Ein gefähr­li­cher Trend: Angriffe auf Akti­vis­ten nehmen zu!

“Wer hat Mykola Bychok getötet?” Pro­tes­tie­rende am 27.09.2018 in Kiew © Euro­mai­dan Press

Seit 2017 wurden über 55 Akti­vis­ten und Poli­ti­ker ange­grif­fen. Viele Beob­ach­ter sind des­we­gen ernst­haft beun­ru­higt. Was hat es mit den Über­grif­fen auf sich und warum häufen sie sich aus­ge­rech­net in letzter Zeit? Eine Analyse von Alya Shandra.

Am 15. Oktober hörte Daryna Alek­san­d­rowa um 3 Uhr morgens die Alarm­an­lage ihres Wagens . Es war zu spät – die beiden Autos der Familie standen in Flammen. Alek­san­d­rowa, ein junges Mit­glied des Stadt­ra­tes von Kot­syu­bynske, einem Vorort der ukrai­ni­schen Haupt­stadt Kyjiw, sagte, die Brand­stif­tung sei mit ihren Ver­su­chen ver­bun­den, Kor­rup­ti­ons­sche­mata auf­zu­de­cken und einen nahe­ge­le­ge­nen Wald zu erhalten.

Alek­sand­ro­vas ver­brannte Autos. Foto: Natio­nale Polizei der Ukraine

Die Nach­rich­ten haben nie­man­den in der Ukraine über­rascht. Vor drei Wochen hatten es die Ärzte auf der anderen Seite des Landes, in der Küs­ten­stadt Odessa, kaum geschafft, das Leben von Oleh Mykhai­lyk zu retten. Dem 43-jäh­ri­gen Akti­vis­ten und Vor­sit­zen­den der jungen poli­ti­schen Partei „Syla Liudei“ wurde auf dem Nach­hau­se­weg von einer Demo in die Brust geschos­sen. Seine Par­tei­mit­glie­der sind sich sicher, dass der Angriff mit Mykhai­lyks Kam­pa­gnen gegen ille­gale Bau­vor­ha­ben zusam­men­hing – und mit Odessas skan­dal­um­wit­ter­ten Bür­ger­meis­ter Hen­na­diy Trukha­now, der es immer noch schafft im Amt zu bleiben – trotz zahl­rei­cher Beweise für Kor­rup­tion, und eines rus­si­schen Passes, den er nach ukrai­ni­schem Recht gar nicht besit­zen dürfte.

Portrait von Alya Shandra

Alya Shandra ist Chef­re­dak­teu­rin von Euro­mai­dan Press, einem eng­lisch­spra­chi­gen Grass­roots-Medium über die Ukraine. Alya hat einen Hin­ter­grund in der Umwelt­for­schung und im Aktivismus.

Diese beiden Angriffe auf kri­ti­sche Akti­vis­ten aus Politik bzw. Zivil­ge­sell­schaft in der Ukraine sind die jüngs­ten von min­des­tens 55 seit 2017. Die Zivil­ge­sell­schaft in der Ukraine und viele Beob­ach­ter sind des­we­gen ernst­haft beun­ru­higt. Über 50 NGOs unter­zeich­ne­ten einen gemein­sa­men Appell, in dem sie die aktu­elle Situa­tion der „Ver­fol­gung von Akti­vis­ten und die Untä­tig­keit des Staates“ mit den Tagen des ehe­ma­li­gen Prä­si­den­ten Janu­ko­wytsch ver­gli­chen und die Regie­rung auf­for­der­ten, die Anschläge endlich zu untersuchen.

Dar­auf­hin deutete Gene­ral­staats­an­walt Lut­senko an, dass die Akti­vis­ten womög­lich selbst für die Anschläge ver­ant­wort­lich seien, weil sie der Regie­rung zu kri­tisch gegen­über stehen würden.

Akti­vere Bürger – mehr Angriffe seit Euromaidan

Tetiana Pechon­chyk, Lei­te­rin des Men­schen­rechts­in­for­ma­ti­ons­zen­trums, hält die Situa­tion sogar für schlim­mer als zu Janu­ko­wytschs Zeiten: Die Zahl der Angriffe auf Akti­vis­ten ist seit der Revo­lu­tion der Würde 2014 tat­säch­lich gestie­gen. Es gibt mehrere Erklä­run­gen, sagt sie: Erstens sind die zivil­ge­sell­schaft­li­chen Akti­vi­tä­ten quan­ti­ta­tiv wie qua­li­ta­tiv seit dem Maidan in die Höhe geschos­sen – im ganzen Land- ins­be­son­dere in den Regio­nen. Viele Bürger betei­lig­ten sich an den Dezen­tra­li­sie­rungs­pro­zes­sen, bil­de­ten Gemein­schaf­ten und NGOs, um die ille­gale Bebau­ung, die Zer­stö­rung von Parks und der sons­ti­gen Teil­nahme am öffent­li­chen Leben anzu­ge­hen. All dies beein­träch­tigt die bestehen­den Kor­rup­ti­ons­sche­men der lokalen Behör­den bzw. Eliten. Zwei­tens hat der nicht erklärte Krieg Russ­lands im Osten der Ukraine das Ausmaß der Gewalt – und die Tole­ranz gegen­über Gewalt – erhöht. In einigen Fällen waren die Atten­tä­ter der Angriffe Kriegs­ve­te­ra­nen, die auf keine staat­li­chen Pro­gramme zurück­grei­fen können, um ihre Trau­mata zu ver­ar­bei­ten und wieder in ein fried­li­ches Leben zurückzukehren.

