­tion werden kann und eben beharr­lich, spür­bare Ver­än­de­run­gen her­bei­führt, steht uns in drei oder sieben Jahren ein wei­te­rer Maidan bevor.

Wann werden Sie Ihre genauen Pläne bekannt geben?

Das Kriegs­recht hat unsere Stra­te­gie ver­än­dert. Und jetzt ver­su­chen wir, unsere Stra­te­gie mit den Frak­tio­nen, Par­teien und Ein­zel­per­so­nen abzu­stim­men, die sich derzeit auf die Prä­si­dent­schafts­wah­len vor­be­rei­ten. Ich denke, in diesem Jahr werden wir es bekannt geben und die Haupt­ak­ti­vi­tät wird Anfang nächs­ten Jahres begin­nen. Wir haben nicht so viel Zeit und Res­sour­cen wie Macron, aber wir werden es ver­su­chen, und wir werden die gleiche Tech­no­lo­gie und Stra­te­gie wie Obama, Sanders und später Macron verwenden.

Mustafa Nayyem ist ein ukrai­ni­scher Poli­ti­ker Jour­na­list und Akti­vist. Er ist seit Oktober 2014 Abge­ord­ne­ter des ukrai­ni­schen Par­la­ments. Najem war einer der ersten, der im Novem­ber 2013 via Face­book zum Protest auf dem Unab­hän­gig­keits­platz in Kiew gegen Wiktor Janu­ko­wytsch aufrief.

Das Inter­view führte Mattia Nelles.

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