„Die Ukrainer verstehen den Wert eines anderen Lebens”
Taras Prochasko ist einer der bekanntesten zeitgenössischen ukrainischen Schriftsteller. Im Interview mit Roman Kravets spricht er darüber, wie der Krieg seine Heimatstadt verändert und warum wir auf den Tod von Wladimir Putin warten müssen.
Roman Kravets: Die Westukraine lebt in einer Art Spagat zwischen Frieden und Krieg. Wie würden Sie die aktuelle Lage in Iwano-Frankiwsk beschreiben?
Taras Prochasko: Es gibt hier viele verschiedene Stimmungen. Tatsächlich steckt Galizien in einer Art Zwickmühle. Denn einerseits trägt die Region die Idee einer geeinten Ukraine. Andererseits ist sie Trägerin einer eigenen Vorstellung, wie die Ukraine sein sollte. Wir befinden uns im Krieg, wir kämpfen, wir verteidigen eine geeinte Ukraine, aber ist sie so, wie wir sie wollen? Manche Leute hatten das Gefühl, wir würden unsere Seele und unseren Körper hinter diese Idee stellen. Und manche hatten das Gefühl, dass dies nicht wirklich die Ukraine ist, die wir uns vorgestellt haben. So war das lange Zeit. Und jetzt ist die Zeit gekommen, in der klar wurde, dass die Ukraine der einzige Ort auf der Welt ist, der die Existenz der ukrainischen Nation gewährleistet und garantiert. Ich erinnere mich an die seit 30 Jahren vorherrschende Stimmung, dass irgendetwas nicht stimmt. Dass es besser werden muss. Und dann kam der Moment des wahren Gefühls, dass es keinen anderen Ort für uns gibt. Und dass wir unser Land bewahren und beschützen müssen.
Was hat sich in Iwano-Frankiwsk seit dem 24. Februar geändert?
Es sind viele neue Menschen gekommen und das verändert die Atmosphäre in der Stadt. Es ist bezaubernd. Mir kommen manchmal Vergleiche mit Vichy, der Hauptstadt des unbesetzten Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs, eigentlich ein Ferienort, an den viele Menschen geflohen sind. Solche Vergleiche tauchen vor allem bei sonnigem Wetter auf, wenn man Blumenverkäufer und Musiker sieht. Und auf der Promenade, dem sogenannten „Hundert“ von Frankiwsk, spazieren all diese neuen Bewohner.
Einige kamen bereits vor Kriegsbeginn. Sie sind abgesichert, haben hier Wohnungen gefunden. Aber es gibt auch viele Menschen, die schreckliche Bedingungen hinter sich gelassen haben. Diese Leute haben Bombardierung erlebt. Und sie sind nicht betucht. Sie kamen hierher und fanden Ruhe. Hier kann man wirklich in Frieden leben. Hier haben sie sogar aufgehört auf den Luftalarm zu achten. Das ist eine merkwürdige Situation, wenn die Supermärkte bei Luftalarm geschlossen haben, die Leute aber vor dem Eingang stehen und darauf warten, dass er öffnet. Es wirkt ein bisschen wie Liebe in Zeiten der Cholera.
Putin sagt öffentlich, die Ukraine sei ein „erfundener Staat“, Lenin habe ihn geschaffen. Was für eine Welt will der russische Präsident erschaffen?
Putin ist nicht originell. Das, was er sagt, ist eine sehr alte russische Legende. Er baut eine maximale Präsenz in jenen Ländern auf, die nach alten Vorstellungen als Russlands Einflusssphäre gelten. Putin hat diese alte Idee einfach wieder zum Leben erweckt.
Wie hat es Putin Ihrer Meinung nach geschafft, sein Volk in eine stille „Herde“ zu verwandeln?
Ich möchte eine jüdische Antwort in Form einer Frage geben: Wann gab es dort keine „Herde“? Ich will nicht behaupten, dass alle Russen zu irgendeiner „Herde“ gehören, aber…
...Aber 71 Prozent unterstützen den Krieg.