Dies erklärt, warum laut Pechon­chyk die Opfer aus drei Stämmen stammen: den Anti­kor­rup­ti­ons­ak­ti­vis­ten, „Umwelt­ak­ti­vis­ten“ im wei­te­ren Sinne – die gegen Abhol­zung, Zer­stö­rung von Parks, ille­ga­les Bauen usw. pro­tes­tie­ren, und LGBT- und femi­nis­ti­schen Akti­vis­ten, die Opfer von Angrif­fen rechts­extre­mer Gruppen werden.

Während einer Demons­tra­tion wurde der Vor­sit­zende des Anti­cor­rup­tion Action Centers (ANTAC) von einem Angrei­fer mit anti­sep­ti­scher Farbe über­schüt­tet. Foto: zbruc.eu

Aber eines ist seit Janu­ko­wytschs Zeiten gleich geblie­ben: die Unfä­hig­keit der Polizei, die Schul­di­gen zu ermit­teln. „In vielen Fällen sind die Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den nicht in der Lage, eine wirk­same Unter­su­chung durch­zu­füh­ren, und in einigen Fällen ver­mu­ten wir, dass sie absicht­lich Sabo­tage betrei­ben. Die Staats­an­walt­re­form ist völlig geschei­tert, die Poli­zei­re­form hat auf der „Fas­sa­de­nebene“ der Strei­fen­po­li­zei auf­ge­hört, aber die Ermitt­lung­be­am­ten, die diese Ver­bre­chen unter­su­chen müssen, sind nicht refor­miert worden“, sagt Pechonchyk.

Im Falle von Kateryna Hand­ziuk, einer Akti­vis­tin in der süd­ukrai­ni­schen Stadt Kherson, die in der Nähe ihres Hauses von Angrei­fern mit Schwe­fel­säure über­gos­sen wurde, wurde die Polizei erst nach mas­si­vem öffent­li­chen Druck aktiv, den Hand­zi­uks Freunde tref­fend „butt-kicking demo­cracy“ nannten. Dank breiter Bericht­erstat­tung und Pro­tes­ten wurde der Fall vom absur­den „Hoo­li­ga­nis­mus“ in einen „Mord­ver­such“ umde­kla­riert. Die Polizei ver­haf­tete sogar einen unschul­di­gen Mann, nur um die Welle der öffent­li­chen Wut zu löschen. Zwei­ein­halb Monate nach dem Angriff wurden die Atten­tä­ter ver­haf­tet, aber der Orga­ni­sa­tor ist noch unbe­kannt – wie bei den rest­li­chen 55 Angriffen.

„Wer steckt hinter all diesen Kri­mi­nel­len? Wer deckt und schützt den Orga­ni­sa­tor? Warum wurden so viele Unter­su­chun­gen sabo­tiert? Warum sollten wir das hin­neh­men, während die enga­gier­tes­ten Akti­vis­ten getötet oder ver­krüp­pelt werden? Warum sollten wir normale Ukrai­ner ermu­ti­gen, sich an sozia­len Akti­vi­tä­ten und Bür­ger­initia­ti­ven zu betei­li­gen, wenn wir sie nicht schüt­zen können“, fragt Hand­ziuk in einem Video­an­ruf von ihrem Kran­ken­haus­bett aus, in dem sie lange Zeit ver­brin­gen wird, bis sie sich von den Ver­bren­nun­gen erholt hat, die 30% ihres Körpers bedecken.

Kyjiw erlaubt es im Gegen­zug für Stimmen, regio­na­len Eliten wie Feu­dal­her­ren zu regieren

Da es kaum wirk­sa­men Ermitt­lun­gen zu den Angrif­fen gibt, ist der eigent­li­che Grund dafür unklar. Häufig wird rus­si­scher Ein­fluss ver­mu­tet, dessen Ziel es sei, Chaos zu ver­ur­sa­chen. Dafür mangelt es aber an schlag­hal­ti­gen Bewei­sen. Mykola Vyhovs­kyi von der „Chesno“-Bewegung, die die Wahlen in der Ukraine über­wacht, ist jedoch der Meinung, dass die Anschläge einen wei­te­ren, nicht minder fins­te­ren Grund haben: Es gibt eine inof­fi­zi­elle Ver­ein­ba­rung, nach der Prä­si­dent Poro­schenko den lokalen Eliten erlaubt, im Aus­tausch für ihre Loya­li­tät bei den Wahlen zu tun, was sie wollen.

