Das Reality-Drama von Mariupol

Foto: Sergei Bobylev /​ Imago Images

In der Hafen­stadt Mariu­pol fällt eine Vor­ent­schei­dung über den Krieg in der Ukraine – die Stadt gibt nach wie vor nicht auf, stirbt aber zen­ti­me­ter­weise, wenn keine Hilfe kommt. Ein Gast­bei­trag von Chris­tian Booß.

Verdun, Sta­lin­grad, Sre­bre­nica, Grosny, Aleppo – Kriege sind so grausam und komplex, dass der Mensch Symbole braucht, um sie über­haupt „begrei­fen“ zu können. Nun Butscha: Der Ort nörd­lich von Kyjiw, wo das rus­si­sche Militär offen­bar ein Mas­sa­ker unter der Zivil­be­völ­ke­rung anrich­tete, scheint zum Symbol für den Ukraine-Krieg zu werden. So sehr die nun gefor­derte kriegs- und völ­ker­recht­li­che Doku­men­ta­tion helfen mag, Putins Krieg auch in inter­na­tio­na­len Gremien zu ächten, können solche Symbole auch zu einer ris­kan­ten Blitz­ab­lei­ter für die mora­li­sche Empö­rung und das gute Gewis­sen werden.

Es wäre ver­hee­rend, wenn über Butscha die anderen Orte des Grauen über­se­hen würden. Butscha ist vie­ler­orts in der Ukraine: genannt seien nur die Bom­bar­de­ments auf Kran­ken­häu­ser, Schulen, gegen zivile Wohn­vier­tel und Ein­rich­tun­gen, die inzwi­schen ver­läss­li­che Doku­men­ta­tion von Streu- und Brand­bom­ben, Über­griffe, „wilde“ Fest­nah­men und Tötun­gen von Kom­mu­nal­po­li­ti­kern und Beamten. Auch von Folter an Kriegs­ge­fan­ge­nen ist die Rede.

Diese Grau­sam­kei­ten werden noch länger bleiben als es das blutige wie hek­ti­sche Rück­zugs­ge­fecht von Butscha anneh­men lässt. Doch noch Tage, ja Stunden vor der Ent­de­ckung der Toten von Butscha, froh­lock­ten deut­sche Medien fasst unisolo über ukrai­ni­sche Erfolge in der Nord­ukraine und fei­er­ten Rückzug, gar Nie­der­lage der rus­si­schen Armee. Und selbst­er­nannte Mili­tär­stra­te­gen sahen schon den ukrai­ni­sche Sieg in greif­ba­rer Nähe. Durch Butscha kam jetzt ein Warn­schrei – doch mit pro­ble­ma­ti­scher Fokus­sie­rung, wenn der Blick­win­kel bei Butscha bleibt. Tak­ti­sche Erfolge Putins beruhen nicht zuletzt auf der Täu­schung der inter­na­tio­na­len Öffent­lich­keit, vor allem der deut­schen Öffentlichkeit.

Die Rea­li­tät sah anders aus

Ein Bei­spiel dafür ist die umzin­gelte Hafen­stadt Mariu­pol. In der letzten Woche spra­chen die Medien von „Hoff­nung“ und sahen einen angeb­li­chen „Fort­schritt bei Frie­dens­ver­hand­lun­gen“, wo in Wirk­lich­keit nur Tod, Elend, Hunger, Ver­zweif­lung kaum beschreib­ba­ren Aus­ma­ßes statt­fan­den. Allein bei dem Luft­an­griff auf das Theater von Mariu­pol am 16. März kamen etwa 300 Men­schen ums Leben. Es waren vor allem alte Men­schen, Frauen und Kinder, die in einem Bunker unter dem Theater auf die Eva­ku­ie­rung war­te­ten. Wirk­lich belast­bare Zahlen der Ver­schüt­te­ten konnten erst Tage nach dem Drama veri­fi­ziert werden, weil es wegen des Bom­bar­de­ments lange nicht möglich war, Ber­gungs­ar­bei­ten durchzuführen.

