„Der Angriff. Russ­lands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt“

Abriss des sowje­ti­schen Denk­mals der ukrai­nisch-rus­si­schen Freund­schaft in Kyjiw, 26.04.2022; Foto: Maxym Maru­senko /​ Imago Images

Noch bevor der Krieg in der Ukraine zu Ende gegan­gen ist, hat der ukrai­nisch-ame­ri­ka­ni­sche His­to­ri­ker Serhii Plokhy eine Geschichte des ersten Kriegs­jah­res im his­to­ri­schen Kontext vor­ge­legt – ein im Wort­sinn auf­klä­re­ri­sches Werk mit wachem Blick auf Russ­lands impe­riale Verstrickungen.

Der in Harvard leh­rende Serhii Plokhy ist sicher­lich einer der pro­fi­lier­tes­ten ukrai­ni­schen His­to­ri­ker seiner Gene­ra­tion. Er ist in den ver­gan­ge­nen Jahren mit einer all­ge­mei­nen Dar­stel­lung der ukrai­ni­schen Geschichte ebenso bekannt gewor­den wie mit Studien über die Kon­fe­renz von Jalta, rus­si­schen Natio­na­lis­mus oder die Kata­stro­phe von Tscher­no­byl. Auch in seiner Unter­su­chung des rus­si­schen Angriffs auf die Ukraine bleibt er dem Ansatz treu, das Gesche­hen aus dem his­to­ri­schen Kontext zu erklä­ren und kon­se­quent in größere zeit­li­che und geo­gra­phi­sche Zusam­men­hänge einzuordnen.

Für Serhii Plokhy ist der mili­tä­ri­sche Kon­flikt zwi­schen Moskau und Kyjiw das jüngste Bei­spiel für einen natio­na­len Befrei­ungs­kampf. Er sieht den Krieg als einen Bau­stein in einer langen Geschichte von Kriegen, die den Zerfall großer Impe­rien beglei­ten – von der ame­ri­ka­ni­schen Revo­lu­tion bis in die Gegen­wart. Aus diesem his­to­ri­schen Wissen schöpft der Ver­fas­ser auch Hoff­nung für sein Hei­mat­land: Plokhy ist fest  davon über­zeugt, dass die Zeit gegen die Impe­rien und für eine Ordnung sou­ve­rä­ner Natio­nal­staa­ten arbeite.

Das toxi­sche Erbe der Diktatur

Seine Erzäh­lung der Vor­ge­schichte dieses Krieges beginnt Plokhy mit dem Zerfall der UdSSR 1991. Hier trenn­ten sich die Wege Russ­lands und der Ukraine. Die Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner hatten durch ihr klares Bekennt­nis zur Unab­hän­gig­keit ihres Landes am 1. Dezem­ber 1991 den Weg zum Ende der Sowjet­union geebnet. Dennoch waren sie kaum auf die Unab­hän­gig­keit und ihre Her­aus­for­de­run­gen vorbereitet.

Das toxi­sche Erbe der Dik­ta­tur lastete auf der Ukraine ebenso wie auf den anderen Sowjet­re­pu­bli­ken. Doch im Unter­schied zu Russ­land defi­nierte sie sich nun als Natio­nal­staat und nicht als impe­riale Macht. Damit wurden die Weichen für die unter­schied­li­chen Ent­wick­lun­gen der beiden Nach­barn schon früh gestellt. Für die Ukraine war die Auf­lö­sung der Sowjet­union eine Chance, für die rus­sisch-sowje­ti­schen Eliten hin­ge­gen eine Tra­gö­die. Sie hatten bereits unmit­tel­bar nach 1991 ver­stan­den: Ohne die Ukraine würde Russ­land nicht mehr die­selbe impe­riale Macht haben.

Der Ein­fluss impe­ria­ler Mythen

Doch neben dem Ende der UdSSR ana­ly­siert Plokhy auch die älteren impe­ria­len Mythen, die Russ­lands Ansprü­che auf die Ukraine his­to­risch unter­mau­ert sehen. Seit Gene­ra­tio­nen sieht Moskau den Beginn der eigenen Staat­lich­keit in Kyjiw. Obwohl die his­to­ri­schen Gebiete der Ukraine lange Zeit unter pol­nisch-litaui­scher, tata­ri­scher oder Habs­bur­ger Herr­schaft standen, sieht Moskau sie als Grund­be­stand­teil eines unver­äu­ßer­li­chen ost­sla­wi­schen Impe­ri­ums, das auf der orga­ni­schen Einheit der Russen, Ukrai­ner („Klein­rus­sen“) und Bela­ru­sen („Weiß­rus­sen“) beruhe. Die Erobe­rung der Ukraine unter Peter I. und Katha­rina II. war aus rus­si­scher Sicht demnach auch eine „Wie­der­ver­ei­ni­gung“ zuvor getrenn­ter Bestand­teile eines Reiches. Anschau­lich schil­dert Plokhy, wie diese Mythen bis in die Gegen­wart die rus­si­sche Wahr­neh­mung beeinflussen.

