Warum die Ukraine nicht Afgha­ni­stan ist

Eine Abord­nung von US-Sol­da­ten während der Mili­tär­pa­rade zum 30. Unab­hän­gig­keits­tag am 24. August 2021 in Kyjiw © Beau­tiful land­scape /​ Shut­ter­stock

Eine Gruppe US-Sol­da­ten nimmt an der Parade zum zum 30. Unab­hän­gig­keits­tag der Ukraine am 24. August in Kyjiw teil. 2021, © Beau­ti­ful land­s­cape /​​ Shut­ter­stock

Ange­sichts der Bilder aus Afgha­ni­stan fragen sich die Ver­ant­wort­li­chen in anderen Ländern, die sich auf US-Unter­stüt­zung ange­wie­sen fühlen, was ihre Part­ner­schaft mit Washing­ton eigent­lich wert ist. Auch für die Ukraine ist diese Sorge nicht unbe­rech­tigt. Aller­dings gibt es eine Menge Unter­schiede, schreibt Joel Wasserman.

Die Ukrai­ner müssen nicht befürch­ten, das gleiche Schick­sal zu erlei­den wie das afgha­ni­sche Volk.

Zum einen ist die mili­tä­ri­sche und poli­ti­sche Unter­stüt­zung der USA dra­ma­tisch anders und die Ukraine ver­tei­digt sich mit eigenem Blut und über­wie­gend eigenen Kugeln. Der wich­ti­gere Unter­schied ist aber, dass die afgha­ni­sche Regie­rung jahr­zehn­te­lang glaubte, die USA und der Westen würden den Taliban niemals erlau­ben, das Land zu über­ren­nen, während sich die heutige ukrai­ni­sche Regie­rung darauf vor­be­rei­tet, dass die aus­län­di­sche Unter­stüt­zung nicht gren­zen­los ist.

Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj trat 2019 sein Amt mit einer Reihe beängs­ti­gen­der außen­po­li­ti­scher Her­aus­for­de­run­gen an. Trotz der aus­län­di­schen Glück­wün­sche war es um die Bezie­hun­gen Kyjiws zu seinen vier wich­tigs­ten Ver­bün­de­ten nicht zum Besten bestellt. Groß­bri­tan­nien war auf dem Weg zum EU-Aus­tritt und ver­zich­tete auf sein Mit­spra­che­recht in EU-Ange­le­gen­hei­ten. Frank­reichs Prä­si­dent Emma­nuel Macron arbei­tete ange­sichts der Feind­se­lig­keit der Trump-Regie­rung an einer euro­päi­schen Sicher­heits­ar­chi­tek­tur, die weniger von den USA abhän­gig war und dafür einen Modus Vivendi mit Russ­land erfor­derte. Und Angela Merkel, die das EU-Sank­ti­ons­sys­tem gegen Russ­land maß­geb­lich zusam­men­ge­hal­ten hatte, hatte ange­kün­digt, 2021 aus der Politik auszuscheiden.

Unter Biden konnte es nur besser werden

Dann, nur fünf Tage nachdem seine Partei bei den Rada-Wahlen eine his­to­ri­sche Mehr­heit errang, erhielt Selen­skyj den berüch­tig­ten Anruf von Donald Trump, in dem der US-Prä­si­dent ver­langte, dass sich Kyjiw an einer Schmutz­kam­pa­gne gegen Joe Biden betei­ligt, wenn es US-Mili­tär­hilfe erhal­ten will.

Die Ukrai­ner hatten Grund, einer Prä­si­dent­schaft Bidens opti­mis­tisch ent­ge­gen­zu­se­hen. Als Ukraine-Ver­ant­wort­li­cher der Obama-Regie­rung war er zu einem guten Freund des Landes gewor­den, der dessen euro­päi­schen Ambi­tio­nen unter­stützte. Zwar hatten Trumps Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter James Mattis und sein Natio­nale Sicher­heits­be­ra­ter H.R. McMas­ter die Politik der Obama-Regie­rung rück­gän­gig gemacht, und Kyjiw ent­ge­gen Trumps Beden­ken Angriffs­waf­fen gelie­fert. Doch diese Politik endete, als Mattis und McMas­ter ihre Ämter ver­lo­ren und Trumps Anwalt Rudy Giu­liani mit der Affäre um Bidens Sohn Hunter die Auf­merk­sam­keit des Prä­si­den­ten auf die Ukraine lenken konnte. Wäre Trump wie­der­ge­wählt worden, hätte er wohl eine Menge Wut auf die Ukraine pro­ji­ziert, die ja das Thema seines ersten Amts­ent­he­bungs­ver­fah­rens war. Unter einem Prä­si­dent Biden konnten die Dinge für die Ukraine also nur besser werden.

Und doch ist sieben Monate nach Bidens Amts­an­tritt klar, dass nicht alle Partner gleich­mä­ßig vom „Come­back“ Ame­ri­kas pro­fi­tie­ren. Biden hat zwar die Prio­ri­tät der trans­at­lan­ti­schen Part­ner­schaft Ame­ri­kas wie­der­her­ge­stellt, aber einige dieser Partner sind eben wich­ti­ger als andere. Mit seiner Wei­ge­rung, die Fer­tig­stel­lung der Nord-Stream-2-Pipe­line zu blo­ckie­ren, machte Biden deut­lich, dass die deutsch-ame­ri­ka­ni­sche Part­ner­schaft Vorrang vor der ame­ri­ka­nisch-ukrai­ni­schen hat. Deutsch­land soll ein wich­ti­ger Partner bei der Ein­däm­mung von chi­ne­si­schem Ein­fluss in Europa sein, die Ukraine hin­ge­gen nicht. Und Deutsch­land ist nicht bereit, sein eigenes Inter­esse an zuver­läs­si­gen rus­si­schen Gas­lie­fe­run­gen vom ukrai­ni­schen Inter­esse an wei­te­ren Gas­trans­por­ten über­la­gern zu lassen.