Als die Zahlen dann als relativ gesi­chert ver­mel­det wurden, hatten die Medien schon das Thema Hoff­nung für Mariu­pol und die Ukraine ent­deckt. Sie ließen sich von Putin und seiner Pro­pa­ganda täu­schen. Der rus­si­sche Prä­si­dent stand unter Druck, nachdem Frank­reichs Prä­si­dent Macron, Grie­chen­land und die Türkei ihn zu einem Waf­fen­still­stand und Hilfen für Mariu­pol auf­ge­for­dert hatten. Russ­land ver­kün­dete Annä­he­rung bei den Frie­dens­ver­hand­lun­gen und Hilfs­ver­ein­ba­run­gen für Mariu­pol mit dem Roten Kreuz. Als diese Nach­rich­ten durch den Blät­ter­wald rausch­ten, sah die Rea­li­tät so aus: Hilfs­lie­fe­rung kamen nicht an, Eva­ku­ie­run­gen wurden nur ver­ein­zelt durch­ge­führt, von Waffen konnte nicht die Rede sein und Putin ließ Macron am Telefon abblitzen.

Doch am 24. März berich­te­ten die Haupt­nach­rich­ten­sen­dun­gen von ARD und ZDF über Nah­rungs­mit­tel­lie­fe­run­gen im bela­ger­ten Mariu­pol. Die Bilder erweck­ten den Ein­druck, die Stadt sei inzwi­schen besetzt und die Besat­zer küm­mer­ten sich um die Bevöl­ke­rung. Genau das Gegen­teil war der Fall: Die rus­si­schen Inva­so­ren waren zu diesem Zeit­punkt allen­falls in den Vor­or­ten von Mariu­pol ange­kom­men. Die Innen­stadt war noch in den Händen der ukrai­ni­schen Armee und der Stadt­ver­wal­tung. Der Blo­cka­de­ring und damit das Abschnei­den der Nah­rungs­mit­tel­zu­fuhr wurde immer enger gezogen.

Erschöp­fung und Halluzinationen

Par­al­lel zur Behaup­tung, huma­ni­täre Hilfe werde geleis­tet, lag die Stadt unter einem Dau­er­bom­bar­de­ment. Die Men­schen mussten wei­ter­hin in Kellern und Bunkern hocken, wo sich schon seit Anfang März Unbe­schreib­li­ches abspielte. Babies starben an Dehy­drie­rung und Unter­ernäh­rung, den raum­kli­ma­ti­schen und hygie­ni­schen Bedin­gun­gen in der kalten und feuch­ten Stadt. Men­schen hatten vor „Erschöp­fung Hal­lu­zi­na­tio­nen in den Kellern“, berich­tete ein Mili­tär­füh­rer aus Mariu­pol. Eltern und Groß­el­tern starben vor den Augen ihrer Kinder und Enkel an Bom­ben­split­tern oder Schwäche.

„Meine Mutter hielt bis zur letzten Minute durch. Sie starb drei Tage vor unserer Eva­ku­ie­rung. Ich sagte meinem Bruder, dass sie fest schlief und nicht geweckt werden sollte. Aber er schien, alles zu ver­ste­hen,“ erin­nerte sich die 16-jährige Katja, die mit ihrem fünf­jäh­ri­gen Bruder der Hölle von Mariu­pol entkam. Die Toten, so schil­derte es das junge Mädchen, konnten wegen des Beschus­ses und der Eises­kälte zeit­weise nicht einmal aus den Schutz­kel­lern gebracht und begra­ben werden. Strom und flie­ßend Wasser gab es schon lange nicht mehr. Womit die Men­schen sich ernähr­ten, ist ein Rätsel.

Als Trink­was­ser­re­ser­voirs dienten geschmol­ze­ner Schnee und Pfützen. Medi­ka­mente fehlten. Ärzt­li­che Ver­sor­gung war auch für Schwerst­ver­letzte kaum möglich, da Kran­ken­häu­ser bom­bar­diert oder von Besat­zern zwangs­ge­räumt wurden und Ärzte vor Erschöp­fung nicht mehr konnten. Die Straßen liegen noch immer voller Leichen. In Kran­ken­haus­kel­lern und Bestat­tungs­in­sti­tu­ten stapeln sie sich nur noch. Die Stadt, einst eine Perle am Süd­strand der Ukraine, gleicht heute in weiten Teilen einer Mondlandschaft.

Warum Mariu­pol?