Es war nie anders. Erinnern wir uns daran, was im Kaukasus im 19. Jahrhundert geschehen ist, an Suworow oder Warschau, die kurzzeitige russische Besetzung Galiziens, die Besetzung von Lemberg 1914 bis 1915. Das ging schon immer so. Und ich denke, das zu verstehen ist eine sehr wichtige Sache. Das ist nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Und dieser russische Stil, einschließlich des Verhaltens der Besatzer, der Rhetorik ihrer Führer, die mit der Ideologie einiger orthodoxer und russischer Intellektueller und Philosophen verflochten ist – das alles gibt es schon lange. Ich bin also überhaupt nicht schockiert über das, was passiert ist. Es musste so kommen.
Warum musste es zum Krieg kommen?
Weil dies die Haltung Russlands gegenüber der Ukraine ist. Und diese Wellen „momentaner Schwäche“, wie russische Schriftsteller es nennen, als die Russen sich entspannten und mit sich selbst beschäftigt waren, vorüber sind. Es gibt nur noch Wellen der Expansion, der Aggression.
Sie haben selbst die Zeiten der Besatzung Galiziens erwähnt. Glauben Sie, es könnte zu einer neuen russischen Besetzung Galiziens kommen?
Nein, ich glaube nicht, dass das passieren wird. Obwohl viel davon abhängt, was in der gesamten Ukraine passiert. Der Moskauer macht wieder einmal, was er will.
Und es ist schrecklich, sich einzugestehen, dass er tatsächlich tun kann, was er will.
Und was mir an Galizien am meisten Angst macht, ist, dass ich weiß, dass die Russen schreckliche Bedingungen durchstehen können. Wenn alle westlichen Ökonomen und Analysten sagen, dass sie in Schwierigkeiten sind, können sie immer noch unter solchen Bedingungen leben. Die Russen haben viele Male übermenschlichen Druck ertragen. Man sagt: „Was für einen Deutschen der Tod ist, ist für einen Russen gut.“ Und deshalb können sie noch sehr lange mit ihrer erodierten, verstümmelten, erschöpften Kraft der Ukraine Schläge versetzen.
Viele Menschen hoffen jetzt, dass die Ukraine nach Putins Tod normal leben kann. Kann sein Tod wirklich die Lage in Russland verändern?
Ja, das kann etwas verändern. Denn in Russland hing schon immer alles stark von seinem Führer oder Diktator ab. Ein Blick in die russische Geschichte zeigt, dass jeder Tod eines Diktators die Situation in irgendeiner Weise verändert hat. Wenn man versteht, dass Stalin nicht mehr lebt, dass es keinen Dschingis Khan mehr an der Spitze gibt, dann beginnt sich jeder anders zu verhalten.
Es gab den Mythos, dass Ukrainer und Russen „Brudervölker“ sind, der jetzt eindeutig entlarvt wurde. Wie unterscheiden sich Ihrer Meinung nach Russen von Ukrainern?
Auf eine Sache reduziert ist es die Einstellung zum Leben und seinem Wert. Die Ukrainer schätzen verschiedene Lebensformen und all die Anker, die sie im Leben halten: ein wenig Arbeit, ein wenig Reichtum. Sogar Schmalz, Wodka, gutes Essen, Ruhe, Kinder, ein sauberes Haus und der Garten. Die Ukrainer wissen ihr Leben zu schätzen und dementsprechend haben wir die Fähigkeit, den Wert eines anderen Lebens zu verstehen. Bei den Russen gibt es etwas, worüber Turgenjew einmal geschrieben hat, wenn auch in einem etwas anderen Sinne: alles ist für den Arsch, alle rundherum sind für den Arsch, sowohl die Familie ist für den Arsch als auch die Arbeit für den Arsch. Das heißt, nichts ergibt für sie einen Sinn. Obwohl sie ja die Gemeinschaft, den Kommunismus, den Kollektivismus immer geliebt haben, leben sie nach dem Grundsatz: Man ist nur ein kleines Rädchen. Das heißt: das Leben ist eine Kopeke.
