Mani­fest der Zivil­ge­sell­schaft 2022 – Erklä­rung von Lugano

Foto: Michael Derrer Fuchs /​ Shut­ter­stock

Am 4. Juli haben Mit­glie­der der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft ein „Mani­fest der Zivil­ge­sell­schaft“ (Erklä­rung von Lugano) auf der Kon­fe­renz zum Wie­der­auf­bau der Ukraine („Ukraine Reco­very Con­fe­rence“) in Lugano vor­ge­stellt. Nach­ste­hend finden Sie den voll­stän­di­gen Text des Mani­fests in deut­scher Sprache.

Wir, ukrai­ni­sche Männer und Frauen unter­schied­li­cher Her­kunft, Sprache, Bildung, Welt­an­schau­ung und Glauben, Berufe und Inter­es­sen, sind durch das gemein­same Ver­ständ­nis dieser schwie­ri­gen Her­aus­for­de­rung, vor der die Ukraine und die Welt stehen, vereint. Uns treibt der uner­mess­li­che Wunsch an, die Men­schen und die Mensch­heit zu schüt­zen und die schreck­li­che Zer­stö­rung von Leben zu ver­hin­dern. Denn dies hat den größten Wert der mensch­li­chen Zivilisation.

Wir sind uns bewusst, dass wir uns mitten in einem Krieg für die Unab­hän­gig­keit der Ukraine befin­den, der für unsere EU-Nach­barn ein Krieg für euro­päi­sche Werte ist, ein Krieg für eine gerech­tere Welt­ord­nung für die Men­schen in der ganzen Welt und ein Krieg, der Hoff­nung auf die Trans­for­ma­tion des impe­ria­len Russ­lands gibt.

Jeder der Maidan-Pro­teste in den Jahren 1990, 2004 und 2014 war – genau wie der heutige Krieg – ein his­to­ri­scher Wen­de­punkt, der uns von einem tota­li­tä­ren Erbe, das über Gene­ra­tio­nen hinweg ein­ge­wirkt hat und Mil­lio­nen von Men­schen das Leben kostete, distan­zierte. Die ukrai­ni­sche Gesell­schaft hat immer klar und bewusst ein fried­li­ches Leben, ein demo­kra­ti­sches Regie­rungs­sys­tem und ein breites Spek­trum an Frei­hei­ten und Wohl­stand gefor­dert – all das, was in euro­päi­schen Gesell­schaf­ten geschätzt wird.

Die Wie­der­her­stel­lung der Infra­struk­tur und des fried­li­chen Lebens in der Ukraine sollte nach neuen Stan­dards erfol­gen und zur Nach­hal­tig­keit der neuen Insti­tu­tio­nen bei­tra­gen. Die Last des Krieges und das damit ver­bun­dene Leid sollten die poli­ti­schen Eliten und einige Mit­glie­der der Gesell­schaft nicht dazu bewegen, auto­ri­täre Regie­rungs­sys­teme zu unter­stüt­zen und popu­lis­ti­sche Lösun­gen zu suchen. Unsere moderne Geschichte zeigt über­zeu­gend, dass unsere Part­ner­schaf­ten und unsere staat­li­chen Insti­tu­tio­nen in kri­ti­schen Momen­ten durch die Ein­be­zie­hung der Zivil­ge­sell­schaft, von Netz­werk­in­itia­ti­ven, Frei­wil­li­gen­grup­pen und Pri­vat­in­itia­ti­ven gestärkt werden müssen, deren Bei­träge die Refor­men nach­hal­tig machen und ihre Rück­ab­wick­lung verhindern.

Daher wollen wir bei aller Aner­ken­nung unserer Viel­falt und Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten gemein­same Grund­sätze und einen Rahmen für die Zukunft erklä­ren, für die Mil­lio­nen von Ukrai­nern täglich ihr Leben ris­kie­ren. Alle Ent­schei­dun­gen über das künf­tige System und den Wie­der­auf­bau der Ukraine müssen die fol­gen­den Kri­te­rien erfüllen:

  1. Die Ukraine ist ein Staat mit einer euro­päi­schen Iden­ti­tät, der gemein­same Werte und eine gemein­same Geschichte mit anderen euro­päi­schen Natio­nen teilt und sich als Teil der euro­päi­schen Familie betrachtet.
  2. Die Ukraine ist eine reprä­sen­ta­tive Demo­kra­tie mit einem wett­be­werbs­fä­hi­gen poli­ti­schen Prozess, mit poli­ti­schen Eliten, die durch ein legales Ver­fah­ren wech­seln, mit fairen und freien Wahlen, mit Mei­nungs­frei­heit und unab­hän­gi­gen Medien, mit geschütz­ten Men­schen­rech­ten und einer fähigen lokalen Selbstverwaltung.
  3. Die Ukraine ist eine offene Markt­wirt­schaft mit glei­chen Regeln für alle und mini­ma­len staat­li­chen Ein­grif­fen, die durch Gesetze begrenzt sind.
  4. Die Ukraine ist ein geschütz­ter Raum für die Ent­wick­lung der ukrai­ni­schen und krim­ta­ta­ri­schen Kultur sowie der gegen­wär­ti­gen Viel­falt ver­schie­de­ner Kul­tu­ren und Identitäten.
  5. Die Ukrai­ner werden auf allen Ebenen in den Ent­schei­dungs­pro­zess über ihre Zukunft ein­be­zo­gen. Alle Ent­schei­dungs­pro­zesse sind trans­pa­rent und par­ti­zi­pa­tiv. Ent­schei­dun­gen werden mit Blick auf ihre lang­fris­ti­gen Folgen dis­ku­tiert und getroffen.
  6. Niemand hat ein Monopol auf Ent­schei­dun­gen, die alle betref­fen. Die Zivil­ge­sell­schaft ist ein wich­ti­ges Instru­ment für die Betei­li­gung der Bürger am öffent­li­chen Leben. Natio­nale und lokale Regie­run­gen sind offen für die Inter­ak­tion mit der Zivilgesellschaft.