Bei der Frage, warum Putin Mariu­pol derart heim­sucht, ver­weist der bri­ti­sche Geheim­dienst auf die Land­brü­cken­funk­tion der Stadt. Mariu­pol liegt in der Tat zwi­schen dem sepa­ra­tis­ti­schen Donbas und der 2014 annek­tier­ten Krim. Diese ist bislang nur auf dem Seeweg und über die in den letzten Jahren eigens gebaute Hän­ge­brü­cke über das Asow­sche Meer vom rus­si­schen Kern­land aus zu errei­chen. In Mariu­pol kreuzen sich die Straßen von Donezk und die Euro­pa­straße aus Rostov am Don Rich­tung Krim. Par­al­lel laufen Eisen­bahn­li­nien durch die Stadt.

Aber mit der Land­brü­cken-These sei Putins Furor gegen die Stadt schon lange nicht mehr zu erklä­ren, glaubt der per­sön­li­che Refe­rent des Bür­ger­meis­ters von Mariu­pol. Die Land­ver­bin­dung exis­tiere nämlich fak­tisch schon seit unge­fähr zwei Wochen. Mit einem kleinen Umweg durch die beset­zen Gebiete ist die Krim nämlich mit Kraft­fahr­zeu­gen bereits an Mariu­pol vorbei erreich­bar. Nun gibt es sicher weitere „harte“ Fak­to­ren, die stra­te­gisch für ein Ein­nahme der Stadt am Asow­schen Meer sprechen.

Sie war vor dem Krieg mit über 400.000 Ein­woh­nern die zweit­größte Hafen­stadt, ein Zentrum der Stahl- und Metall­in­dus­trie. Aber nachdem selbst Rake­ten­an­griffe auf das berühmte Asow-Stahl­werk abziel­ten, ist deut­lich, dass es wohl eher um „weiche“ Fak­to­ren, eine Straf­ak­tion geht. In Russ­lands Pro­pa­ganda spielt Mariu­pol inzwi­schen eine zen­trale Rolle als angeb­li­ches Zentrum jener „aggres­si­ven Stein­zeit-Natio­na­lis­ten und Neo­na­zis“ (Putin in seiner Rede an die Nation), die Putin als Recht­fer­ti­gung für seinen als Prä­ven­tiv­ope­ra­tion getarn­ten Angriffs­krieg dient.

Asow und die rus­si­sche Propaganda

Gemeint ist damit in erster Linie das Asow­sche Batail­lon. Diese natio­na­lis­ti­sche Mili­tär­for­ma­tion ist in der Tat aus rechts­extre­mis­ti­schen Para­mi­li­tärs her­vor­ge­gan­gen. Putins Pro­pa­ganda über­sieht jedoch die Fakten Die Rechten in der Ukraine sind inzwi­schen poli­tisch fast bedeu­tungs­los, Asow ist durch Füh­rungs­wech­sel und Inte­gra­tion in die Natio­nal­garde weit­ge­hend gezähmt – die Grup­pie­rung speist sich iro­ni­scher­weise eigent­lich nur noch aus dem Kon­flikt Russ­lands gegen die Ukraine.

Doch Putin braucht Asow als Begrün­dung für seinen ver­meint­li­chen anti­fa­schis­ti­schen Kampf, die „Ent­na­zi­fi­zie­rung“ der Ukraine. Mariu­pol ist dafür das Exempel. Hier trotzte Asow schon 2014 erfolg­reich dem Versuch, über die Stadt eine Land­brü­cke zur Krim zu schla­gen. Hier war ihr Haupt­quar­tier, bevor es vor einigen Tagen zer­bombt und auf­ge­ge­ben wurde.

Um Asow „auszuräuchern“³ – wie es inzwi­schen unver­hoh­len in der Kriegs­pro­pa­ganda heißt – scheint jedes Mittel recht. Die rus­si­schen und aus den sepa­ra­tis­ti­schen Gebie­ten hin­zu­ge­zo­ge­nen Sol­da­ten erwie­sen sich als zu schwach für den Häu­ser­kampf gegen Asow. In der sepa­ra­tis­ti­schen “Volks­re­pu­blik” Donezk werden nach ukrai­ni­schen Angaben inzwi­schen „Frei­wil­lige“ rekru­tiert. Ein der­ar­ti­ger Volks­sturm ist allen­falls Kano­nen­fut­ter und völlig unge­eig­net für Offen­si­ven. Daher hat Putin die berüch­tigte Pri­vat­ar­mee, die Wagner-Gruppe, in den Donbas geholt, die syri­sche Söldner für den Einsatz trainiert.