Auf Russ­land und die Ukraine kon­zen­trierte Geschichte der post-sowje­ti­schen Epoche

Neben dieser his­to­ri­schen Dimen­sion ana­ly­siert der Ver­fas­ser auch die Geschichte der Gegen­wart. Der Ein­stieg in sein Buch ist zugleich eine auf Russ­land und die Ukraine kon­zen­trierte, geraffte Geschichte der post-sowje­ti­schen Epoche. Plokhy ver­deut­licht dabei, dass er bereits früh deut­li­che Unter­schiede in der Ent­wick­lung der beiden Staaten sieht. Während die Ukraine sich – trotz zahl­rei­cher Krisen und Revo­lu­tio­nen – auf einen Weg in Rich­tung Demo­kra­tie und Plu­ra­lis­mus begab, tri­um­phierte bereits in Jelzins Russ­land die auto­kra­ti­sche Tra­di­tion. Am Ende der 1990er Jahre wurde Wla­di­mir Putin als Nach­fol­ger Jelzins aus­ge­wählt, weil er die auto­kra­ti­schen, auto­ri­tä­ren und anti­west­li­chen Hal­tun­gen ver­kör­perte, die den Kern der rus­si­schen Eliten wei­ter­hin prägten.

Neben dieser Par­al­lel­ge­schichte der Ent­wick­lung der beiden größten Nach­fol­ge­staa­ten der Sowjet­union ver­folgt Plokhy auch ihre Bezie­hun­gen zum Westen. Nach langen Jahren des Wankens und zwei Revo­lu­tio­nen ent­schied sich die Mehr­heit der Ukrai­ne­rin­nen für einen west­li­chen Weg ihres Landes. Es war diese umkämpfte Ent­schei­dung, getrof­fen auf dem „Euro­mai­dan“ in Kyjiw, die in den Krieg mit Russ­land führte, der 2014 mit der Anne­xion der Krim begann.

Schei­tern der Ber­li­ner Russlandpolitik

Plokhy schil­dert in seiner Dar­stel­lung auch die oft ver­ges­se­nen acht Jahre Krieg von 2014 bis zum Februar 2022, inklu­sive der geschei­ter­ten Bemü­hun­gen der Euro­päer – ins­be­son­dere der Merkel-Regie­run­gen –, Wla­di­mir Putins Russ­land zu beschwich­ti­gen. Trotz des Krieges und der rus­si­schen Ver­bre­chen schreibt der His­to­ri­ker ohne Schärfe und mit abge­wo­ge­nem Urteil. Doch gerade diese Zurück­hal­tung offen­bart viel­leicht beson­ders ein­drück­lich das Schei­tern der Ber­li­ner Russ­land­po­li­tik, das bis heute nicht ansatz­weise auf­ge­ar­bei­tet wurde. Trotz zahl­lo­ser Fehl­ein­schät­zun­gen und Ent­schei­dun­gen zum Nach­teil der Ukraine wurden an Angela Merkel weiter hohe Preise ver­lie­hen. Wohl auch, damit sich das poli­ti­sche Berlin nicht dem Erbe ihrer Politik stellen muss.

Gelun­gene Dar­stel­lung eines kaum ver­gan­ge­nen Geschehens

Was Serhii Plokhy über den Weg zum rus­si­schen Über­fall vom 24. Februar 2022 und über den Kriegs­ver­lauf selbst schreibt, dürfte auf­merk­same Zeit­ge­nos­sen kaum über­ra­schen. Der Vorteil des Buches ist hier die kom­pri­mierte Dar­stel­lung des Gesche­hens, die wie­derum zahl­rei­che Akteure und Quellen ein­be­zieht. Beim Lesen seiner Dar­stel­lung kann man die dra­ma­ti­schen Ereig­nisse, die wir durch­lebt haben, noch einmal nach­voll­zie­hen. Die gelun­gene Dar­stel­lung eines kaum ver­gan­ge­nen Gesche­hens ist eine große Leis­tung des Historikers.

Ein waches Auge für Russ­lands Verstrickungen

Serhii Plokhy hat die erste umfas­sende, his­to­risch fun­dierte Erzäh­lung und Deutung des rus­si­schen Angriffs auf die Ukraine vor­ge­legt. Ins­be­son­dere für die­je­ni­gen, die keine aus­ge­präg­ten Kennt­nisse der ost­eu­ro­päi­schen Geschichte haben, dürften hier neue Aspekte und Les­ar­ten des Krieges sicht­bar werden. Plokhy hat ein waches Auge für Russ­lands Ver­stri­ckun­gen in die impe­ria­len Tra­di­tio­nen des Zaren­rei­ches und der Sowjet­union. Gerade in Deutsch­land, wo ukrai­ni­sche Per­spek­ti­ven immer noch in der Min­der­heit sind und die Nabel­schau über­wiegt, ist diesem Buch viel Erfolg zu wün­schen. Es dient im wahrs­ten Sinne des Wortes der Auf­klä­rung über Russ­lands Angriff auf die Ukraine.

Serhii Plokhy: Der Angriff. Russ­lands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt. Hoff­mann und Campe, Hamburg 2023, 496 Seiten, Preis: 26 Euro

Portrait von Jan Claas Behrends

Jan Claas Beh­rends ist Pro­fes­sor an der Europa-Uni­ver­si­tät Via­drina und His­to­ri­ker am Zentrum für Zeit­his­to­ri­sche For­schung in Potsdam.

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