Zwi­schen Insta und Dance­f­loor – „Stop-Zemlia“ ver­mit­telt die Welt­sicht ukrai­ni­scher Teenager

Niemand ist bereit für die Puber­tät. Erwach­sene schon gar nicht. Doch sie sind es, die Kino­filme über uns drehen. Gelingt es Kateryna Gor­no­s­tai, die Welt der Teen­ager von heute zu ergrün­den? Die 19-Jährige Daryna Rudo hat beim Young Critics Work­shop der Ukrai­ni­schen Film­fest­tage in Berlin teil­ge­nom­men und gibt eine Antwort auf diese Frage.

„Stop-Zemlia“¹ ist das Lang­film­de­büt der ukrai­ni­schen Regis­seu­rin Kateryna Gor­no­s­tai. Der Film wurde im Rahmen der Ber­li­nale auf dem Wett­be­werb „Gene­ra­tion 14plus“ vor­ge­führt und mit dem „Glä­ser­nen Bären“ der Jugend­jury aus­ge­zeich­net. Er gewann auch drei Aus­zeich­nun­gen auf dem Odesa Inter­na­tio­nal Film Fes­ti­val – den Grand Prix, den Preis als bester ukrai­ni­scher Spiel­film sowie für die beste schau­spie­le­ri­sche Leistung.

Der Film beleuch­tet den Lebens­ab­schnitt der Ado­les­zenz – jenen geheim­nis­vol­len Über­gang vom Kind­sein ins Erwach­se­nen­al­ter und den Auf­ent­halt zwi­schen diesen beiden Welten. Es geht um die 11. Klasse – um Mascha, Senja, Jana, um genau zu sein; und um starke Freund­schaft, mono­lo­gi­sche Liebe, leise Zweifel und laute Enttäuschung.

Der doku­men­tar­fil­me­ri­sche Hin­ter­grund der Regis­seu­rin macht sich nicht nur in den Inter­view-Ein­la­gen, den Live-Ein­stel­lun­gen und der Rea­li­täts­nähe bemerk­bar, sondern auch in der Arbeit mit den Teen­agern. Vor Dreh­be­ginn durch­lie­fen sie ein Labor, wo sie sich mit­hilfe von Bewe­gungs- und Stimm­übun­gen mit dem eigenen Körper aus­ein­an­der­set­zen, sich an die Kamera gewöhn­ten und sich nicht nur unter­ein­an­der, sondern auch mit der Film­crew bekannt machten. Kateryna war die Nähe zu den (Nicht-)Schauspielern wichtig, um nicht nur den gescrip­te­ten, sondern auch den real exis­tie­ren­den Helden nach­zu­spü­ren, damit diese ihre eigenen Erfah­run­gen und Gefühle in die Figuren ein­brin­gen können.

Im Labor fand auch eine sprach­li­che Umstel­lung statt. Im ukrai­ni­schen Kino ist Sprache ein bri­san­tes Thema. Durch den Krieg mit Russ­land ist sie nicht nur ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel, sondern auch eine Mög­lich­keit, die eigene Haltung aus­zu­drü­cken. Vor nicht allzu langer Zeit eta­blierte sich unter Regis­seu­ren der Grund­satz, keine Schau­spie­ler zu nehmen, die nicht täglich Ukrai­nisch spre­chen, da die Sprache sonst unna­tür­lich klingt. Die Regis­seu­rin ent­zieht sich dieser Logik, indem sie im Labor ein ukrai­nisch­spra­chi­ges Öko­sys­tem geschaf­fen und für den Film das Format der Sprachim­pro­vi­sa­tion gewählt hat – dabei folgt die Rah­men­hand­lung dem Dreh­buch, aber inner­halb dieses Set­tings kann die Kom­mu­ni­ka­tion frei gewählt werden.

Der Titel „Stop-Zemlia“ bezieht sich auf ein Spiel, bei dem eine Person mit ver­bun­de­nen Augen die anderen Teil­neh­men­den sucht, die auf Rut­schen, Bäume oder andere Ober­flä­chen klet­tern und dabei den Boden­kon­takt ver­mei­den müssen. Das Spiel ist unter Kindern ent­stan­den, ohne Anwei­sun­gen von Erwach­se­nen – es ist ihr Spiel.

