„Alles ist teurer als ukrai­ni­sches Leben“

Foto: IMAGO /​ Jochen Tack

Ob Impe­ria­lis­mus, Miss­ach­tung des Selbst­be­stim­mungs­rechts der Ukraine oder eine Mys­ti­fi­zie­rung Russ­lands – in einer von Alek­san­dra Konar­zewska, Schamma Schaha­dat und Nina Weller her­aus­ge­ge­be­nen Antho­lo­gie wird in 35 Texten über West­s­plai­ning und den Krieg reflek­tiert. Eine Buch­re­zen­sion von Sebas­tian Christ.

Es gibt Bücher, die man einfach lesen muss, um auf dem Lau­fen­den zu bleiben. „Alles ist teurer als ukrai­ni­sches Leben – Texte über West­s­plai­ning und den Krieg“, das Ende Februar 2023 im Ber­li­ner Verlag edition.fotoTAPETA erschie­nen ist, gehört zwei­fels­frei in diese Kate­go­rie. Den Her­aus­ge­be­rin­nen Alek­san­dra Konar­zewska, Schamma Schaha­dat und Nina Weller ist mit diesem Buch etwas Außer­ge­wöhn­li­ches gelun­gen: Sie haben ein Buch vor­ge­legt, das Ori­en­tie­rung in der kom­ple­xen und mit­un­ter auch ver­stö­ren­den öffent­li­chen Debatte zum rus­si­schen Angriffs­krieg in der Ukraine bietet. „Alles ist teurer als ukrai­ni­sches Leben“ ist der beste Reader zu diesem Thema, den es derzeit in deut­scher Sprache gibt.

Die Ukraine zur Kapi­tu­la­tion auf­for­dern – um des lieben Frie­dens willen

Das Ent­schei­dende ist, dass die Her­aus­ge­be­rin­nen bei dem Moment der Ver­stö­rung nach Beginn der rus­si­schen Groß­of­fen­sive anset­zen. Dieses Gefühl ist seit Anfang 2022 etwas, das viele Men­schen teilen, die Wurzeln in Ost­mit­tel- und Ost­eu­ropa haben oder sich aus anderen Gründen mit diesem Kul­tur­raum beschäftigen.

Ober­fläch­lich betrach­tet lösen sich klas­si­sche Kon­sens­li­nien auf: Men­schen, mit denen man lange Zeit schein­bar ein ähn­li­ches Welt­bild teilte, ver­tre­ten plötz­lich krause Posi­tio­nen zur rus­si­schen Inva­sion in der Ukraine. In einer grö­ße­ren Öffent­lich­keit stehen dafür sym­bo­lisch die zahl­rei­chen Essays, Inter­views und offenen Briefe, in denen die Ukraine um des ver­meint­li­chen Frie­dens willen zur Kapi­tu­la­tion oder zur Abtre­tung von Teilen des Staats­ge­biets auf­ge­for­dert wird.

Das Jahr 2022 war voll von Leid und Zer­stö­rung. Und ein uner­war­te­tes Neben­ge­räusch war die stete Folge von Ent­täu­schun­gen durch Autoren, Poli­ti­ker und Intel­lek­tu­elle, die mit solchen Wort­mel­dun­gen ihren Mangel an Refle­xi­ons­fä­hig­keit offen­bar­ten. Aus Angst vor einem Atom­krieg waren manche bereit, die bewie­se­ner­ma­ßen unhalt­ba­ren Zustände in den von Russ­land besetz­ten Gebie­ten zu akzep­tie­ren. In ihrer Sehn­sucht nach Frieden schien es manchen hin­nehm­bar, den Unfrie­den für andere zu akzep­tie­ren. Der eigent­li­che Krieg und das, was tat­säch­lich in der Ukraine pas­siert, wurde auf diese Weise zuguns­ten dieser emo­tio­na­len Ich-Erzäh­lung ent­wer­tet, nicht erwähnt, igno­riert. Für einen nicht unbe­trächt­li­chen Anteil der deut­schen Bevöl­ke­rung ist diese Haltung auch heute noch akzeptabel.

Unfä­hig­keit deut­scher Intellektueller

Woher kommt diese Unfä­hig­keit deut­scher Intel­lek­tu­el­ler, die eigenen Gefühle vor dem Hin­ter­grund des Welt­ge­sche­hens zu rela­ti­vie­ren? Wes­we­gen sind die Länder, die sich zwi­schen der deut­schen Ost- und der rus­si­schen West­grenze befin­den, immer noch ein blinder Fleck in der öffent­li­chen Debatte? Darauf gibt es selbst­re­dend mehr als nur eine Antwort.

Portrait von Sebastian Christ

Sebas­tian Christ arbei­tet als Autor und Zukunfts­for­scher in Berlin.

Die große Qua­li­tät von „Alles ist teurer als ukrai­ni­sches Leben“ besteht darin, dass die 35 Texte ein breites Spek­trum an Themen abde­cken. Da wäre zum Bei­spiel die Abschät­zig­keit, mit der deut­sche Diplo­ma­ten die War­nun­gen von ost­eu­ro­päi­schen Part­ner­län­dern lange Zeit behan­delt haben. Oder der ver­klärte Blick auf die rus­si­sche Lite­ra­tur, die schon früh durch­setzt war mit impe­ria­len Ideen. Über­haupt: die Mys­ti­fi­zie­rung Russ­lands. Oder der deut­lich über­pro­por­tio­nale Fokus der deut­schen Sla­wis­tik auf Russ­land. Dann das Ver­hält­nis der Deut­schen zum Pazi­fis­mus. Der blumige Blick auf die Ost­po­li­tik der SPD bis 1982. Und der deut­sche Kolo­nia­lis­mus in Ost­eu­ropa, der immer noch die größte Lücke in der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung ausmacht.