Glauben Sie, dass der Krieg noch lang andauern wird?
Ich hoffe wirklich, dass die aktive Phase des Krieges bald endet. Aber ich fürchte, dass das Einfrieren und die Konfrontation aus den letzten acht Jahren noch einige Zeit andauern werden. Länger als wir denken. Und es ist auch klar, dass selbst wenn der Krieg endet, es keine russische Kapitulation geben wird. Es kann zu einem vollständigen Abzug der Truppen aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine kommen. Aber Russland wird nichts passieren. Das heißt, wir werden es nicht besiegen. Und selbst unsere Militärdoktrin sieht jetzt keine Offensive im Ausland vor, wie es die Russen im Zweiten Weltkrieg machten, als sie nicht nur an die ehemaligen Grenzen der UdSSR vordrangen, sondern den Feind innerhalb seiner Grenzen besiegten. In der Ukraine gibt es kein solches Konzept und auch nicht die Fähigkeit dazu. Es wird keine vollständige Niederlage Russlands geben. Damit ist ein neuer russisch-ukrainischer Konflikt einige Zeit nach unserem Sieg immer noch möglich.
Wie verändert der Krieg die ukrainische Gesellschaft?
Der Krieg verändert jeden in vielerlei Hinsicht. Aber ein Aspekt, den ich erwähnen möchte, ist, dass der ukrainische Nationalismus aufhört, ethnisch zu sein. Das heißt, während sich der ukrainische Nationalismus entwickelt und verstärkt, ändert sich auch die Vorstellung davon, wie die Nation sein sollte. Bisher war nämlich das größte Problem der ukrainischen Nationalisten der Kampf um die Reinheit der Nation. Und hier wurde endlich zum ersten Mal seit langer Zeit der Kampf um die Existenz der ukrainischen Nation für ukrainische Nationalisten relevant. Und viele Kräfte wurden in diesen ukrainischen Nationalismus integriert, die bis dahin nicht unter den Begriff des Nationalismus fielen.
Wie wird sich Ihrer Meinung nach die politische Elite verändern? Manche glauben, dass nach dem Sieg das Militär an die Macht kommen wird.
Mir scheint, dass das ukrainische Militär bisher eine große Befriedigung und Selbstverwirklichung im militärischen Sinne erfahren hat. Und vielleicht fördert dies nicht politische Ambitionen. Denn nie hatte das Militär in der Ukraine eine bessere berufliche Situation. Und ich hoffe, dass das Militär sich weiterhin der Militarisierung der Ukraine und der Entwicklung der Armee widmen wird und nicht politischen Belangen.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Ukraine sich wie in Israel verhalten und ernsthaft eine dauerhafte Militärpräsenz aufbauen muss.
Aber selbst, wenn es so kommt, dass das Militär in der Legislaturperiode präsent ist, denke ich, dass es nur vorübergehend sein wird.
Aber droht uns nach Kriegsende nicht die Entstehung einer Diktatur im politischen Sinn?
Ich denke, dass in der Ukraine unter den jetzigen Umständen eine Diktatur nach dem Krieg unmöglich ist. Der Krieg ist deshalb ausgebrochen, weil die Ukrainer eben nicht der Diktatur erliegen wollen. Im Moment müssen wir die Freiheit, die Demokratie schätzen, die unserem Land innewohnt und sich wirklich entwickelt. Was auch immer war – wir haben Freiheit. Viele Menschen, die keine ethnischen Ukrainer waren, waren lange Zeit „Konsumenten“ russischer Kultur. Als sie mit der diktatorischen Realität Russlands konfrontiert wurden, sind sie zu Bürgern der Ukraine geworden. Sie haben erkannt, dass die Ukraine ein gutes Land ist. Dass sie hier nicht gedemütigt werden und überhaupt eine ganz andere Lebensqualität herrscht als in Russland.
Zuerst erschienen am 28. April 2022 auf Ukrainisch bei: https://www.pravda.com.ua/articles/2022/04/28/7342412/
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