Das führt uns zurück zu den kör­per­li­chen Aspek­ten. In der moder­nen Welt durch­läuft so gut wie jeder Augen­blick das Prisma des Vir­tu­el­len; der Mensch wird beinahe zum Cyborg – die Füße sind in der Disco, die Hände im Direkt­chat mit geheim­nis­vol­len (und nicht bloß gehei­men!) Bewun­de­rern, und selbst den ukrai­ni­schen Hetman betrach­test du durch eine Insta-Maske mit der Bezeich­nung „Tsatsa“. Eine unbe­stimmte Rast­lo­sig­keit und die Angst, etwas zu ver­pas­sen, sind treue Beglei­ter meiner Gene­ra­tion – daher die große Lust, „Stop-Zemlia“ zu sagen, um die Belas­tung durch die unun­ter­bro­chene Aktua­li­sie­rung der Inter­net­sei­ten anzuhalten.

Sowohl die Bilder als auch der Ton des Films sind mini­ma­lis­tisch gehal­ten, ohne dabei ein­tö­nig zu sein. Der Film findet nicht nur die Balance zwi­schen glo­ba­len (so wecken der Glitter und die Neon­far­ben Asso­zia­tio­nen an die Fern­seh­se­rie „Eupho­ria“) und lokalen Ein­flüs­sen (etwa in Form von moder­ner ukrai­ni­scher elek­tro­ni­scher Musik), sondern weiß auch in seinen fan­tas­ti­schen Aspek­ten zu über­zeu­gen. Diese Ästhe­tik ist es, die das Welt­bild eines moder­nen Teen­agers zu ver­mit­teln vermag: Wir können in einer grauen Stadt leben, aber darin unsere eigene Welt errich­ten, die der glo­ba­len „Insta“-Welt nahe­kommt. Die Popu­la­ri­tät ukrai­ni­scher Musik unter Teen­agern nimmt sich etwas uto­pisch aus, wird hier jedoch – ähnlich wie die Sprache – eher als Methode genutzt, um die Rea­li­tät zu ver­än­dern, anstatt sie zu reproduzieren.

Dies geht über die klas­si­sche Her­an­ge­hens­weise hinaus, wie sie häufig in ukrai­ni­schen Teen­ager-Filmen und Serien zu sehen ist („Sil dlja Morja“, „Schkola“, „Perschi Las­tiwky“), und wo Themen wie die Blue Whale Chall­enge, Mobbing oder Ent­frem­dung gegen­über den Eltern auf­ge­grif­fen werden (und der Regis­seur selbst­ver­ständ­lich für die Eltern Partei ergreift). Erst­mals blickt das ukrai­ni­sche Kino nicht aus Sicht der Erwach­se­nen auf Teen­ager, sondern kom­mu­ni­ziert auf Augen­höhe mit ihnen.

„Stop-Zemlia“ stellt Freund­schaft nicht nur dar, sondern erzeugt sie zwi­schen den Helden und dem Publi­kum. Ohne Beleh­run­gen, Ver­ur­tei­lun­gen oder Abwer­tun­gen. Du kannst dich einfach zurück­leh­nen und mit ihnen – mit uns – mit­fie­bern, den Hel­din­nen und Helden.

¹ So die ukrai­ni­sche Bezeich­nung eines Gelän­de­spiels, das dem Spiel „Der Boden ist Lava“ im deutsch­spra­chi­gen Kontext ähnlich ist (Anm. d. Übers.).

Diese Film­kri­tik ist im Work­shop „Young Critics“ des Ukrai­nian Film­fes­ti­val Berlin ent­stan­den. Geför­dert durch das Pro­gramm „Culture for changes“ der Ukrai­ni­schen Kul­tur­stif­tung und der Stif­tung EVZ. Das zweite ukrai­ni­sche Film­fes­ti­val fand vom 7. – 17. Oktober in Berlin, Stutt­gart und online statt. 

Über­setzt aus dem Ukrai­ni­schen von Johann Zajaczkowski.

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