Oleg Mykhai­lyk (mit Laut­spre­cher) war eine sicht­bare Per­sön­lich­keit des poli­ti­schen Lebens in Odessa Foto: Pravda.com.ua

„Gemäß den Bedin­gun­gen der Ver­ein­ba­rung sorgen die lokalen Eliten dafür, dass der Prä­si­dent wie­der­ge­wählt wird [während der Wahl 2019 – Ed], und im Gegen­zug erhal­ten sie Immu­ni­tät. So werden die Regio­nen in den Schoß der lokalen Eliten gewor­fen, die tun können, was sie wollen. Und Akti­vis­ten stehen ihnen im Weg, sie werden unter Druck gesetzt oder phy­sisch zer­stört“, glaubt Vyhovskyi.

Auf jeden Fall erklärt dies die Fülle der Angriffe auf Akti­vis­ten in Odessa: Während Bür­ger­meis­ter Trucha­now nach Angaben der Opfer­ver­bände der wahr­schein­lichste Ver­däch­tige ist, sieht die Polizei ihn niemals als Ver­däch­ti­gen. Trotz zum Teil ver­nich­ten­der Indi­zien für Kor­rup­tion darf Trucha­now Odessa wei­ter­hin führen, als ob nichts pas­siert wäre. Jüngst deckten BBC Recher­chen im Kontext der „Para­dise-Papers“ auf, dass Trucha­now Immo­bi­lien im Mil­lio­nen­wert in London besitzt, deren Finan­zie­rung er nicht erklä­ren kann.

Zur Flucht gezwungen

Laut Pechon­chyk wurden viele Akti­vis­ten mehr­mals ange­grif­fen. Einige wurden so ein­ge­schüch­tert, dass sie das Land ver­lie­ßen. Die Kyjiwer Akti­vis­tin Valen­tyna Aksi­o­nova, die eine Kam­pa­gne zur Rettung eines nahe­ge­le­ge­nen Waldes leitete, verließ nach mehr­fa­chen Dro­hun­gen Brand­stif­tung ihres Autos, der Untä­tig­keit der Polizei und den Dro­hun­gen gegen ihre Familie die Ukraine. Auch der LGBT-Akti­vist Ihor Sach­art­schenko war 2017 nach Angrif­fen aus der Ukraine geflo­hen und hat nun den Flücht­lings­sta­tus in Frank­reich erhalten.

Aber zumin­dest eines ist jetzt besser, sagt Pechon­chyk: Immer­hin setzt der Staat keine Straf­psych­ia­trie gegen Akti­vis­ten ein, wie es vor der Euro­mai­dan mehr­mals geschah. Der Rechts­rah­men für Akti­vis­ten hat sich jedoch ver­schlech­tert: Ein Gesetz, das die Anti­kor­rup­ti­ons­ak­ti­vis­ten ver­pflich­tet, ihr Ver­mö­gen auf Augen­höhe mit Staats­be­am­ten offen­zu­le­gen, ist derzeit in Kraft, und im Par­la­ment liegen min­des­tens drei weitere Gesetze zur Begren­zung der Akti­vi­tä­ten von Bür­ger­ak­ti­vis­ten und NGOs auf dem Tisch. „Das ist scho­ckie­rend, wenn so eine zen­tra­li­sierte Offen­sive und Behin­de­rung von Seiten der Behör­den statt­fin­det“, sagt Pechon­chyk. Einige Exper­ten spre­chen offen von einem koor­di­nier­ten staat­li­chen Angriff auf Bürgeraktivisten.

Wird Daryna Alek­sand­rova mit ihren abge­brann­ten Autos auch ein­ge­schüch­tert, die Ukraine zu ver­las­sen, wie es Aksi­o­nova vor ihr tat? Dies wird davon abhän­gen, ob sich die Post­mai­dan-Regie­rung der Ukraine endlich ernst­haft dem Problem anneh­men wird und eine Reform der Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den durch­führt – auch gegen lokale Eliten – oder ob sie die Kampagne(n) gegen Akti­vis­ten wei­ter­hin duldet. Leider gibt es in der Vor­wahl­zeit des kom­men­den Super­wahl­jah­res 2019 in der Ukraine derzeit kaum Hoff­nung für ersteres.

Lesen Sie hier eine Über­sicht der 10 pro­mi­nen­tes­ten Fälle von Über­grif­fen auf Aktivsten.

Aus dem Eng­li­schen über­setzt von Mattia Nelles

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