Es scheint aber, dass Prä­si­dent Selen­skyjs Leute ver­stan­den haben, dass die Ukraine nicht zu den großen Gewin­nern von Bidens Außen­po­li­tik gehören. Denn wenn sie sich sicher wären, dass der Westen sie weiter unter­stützt, würden sie nicht ihre NATO- und EU-Partner mit Fragen über die Bei­tritts­aus­sich­ten der Ukraine in Ver­le­gen­heit bringen. Sie wissen, dass die Antwort unver­än­dert negativ ist und dass sie Nord Stream 2 nicht mehr stoppen können. Viel­mehr geht es ihnen wohl um klei­nere Zuge­ständ­nisse, wie mehr Militär- und Wirt­schafts­hilfe oder eine glaub­wür­di­gere Bestra­fung Russ­lands, falls Moskau den Gas­zu­gang als Waffe gegen die Ukraine ein­setzt. Am 20. August gab es eine erste Genug­tu­ung, als die USA neue Sank­tio­nen gegen Russ­land wegen Nord Stream 2 ankündigten.

Die Biden-Regie­rung hat sich nicht völlig gleich­gül­tig gegen­über der Ukraine ver­hal­ten. Schon früh unter­stütz­ten die USA die Ent­schei­dung Selen­skyjs, drei Fern­seh­sen­der zu sperren, die von Wiktor Med­wedt­schuk kon­trol­liert werden, der als Putins Haupt­ver­bün­de­ter in der Ukraine gilt. Dies war ein deut­li­ches Zeichen dafür, dass Washing­ton Kyjiws Sorgen um Sicher­heit und Sou­ve­rä­ni­tät höher bewer­tet als Mei­nungs­frei­heit und Demo­kra­tie. Darüber hinaus stritt Biden selbst mit Putin über den rus­si­schen Trup­pen­auf­marsch an der Grenze zur Ukraine (der womög­lich nur statt­fand, um genau diese ame­ri­ka­ni­sche Auf­merk­sam­keit zu erregen). Auf der anderen Seite muss Washing­ton für solche Schritte keinen hohen Preis bezahlen.

Selen­skyj tut Dinge, die Poro­schenko sich nie getraut hätte

Die Ent­schei­dung, Med­wedt­schuks Medi­en­im­pe­rium zu zer­schla­gen und ihn und seinen Partner Taras Kosak wegen Verrats anzu­kla­gen, zeigt, dass Selen­skyj bereit ist, die ukrai­ni­sche Politik so auf­zu­rüt­teln, wie es sein Vor­gän­ger Petro Poro­schenko nie getan hat. Das­selbe gilt für das jüngste Vor­ge­hen gegen die rechts­extreme Orga­ni­sa­tion Asow und Per­so­nen aus ihrem Umfeld.

Doch nicht alle von Selen­skyjs poli­ti­schen Kon­kur­ren­ten werden derzeit unter Druck gesetzt. Die Ermitt­lun­gen gegen Poro­schenko vom Anfang des Jahres sind weit­ge­hend abge­klun­gen, und Selen­skyj scheint nicht viel zu tun, um den Olig­ar­chen Rinat Ach­me­tow zu ver­är­gern, der reichste Mann des Landes und Chef des zweit­größ­ten pro-Rus­si­schen Clans in der ukrai­ni­schen Politik.

Während Poro­schen­kos Politik deut­lich natio­na­lis­ti­scher war als die von Selen­skyj, sehen beide Männer die Zukunft der Ukraine im Westen – abge­se­hen von Unstim­mig­kei­ten über die Kon­di­tio­nen für inter­na­tio­nale Kre­dit­ge­ber. Und im Gegen­satz zu Medwet­schuk befin­det sich Ach­me­tows Ver­mö­gen über­wie­gend inner­halb der Ukraine, was bedeu­tet, dass seine Inter­es­sen eher mit denen Kyjiws als mit denen Moskaus ver­bun­den sind. Außer­dem verfügt Ach­me­tow über Inter­es­sen in der gesam­ten ukrai­ni­schen Politik- und Medi­en­land­schaft, weshalb das pro­eu­ro­päi­sche Estab­lish­ment auf ihn ange­wie­sen ist.

Viel­leicht ist das Kaf­fee­satz­le­se­rei, und in Wirk­lich­keit ist Selen­skyj nur ein Schlaf­wand­ler. Aber ich hoffe, dass alles was wir sehen, das Ergeb­nis stra­te­gi­scher Planung von Selen­skyjs Team ist. Denn nur so kann die staat­li­che Unab­hän­gig­keit der Ukraine in einer Zukunft auf­recht­erhal­ten werden, in der der Westen nicht bereit ist, dafür Opfer zu bringen.

Joel Was­ser­man stu­diert ukrai­ni­sche Politik. Er hat als Wahl­be­ob­ach­ter und Berater für NGOs in der Ukraine gear­bei­tet und ist ehren­amt­lich für eine Hilfs­or­ga­ni­sa­tion für ukrai­ni­sche Vete­ra­nen des Donbas-Kriegs tätig.

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