Kady­rows Söldner

Als Avant­garde fun­gie­ren tsche­tsche­ni­sche Eli­te­trup­pen und Söldner unter ihrem berüch­tig­ten, Putin-hörigen Führer Ramsan Kadyrow. Ob Kadyrow wirk­lich vor Ort war, wie er behaup­tet, ist nicht gesi­chert. Aber nach ersten mili­tä­ri­schen Miss­erfol­gen wirkt der Einsatz der Tsche­tsche­nen seit dem angeb­li­chen Besuch deut­lich orga­ni­sier­ter und strin­gen­ter. Kady­rows Spe­zia­lis­ten sollen Asow brechen, sie kämpfen sich in Mariu­pol inzwi­schen brutal von Haus zu Haus – mit Drohnen, Maschi­nen­ge­wehr­sal­ven und Mörsern. Ist ein Quar­tier erobert, werden die Häuser nach Männern durch­sucht. Diese müssen sich ent­blö­ßen und werden nach Mili­tär­ab­zei­chen gefilzt.

Dass tra­di­tio­nelle Asow-Leute Wolf-Tattoos am Körper tragen, wird ihnen zum Ver­häng­nis. Offen­bar werden sie gefol­tert – aus Rache oder um ihnen mili­tä­ri­sche Geheim­nisse zu ent­lo­cken. Rus­si­sche und tsche­tsche­ni­sche Pro­pa­gan­dvi­deos zeigen Kriegs­ge­fan­gene mit rot­blauen Gesichts­fär­bun­gen, was auf Folter zu schlie­ßen lässt. In einem Video im Netz wird von der rus­si­schen und sepa­ra­tis­ti­schen Pro­pa­ganda sogar eine Schein­hin­rich­tung von einem angeb­li­chen Asow-Führer gezeigt. Es ist nicht veri­fi­zier­bar, ob diese Bilder echt oder insze­niert sind. Inzwi­schen häufen sich aber Berichte, bei­spiels­weise von Ver­tre­tern der Stadt­ver­wal­tung Mariu­pol, die Der­ar­ti­ges bestä­ti­gen. Ob echt oder nicht – der Effekt der Bilder ist der gleiche: Terror verbreiten.

Orches­triert werden der­ar­tige Bilder von mar­tia­li­schen Losun­gen, die im Namen von Kadyrow per­sön­lich aus­ge­ge­ben werden. Dort werden sie als „Bandera, Nazis und Satan“ beschimpft. Es wird unver­hoh­len mit Liqui­die­rung und Bestra­fung gedroht. Da diese mili­tä­ri­schen Befehle direkt von seinen Sol­da­ten emp­fan­gen werden können, tragen sie einen Genozid-ähn­li­chen Cha­rak­ter. Kadyrow beruft sich dabei auf seinen Ober­be­fehls­ha­ber Wla­di­mir Putin. Dass Mariu­pol von Teufeln im Namen Allahs befreit werden soll, heiligt die Exzesse vorab. „Das ist der wahre tsche­tsche­ni­sche Geist, der nur Allah dem All­mäch­ti­gen unter­wor­fen ist und den niemand brechen kann.“- so Kadyrow am 4. April.

Butscha ist auch in Mariupol.

Reise der Wahrheit

Weil der Krieg für eine Spe­zi­al­ope­ra­tion zu lange dauert, für Russ­land zu viele Tote pro­du­ziert und die west­li­che Bericht­erstat­tung über Bom­ben­schä­den und rus­si­schen Ver­luste trotz Medi­en­zen­sur in Russ­land zu domi­nie­ren drohte, hat die rus­si­sche Armee zusam­men mit Kadyrow vor einigen Tagen in der Süd­ukraine eine neue Medi­en­of­fen­sive gestar­tet. Diese soge­nannte „Spez­pro­pa­ganda“, wurde Anfang April expli­zit als  “Reise der Wahr­heit“ ange­kün­digt. Rus­si­sche Jour­na­lis­ten werden von tsche­tsche­ni­schen Kämp­fern zu Kampf­plät­zen mit­ge­nom­men. Damit stammt inzwi­schen das „beste“ Bild­ma­te­rial aus dem bedräng­ten Mariu­pol nicht mehr aus ukrai­ni­schen, sondern rus­si­schen Quellen.