Erstaun­li­che Viel­falt und bemer­kens­werte Dichte der Beiträge

Die Autorin­nen und Autoren ver­tre­ten ganz unter­schied­li­che Zugänge zu diesen Themen: Sie kommen aus der Wis­sen­schaft, aus der Kunst, sie arbei­ten als Schrift­stel­le­rin­nen oder Essay­is­ten. Manche kommen aus dem ost­eu­ro­päi­schen Raum, andere reflek­tie­ren von einer west­li­chen Per­spek­tive aus. Das ver­leiht diesem Band nicht nur eine erstaun­li­che Viel­falt, sondern auch eine bemer­kens­werte Dichte. Alle Texte sind schon einmal in anderen Medien erschie­nen und haben zum Teil hitzige Debat­ten aus­ge­löst. Sie noch einmal zu sammeln, schafft einen guten Über­blick. Unter den Autorin­nen und Autoren sind einige pro­mi­nente Namen: So waren unter anderem Timothy Snyder, Szc­ze­pan Twar­doch, Fran­ziska Davies und Serhij Zhadan bereit, ihre Texte für eine Wie­der­ver­öf­fent­li­chung zur Ver­fü­gung zu stellen.

Hängt die poli­ti­sche Posi­tio­nie­rung von der „Spre­cher­po­si­tion“ ab?

Es bleibt am Ende eigent­lich nur eine Frage in diesem Buch offen. Immer wieder spielen die Her­aus­ge­be­rin­nen, aber auch Autorin­nen und Autoren, mit iden­ti­tä­ren Begriffs­for­meln. Zum Bei­spiel bereits im Unter­ti­tel des Buches: Dort ist von „West­s­plai­ning“ die Rede – eine Wort­an­leihe vom Begriff „Mans­plai­ning“. Gemeint ist: Men­schen aus dem Westen erklä­ren Men­schen aus dem Osten deren Welt, ohne wirk­lich Ahnung vom Osten zu haben. Dieses Wort­spiel ist zuge­ge­be­ner­ma­ßen griffig, und die gedank­li­che Reise in die Welt der sozia­len Bewe­gun­gen zeugt von der ver­ständ­li­chen Wut, die viele Men­schen aus Ost­mit­tel- und Ost­eu­ropa ange­sichts der dis­kur­si­ven Zumu­tun­gen des ver­gan­ge­nen Jahrs haben. Aber hängt die poli­ti­sche Posi­tio­nie­rung in diesem Kon­flikt wirk­lich von einer „Spre­cher­po­si­tion“ ab?

Ver­ur­tei­lung der aggres­si­ven rus­si­schen Politik auch in Deutschland

Wenn man Jakob Augsteins her­ab­las­sen­den Umgang mit der ukrai­ni­schen Schrift­stel­le­rin Tanja Mal­jart­schuk in einem viel beach­te­ten Gespräch auf „Radio­eins“ nimmt, dann könnte man zu diesem Schluss kommen. Einige Zweifel bleiben. Denn tat­säch­lich gibt es schon seit Jahren auch sehr viele Stimmen in Deutsch­land, die einer­seits die aggres­sive rus­si­sche Politik ver­ur­tei­len und ande­rer­seits dazu gemahnt haben, die Völker in Mit­tel­ost­eu­ropa als Akteure ernst zu nehmen. Und diese Men­schen kommen aus ganz unter­schied­li­chen Milieus. Die wenigs­ten davon sind zu dieser Haltung gelangt, weil sie ihre eigene „Spre­cher­po­si­tion“ als Men­schen aus den west­li­chen Ländern kri­tisch hin­ter­fragt haben.

Nicht auf­ge­ar­bei­te­tes Erbe des deut­schen Impe­ria­lis­mus in Osteuropa

Viel wahr­schein­li­cher ist, dass die dis­kur­si­ven Ver­stö­run­gen seit Februar 2022 ein Erbe des nicht auf­ge­ar­bei­te­ten deut­schen Impe­ria­lis­mus in Ost­eu­ropa sind. Man kann das sehr gut daran erken­nen, woher diese Ver­stö­run­gen kamen: Meist gingen sie von Men­schen aus, die sich nie in ihrem Leben inten­si­ver mit dem ost­eu­ro­päi­schen Raum beschäf­tigt haben, die aber mit dem bipo­la­ren Welt­bild des Kalten Krieges oder der Idee einer „beson­de­ren Bezie­hung“ zwi­schen den eins­ti­gen Impe­rien Deutsch­land und Russ­land sozia­li­siert wurden. Dieser Blick auf die Welt, der Länder und Völker in gleich­wer­tige und nicht gleich­wer­tige Gesprächs­part­ner ein­teilt, ist typisch für das Erbe des Imperialismus.

Vielen Deut­schen ist das bis heute nicht bewusst. Und auch hier leistet „Alles ist teurer als ukrai­ni­sches Leben“ gute Auf­klä­rungs­ar­beit – weil in den Texten deut­lich wird, wie tief das impe­ria­lis­ti­sche Erbe im deut­schen Alltag sitzt. Das Buch ist damit nicht nur der beste Reader zur Ukraine-Debatte – sondern auch ein guter Aus­gangs­punkt für eine echte Zei­ten­wende im Denken.

Alles ist teurer als ukrai­ni­sches Leben: Texte über West­s­plai­ning und den Krieg. Hsrg. von Alek­san­dra Konar­zewska, Schamma Schaha­dat, Nina Weller, edition.fotoTAPETA, Berlin 2023, 272 Seiten, Preis: 17,50 Euro.

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