Rote Linien, deren Über­schrei­tung unter keinen Umstän­den akzep­ta­bel ist, da sie exis­ten­zi­elle Risiken für die Ukraine und die Ukrai­ner mit sich bringen:

  1. Verlust der staat­li­chen Unab­hän­gig­keit und ter­ri­to­ria­len Inte­gri­tät, Depor­ta­tion von Bürgern, Ver­wei­ge­rung des Schut­zes der Menschenrechte.
  2. Ein­frie­ren des Kon­flikts oder Auf­schie­ben seiner Lösung, was es der Rus­si­schen Föde­ra­tion ermög­li­chen würde, sich zu erholen und stärker zu werden, um den Krieg gegen die Ukraine fort­zu­set­zen oder Hin­der­nisse für die Ent­wick­lung der Ukraine zu schaffen.
  3. Zer­stö­rung oder Unter­drü­ckung der Iden­ti­tät, Kultur, Sprache, Rechte und Frei­hei­ten der Bürger.
  4. Demon­tage der demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen, des Systems der gegen­sei­ti­gen Kon­trolle, Ableh­nung des demo­kra­ti­schen Pro­zes­ses oder dessen Manipulation.
  5. Ver­stärk­ter staat­li­cher Inter­ven­tio­nis­mus in der Wirtschaft.
  6. Gerin­gere Trans­pa­renz in der öffent­li­chen Ver­wal­tung, Aus­wei­tung von Prak­ti­ken, die zu Kor­rup­tion führen.
  7. Ableh­nung der euro­päi­schen und euro-atlan­ti­schen Integration.

Vor­ran­gige Auf­ga­ben für die Ent­wick­lung der Ukraine:

  1. Wie­der­her­stel­lung und Stär­kung der natio­na­len Sicher­heit, auch durch den Bei­tritt zum System der kol­lek­ti­ven Sicherheit.
  2. Wie­der­her­stel­lung und Schutz der mensch­li­chen Sicher­heit, auch vor dem tota­li­tä­ren Erbe der sowje­ti­schen Prak­ti­ken im ukrai­ni­schen poli­ti­schen System; Schaf­fung von Bedin­gun­gen für die Rück­kehr von Bürgern, die gezwun­gen wurden, ihre Heimat zu ver­las­sen oder die depor­tiert oder gefan­gen genom­men wurden.
  3. Schutz und Ent­wick­lung eines demo­kra­ti­schen Regie­rungs­sys­tems sowie der poli­ti­schen Rechte und Frei­hei­ten der Bürger.
  4. Her­stel­lung der Rechts­staat­lich­keit, Schaf­fung eines unab­hän­gi­gen, auf Inte­gri­tät beru­hen­den Jus­tiz­sys­tems und eines effi­zi­en­ten und gerech­ten Systems der Strafverfolgung.
  5. Ganz­heit­li­che Ent­wick­lung des Human­ka­pi­tals, Moder­ni­sie­rung des Wis­sen­schafts- und Bil­dungs­sys­tems, Auf­ar­bei­tung his­to­ri­scher Trau­mata, Stär­kung der Achtung der Menschenwürde.
  6. Schutz aller Arten von Eigen­tums­rech­ten und För­de­rung aller pri­va­ten Initia­ti­ven, die Bedin­gun­gen für die freie Ent­wick­lung des Unter­neh­mer­tums schaffen.
  7. Ent­wick­lung der lokalen Selbst­ver­wal­tung und Sub­si­dia­ri­tät in der öffent­li­chen Verwaltung.
  8. Erho­lung der Bevöl­ke­rung und der natür­li­chen Umwelt über die his­to­ri­schen Auf­zeich­nun­gen hinaus, Moder­ni­sie­rung der Wirt­schaft und der Infra­struk­tur, euro­päi­sche Integration.