Auch deut­sche Medien schei­nen sich an solchem Mate­rial zu bedie­nen – ohne über deren Her­kunft immer Rechen­schaft abzu­le­gen. Print­me­dien wie Die Welt ver­kün­de­ten auf Basis von offen­bar unüber­prüf­ten Agen­tur­mel­dun­gen die fak­ti­sche Beset­zung der Innen­stadt von Mariu­pol, als die Kämpfe noch liefen. In rus­si­schen Videos werden zer­störte Häuser, obdach­lose, hun­gernde Men­schen als Opfer der ukrai­ni­schen Natio­na­lis­ten dar­ge­stellt. Das rus­si­sche und tsche­tsche­ni­sche Militär bemüht sich um die „Befrei­ung“ der Bevöl­ke­rung, gelei­tet Omas und Kinder aus den Trüm­mern und orga­ni­siert Hilfe und Essen. Offen­bar  finden sich für Medien wie dem rus­si­schen Staats­me­dium Russia Today auch immer wieder Inter­view­part­ner, die – gekauft oder weil sie Opfer von Kol­la­te­ral­schä­den wurden – als von Asow getrof­fene Augen­zeu­gen herhalten.

Mit solchen Bildern soll die rus­si­sche Öffent­lich­keit von der Sinn­haf­tig­keit der Spe­zi­al­ope­ra­tion über­zeugt werden, und ange­sichts von Sank­tio­nen auf Durch­hal­te­wil­len und Opfer­be­reit­schaft für die rus­si­sche Armee getrimmt werden. Seit dem 1. April ent­lässt Russ­land einen Jahr­gang von Rekru­ten und hofft auf mehrere Zehn­tau­sende Selbst­ver­pflich­tun­gen, um die Lücken der Gefal­le­nen und Ver­wun­de­ten erset­zen zu können.

Mariu­pol stirbt zentimeterweise

Wohin treibt Mariupol?

Mariu­pol stirbt zen­ti­me­ter­weise. Im Nach­hin­ein wird die Öffent­lich­keit fest­stel­len, dass es eine huma­ni­täre Kata­stro­phe war, die das bos­ni­sche Sre­bre­nica, ja auch Butscha noch über­trifft. Die Zahl der Toten, Ver­letz­ten und Ver­trie­be­nen kann derzeit keiner zählen. Und trotz ein­zel­ner Eva­ku­ie­run­gen – knapp über 3000 Men­schen konnten so die letzten sieben Tage geret­tet werden – bleiben 100 bis 200.000 Ein­woh­ner im Groß­raum Mariu­pol (wohl mehrere 10.000 allein im Innen­stadt­be­reich). Täglich gehen der Bom­ben­ha­gel und das Hungern weiter. Die Stadt ist wie der Libanon im Bür­ger­krieg par­zel­liert: in jedem Stadt­teil herrscht eine andere mili­tä­ri­sche und poli­ti­sche Macht.

Im besetz­ten Norden hat am 3. April in einer Schule eine Ver­samm­lung statt­ge­fun­den. Eigens zusam­men gekarrte „Depu­tierte“ wählten einen neuen pro­rus­si­schen Bür­ger­meis­ter und einen Sekre­tär. In den Augen der gewähl­ten ukrai­ni­schen Stadt­ver­wal­tung ein ille­ga­ler Akt eines rus­si­schen „Agenten“. Die Stadt ist jetzt fak­tisch zwei­ge­teilt. So fing es einst im Donbas an, dessen Sepa­ra­tis­ten sich jetzt der Rus­si­schen Föde­ra­tion anschlie­ßen wollen.

Nach Erkennt­nis­sen der ukrai­ni­schen Mili­tär­auf­klä­rung soll die Ukraine von Putin zwei­ge­teilt werden – nach korea­ni­schem Vorbild. Nur mit dem Unter­schied, dass die Ukraine an drei Seiten ver­klei­nert werden und ihr mög­lichst der kom­plette Zugang zum schwar­zen Meer genom­men werden soll. Ob Putin dann wei­ter­macht und ein zweites Mal auf Kyjiw mar­schie­ren lässt – das weiß niemand. Und das hängt auch vom Ausgang der Schlacht um Mariu­pol ab. Die ukrai­ni­sche Ver­wal­tung hat die Bürger im Süd­os­ten auf­ge­for­dert, die Gegend zu ver­las­sen. Gerech­net wird mit einer rus­si­schen Offen­sive aus dem Osten. Eine Schlacht, die zur Vor­ent­schei­dung in diesem Krieg werden dürfte. Für Mariu­pol sowieso.

Wie lange hält Mariu­pol stand?

