Die Ukraine braucht Unterstützung für die neue Phase des Krieges
Russland bereitet in diesen Tagen die nächste Phase des Vernichtungskriegs gegen die Ukraine vor. Gleichzeitig versucht die Ukraine die Initiative zu gewinnen. Auch die Bundesregierung sollte die Lage neu bewerten, ihre Ziele klar formulieren und die militärische Unterstützung schnell und nachhaltig ausbauen. Von Nico Lange
Nachdem Russland im Donbass zuletzt in Sjewjerodonezk zunächst hohe Verluste erlitt, konnte die Ukraine ihre Verteidigungstaktik der Verlagerung der Kämpfe in urbanes Gelände in der Nachbarstadt Lyssytschansk nicht erfolgreich anwenden. Die Russen umgingen Lyssytschansk und die Ukrainer mussten sich schnell zurückziehen.
Jetzt beschießt Russland mit älteren, weniger treffgenauen Raketen und Raketenartillerie weiterhin ukrainische Städte und ordnet seine Kräfte neu. Dabei versuchen die russischen Streitkräfte, erlittene Verluste auszugleichen, dezimierte Einheiten wieder zu verstärken, Fahrzeuge und Technik nachzuführen und die Logistik anzupassen.
Russland will damit die Voraussetzungen für einen massiven Angriff auf den Ballungsraum Slowjansk, Kramatorsk, Kostjantyniwka, Bachmut mit insgesamt vormals mehr 400.000 Einwohnern schaffen. Der Großangriff soll offenbar aus drei Richtungen erfolgen – von Norden aus Izium, von Südosten auf der Route Lyssytschansk-Bachmut und von Süden aus Donezk.
Die Ukraine verfügt in Slowjansk und Kramatorsk über ausgebaute Stellungen. Russland wird für seinen Angriff eine gewaltige Konzentration an Kräften aufwenden müssen. Eine Schlacht würde sehr wahrscheinlich Monate dauern, diese Städte weitgehend verwüsten und könnte, wenn überhaupt, von Russland nur unter hohen Verlusten gewonnen werden.
Derzeit führt Russland mit Vorauskräften abtastende Angriffe an der Frontlinie durch, um ukrainische Stellungen und mögliche Schwächen zu erkennen. Dieses Abtasten ist auch im Gebiet südlich von Saporishja zu beobachten. Ein Unterstützungsangriff Russlands vom Süden aus Richtung Melitopol nach Saporishja könnte eine zusätzliche Option sein. Auch die Ukraine führt derzeit südlich von Saporishja Kräfte zusammen und kündigte Gegenangriffe in Richtung Melitopol an. Möglicherweise entsteht in der kommenden Phase des Krieges südlich von Saporishja ein neuer Schauplatz.
Seit einigen Tagen nimmt die Ukraine erfolgreich mit weitreichender westlicher 155mm Artillerie und Mehrfachraketenwerfern HIMARS die russischen Führungseinrichtungen, Kommunikation und Logistik unter Feuer. Die Ukraine zerstörte mehr als 15 große russische Munitionsdepots. Sie traf außerdem Stützpunkte der als Besatzungstruppen genutzten Rosgwardia-Einheiten, russische Gefechtsstände, Stäbe, Kommunikationseinrichtungen und Treibstofflager.
Dort, wo die Ukraine diese westlichen Waffen einsetzen kann, gelingt ihr zunehmend eine Verschiebung des Momentums. Russland ist zur Anpassung gezwungen, zieht Führung, Kommunikation und Logistik weiter ins Hinterland zurück und gerät erkennbar in logistische Bedrängnis und Führungsprobleme – ähnlich wie in der ersten Phase des Krieges.
Da die Ukraine an der ausgedehnten Länge der Front bisher noch über deutlich zu wenige dieser Systeme verfügt, kann sie diesen Vorteil nur in wenigen Abschnitten ausspielen.
Auch im Gebiet am südwestlichen Ufer des Dnipro kann die Ukraine bisher nur punktuell ein militärisches Übergewicht bilden und angreifen. Seit Monaten bewegt sich dort nur wenig, trotz einer immer wieder angekündigten ukrainischen Gegenoffensive in Richtung Cherson.
In und bei Charkiw setzt Russland den Beschuss fort und hält weiter signifikante Kräfte bereit, wie zunehmend wieder in Richtung Sumy. Dies dient vermutlich dazu, ukrainische Kräfte zu binden, damit sie für die Verteidigung des Donbass nicht herangezogen werden können. Gleiches gilt an der Nordgrenze zu Belarus vor allem im Nordwesten, wo belarussische Kräfte weiterhin üben und damit ukrainische Kräfte zwingen, auf der Gegenseite abwehrbereit zu bleiben.
Die ukrainischen Streitkräfte beweisen seit Wochen eindrucksvoll, dass sie auch modernste Waffensysteme schnell in ihre Arsenal integrieren und mit Erfolg ins Gefecht bringen können. Westliche Ausbilder – auch deutsche – berichten über die hervorragenden Kenntnisse der ukrainischen Artilleristen und den effizienten Einsatz von CAESAR, PzH 2000, M109 und M777. Zu vielen Aspekten des Artilleriekriegs sind es eher die Ukrainer, die ihre westlichen Partner unterrichten, als umgekehrt.