Alle Maß­nah­men, die darauf abzie­len, der Ukraine in diesem ent­schei­den­den Moment der Geschichte zu helfen, müssen die oben genann­ten Kri­te­rien erfül­len. Die Fest­le­gung der Vision für die Nach­kriegs­ukraine, der Stra­te­gie für Wie­der­auf­bau und Moder­ni­sie­rung sowie kon­kre­ter Pläne und Pro­jekte auf allen Ebenen sollte nicht in einem engen Kreis und unter dem Druck der aktu­el­len Umstände erfol­gen, sondern in offener, trans­pa­ren­ter und inklu­si­ver Weise unter Ein­be­zie­hung der rele­van­ten Akteure. In all unserer Viel­falt sind wir – Frei­wil­lige, Akti­vis­ten, Unter­neh­mer, Geschäfts­leute, Fach­leute – durch den gemein­sa­men Wunsch geeint, diese Grund­sätze umzu­set­zen, denn dies ist unser Beitrag zu einer gemein­sa­men Zukunft.

Unter­schrif­ten:

  • Centre for Civil Liberties
  • Euro­mai­dan SOS
  • Euro­pean Pravda NGO
  • Anti-Cor­rup­tion Action Centre
  • Plast, Natio­nal Scout Orga­ni­sa­tion of Ukraine
  • Civil Network OPORA
  • Ilko Kuche­riv Demo­cra­tic Initia­ti­ves Foundation
  • Fund for the Support of Pro­fes­sio­nal Poli­ti­cal Development
  • Insti­tute of Poli­ti­cal Education
  • Busi­ness Com­mu­nity BOARD
  • CEO Club
  • Inde­pen­dent Anti-Cor­rup­tion Com­mis­sion – NAKO
  • Agency of Effi­ci­ent Solutions
  • School for Policy Ana­ly­sis at Natio­nal Uni­ver­sity of Kyiv-Mohyla Academy
  • Open Society of Ukraine NGO, School of Local Self-Governance
  • Elec­tion Council UA Civic Initiative
  • Centre for Eco­no­mic Strategy
  • Asso­cia­tion Energy Effi­ci­ent Cities of Ukraine
  • Agency for Legis­la­tive Initiatives
  • Ukrai­nian School of Poli­ti­cal Studies
  • CHESNO Move­ment
  • Inter­na­tio­nal Change Agency
  • Museum of Con­tem­po­rary Art NGO
  • Ukraї­ner
  • League of Science Deve­lo­p­ment NGO
  • Natio­nal Edu­ca­tio­nal Asso­cia­tion NGO
  • Misto-Sad NGO
  • BCD NGO
  • Human Rights Vector NGO
  • Crimean Centre for Busi­ness and Cul­tu­ral Coope­ra­tion Ukrai­nian House NGO
  • Arts Council Dia­lo­gue, Lviv City NGO
  • Foun­da­tion for Social Inno­va­tions Country to Ukraine
  • New Wave of Zatoka NGO
  • Spe­cials’ Voice NGO
  • Detec­tor Media NGO
  • Stand with Ukraine Foun­da­tion, Poland
  • Ukrai­nian Guild of Direc­tors NGO
  • People’s Aut­ho­rity and Direct Demo­cracy NGO
  • Centre of Social Trans­for­ma­ti­ons NGO
  • YODA Youth Demo­cra­tic Association
  • Country of Free Com­mu­ni­ties NGO
  • Ukrai­nian LGBT Mili­tary for Equal Rights NGO
  • Open Dia­lo­gue Foundation
  • Coali­tion for Culture NGO
  • EuroAt­lan­tic Course NGO
  • Kyiv Secu­rity Forum
  • Ukrai­nian World NGO
  • Ukrai­nian Para­le­gal Asso­cia­tion (UPA)
  • Pro­fes­sio­nal Govern­ment Asso­cia­tion (PGA)
  • We Are Kherson Citi­zens Busi­ness Association
  • Sta­te­Watch NGO
  • Zapo­rizhz­hia Agri­cul­tu­ral Chamber NGO
  • All-Ukrai­nian NGO Women’s Con­sor­tium of Ukraine
  • Com­mu­nity Time NGO, Advo­cacy and Ana­ly­ti­cal Platform
  • Union of Initia­tive Youth (SIM)
  • Centre of United Actions
  • Youth NGO STAN
  • Civic Space Infor­ma­tion and Ana­ly­ti­cal Centre
  • Trans­at­lan­tic Dia­lo­gue Centre
  • Mys­tets­kyi Arsenal Natio­nal Culture, Arts and Museum Complex
  • UFRA NGO
  • Insight NGO
  • Respon­si­ble Citi­zens’ Association
  • Saint Olga Com­mu­nity Foun­da­tion of Gola Pristan, Charity Organisation
  • Insti­tute of Legis­la­tive Ideas
  • Harvard Club of Ukraine
  • Liberal Club Kharkiv Regio­nal NGO
  • Vostok-SOS Charity Foundation
  • For Every Child Partnership
  • DEJURE Foun­da­tion
  • Inter­news Ukraine
  • Litsey Sumy Youth NGO
  • Initia­tive Centre to Support Social Action Ednan­nia (ISAR Ednannia)
  • League of Pro­fes­sio­nal Women NGO
    (und andere NGOs)

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