Die Stadt­ver­wal­tung ver­sucht den Anfän­gen, die ukrai­ni­sche Legi­ti­mi­tät in Mariu­pol zu unter­gra­ben, ent­ge­gen­zu­steu­ern. Sie ist offen­bar bemüht, die Arbeit so gut es geht, wei­ter­zu­füh­ren und bei den Eva­ku­ie­run­gen – sofern sie denn statt­fin­den – zu helfen. Doch das Gesche­hen ist komplex. Es gibt Berichte von ein­zel­nen Beamten, zum Bei­spiel bei der Polizei, die über­lau­fen. Die Besat­zer ver­tei­len hier und da Lebens­mit­tel und angeb­lich auch Geld, damit Bewoh­ner mit ihnen koope­rie­ren oder dazu bereit sind, in Rich­tung Russ­land auszuwandern.

Wie lange hält eine voll­kom­men aus­ge­hun­gerte, demo­ra­li­sierte Bevöl­ke­rung dem Druck der Besat­zer stand?

Wo die Leute nicht frei­wil­lig nach­ge­ben, wird laut Angaben des legi­ti­men Bür­ger­meis­ters zwangs­weise nach­ge­hol­fen. Auch Wai­sen­kin­der seien schon ver­schleppt worden. Dass sich immer noch ukrai­ni­sche Sol­da­ten, vor allem von Asow, in der Stadt auf­hal­ten und auch auf (beschei­dene) mili­tä­ri­sche Erfolge hin­wei­sen können, grenzt an ein Wunder. Sie sind in den Augen der meisten Ukrai­ner jetzt schon Helden und manche vom Prä­si­den­ten ent­spre­chend aus­ge­zeich­net. Sie sind in Stra­ßen­kämpfe ver­wi­ckelt, haben Scharf­schüt­zen pos­tiert und melden sich täglich per Video­bot­schaft. Aber die Reden ihrer Kom­man­dan­ten klingen täglich mehr nach ver­zwei­fel­ten Durchhalteparolen.

Muni­tion und Nahrung gehen zur Neige. Die ver­zwei­felte Hoff­nung Mariu­pols auf Nach­schub, auch an Waffen, und eine inter­na­tio­nale Sper­rung des Luft­rau­mes, haben sich bisher nicht erfüllt. Ohne Pathos erin­nert die Situa­tion an die Spar­ta­ner, die im Jahre 480 v. Chr. am Ter­mo­phy­len­pass bis zum letzten Mann das über­le­gene Heer der Perser auf­zu­hal­ten ver­such­ten. Die Geschichte und ihr mili­tä­ri­scher Sinn waren im Nach­hin­ein Stoff für Dichter und Historiker.

Heute voll­zieht sich das Drama von Mariu­pol als Reality-TV täglich vor unseren Augen. Doch wir sind nicht Zeugen ex post: wir können noch in das Gesche­hen eingreifen.

Anmer­kung der Redak­tion: Der Beitrag basiert auf mehr­tä­gi­ger Recher­che in zahl­rei­chen ukrai­ni­schen, tsche­tsche­ni­schen, rus­si­schen und sepa­ra­tis­ti­schen Inter­net­chan­nels. Die dort ver­öf­fent­lich­ten Infor­ma­tio­nen wurden, so gut es ging, abgeglichen.

Der Artikel wurde am 8. April 2022 ver­fasst. Zum Zeit­punkt der Ver­öf­fent­li­chung am 12. April hat der Sach­stand in der Stadt ver­schlim­mert. Die Stadt ist weit­ge­hend erobert. Zynisch spre­chen die Inva­so­ren von „Befrei­ung“. Pro­pa­gan­dis­ten von rus­si­scher Seite stellen im Fern­se­hen und auf sozia­len Medien mit Bildern die Zer­stö­run­gen und das Leid der Men­schen als Ver­bre­chen der ukrai­ni­schen Natio­na­lis­ten dar. Fol­te­run­gen und Ver­schlep­pun­gen schei­nen an der Tages­ord­nung zu sein. Söldner aus Tsche­tsche­nien und Sol­da­ten aus den Sepa­ra­tis­ten­ge­bie­ten gehen mit aller Härte vor. Inzwi­schen ist von einem umzäun­ten Lager für ver­schleppte Ukrai­ner in Pensa, Russ­land, die Rede.

Mehr Texte vom Autor gibt es im Auf­ar­bei­tungs­fo­rum Heute und Gestern.

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