Die Bewertung, die Ukrainer könnten mit modernen und nicht-sowjetischen Waffensystemen nicht umgehen, ist damit endgültig widerlegt. Diese Hilfe kann und muss jetzt sehr rasch ausgeweitet werden. Die USA liefern bereits weitere Mehrfachraketenwerfer, auch Deutschland sollte die Lieferungen von 155mm-Artillere und Munition deutlich aufstocken.
Die Lieferung kampfstarker westlicher Waffen führte, anders als vielfach behauptet, nicht zu einer weiteren Eskalation des Krieges durch Russland, sondern vor allem zu wütender Propaganda im russischen Staatsfernsehen. Längst werden von westlichen Partnern gelieferte Distanzwaffen, aber auch Kampf- und Schützenpanzer und andere gepanzerte Fahrzeuge von der Ukraine eingesetzt, ohne dass eine russische „Eskalation“ jenseits der Rhetorik stattgefunden hätte.
Russische Angriffe auf westliche Waffen- und Munitionslieferungen außerhalb der Grenzen der Ukraine hat es nicht gegeben. Die westlichen Waffensysteme erreichen die ukrainischen Streitkräfte und werden schnell an die Front gebracht. Für eine nukleare Eskalation gibt es über die üblichen Drohungen als Teil der psychologischen Kriegsführung hinaus keinerlei Anzeichen. Die nukleare Rhetorik der russischen Seite hat im Vergleich zum Beginn des Krieges sogar spürbar abgenommen.
Die westlichen Waffen wirken, die Lieferungen sind aber noch zu gering und kommen zu langsam. Dabei hat der bisherige Kriegsverlauf die russischen Schwächen offengelegt. Mit maximalem Aufwand und unter extrem hohen Verlusten erreicht Russland nur geringe Landgewinne. Ob Russland dazu in der Lage ist, die Herrschaft in den eroberten Gebieten zu konsolidieren, bleibt fraglich.
Westliche Hoffnungen, dass Russland sich auf die Eroberung des Donbass beschränken würde, sind illusionär. Schon jetzt attackiert Russland weiter in Charkiw und Sumy, unternimmt Vorstöße in Richtung Saporishje. Zugladungen mit Kampfpanzern und Schützenpanzer werden von der Krim aus zur Südschiene mit dem Ziel Cherson-Mykolajiw-Südlicher Bug-Odessa gebracht.
Ausgehend von diesem militärischen Sachstand sollten die Partner der Ukraine jetzt massiv und schnell weiter liefern und unterstützen. Damit könnten sie der Ukraine helfen, noch im Sommer die Initiative zu gewinnen. Es ergibt keinen Sinn, jetzt abzuwarten oder zu zögern, bis Russland sich erholen und neu aufstellen kann.
Die Ukraine braucht dringend mehr geschützte Mobilität für ihre Truppe, die unter ständigem Artilleriebeschuss stehen. Nur mit gepanzerten Fahrzeugen kann die Truppe beweglich werden und letztlich die Russen zurückdrängen. Aus Deutschland kommen dafür Marder, Fuchs, Dingo, Mungo, Eagle und M113-Varianten in Frage.
Der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow wies gerade gestern erneut dringlich auf die Bedarfe an gepanzerten Fahrzeugen hin. Die bisher gelieferten etwa 300 von insgesamt 900 zugesagten gepanzerten Fahrzeuge unterschiedlicher Typen – davon bisher keine aus Deutschland – sind bei 1200 km Frontlinie und mehreren Hunderttausend Soldaten deutlich zu wenig.
Die Ukraine erzielt hohe Wirkung mit 155mm Artillerie und HIMARS. Die Ausstattung mit 155mm Artillerie und passender Munition muss weiter beschleunigt werden. Von etwa 300 gelieferten und zugesagten 155mm Haubitzen stammen bisher nur 10 aus Deutschland.
Dazu braucht die Ukraine Unterstützung bei Transport, Verteilung und Vorstationierung der Munition z.B. mit Containersystemen. Munition muss direkt für die Ukraine produziert werden. Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, dass zuletzt in Rumänien auch die Produktion von 152mm Artilleriemunition wieder aufgenommen wurde.
Darüber hinaus brauchen die ukrainischen Streitkräfte und die Territorialverteidigung ständig Treibstoffe, Fahrzeuge für Treibstofftransport und Möglichkeiten zur Lagerung. Auch Jeeps, Pickups und Kleinbusse sind sehr wertvolle Hilfen.
Der Ukraine helfen an der sehr langen Frontlinie möglichst viele Drohnen. Dabei sind auch zivile Drohnen mit Kameras sehr nützlich.
Vor allem für mögliche Offensiven benötigt die Ukraine mehr und bessere Mittel gegen die teilweise sehr starke russische elektronische Kampfführung. Sichere, verschlüsselte Kommunikation ist ebenso notwendig wie spezielle Munition und Anti-Strahlungsraketen (ARM).
Eine wirksame Entlastung und Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte kann auch durch die Infanterieausbildung von Reserven erfolgen, wie es die Briten gerade für mehrere Tausend ukrainische Soldatinnen und Soldaten tun.
Das Modell der Infanterieausbildung im Ausland scheint ebenso zur Vervielfältigung geeignet wie die Instandsetzung ukrainischer Waffensysteme mit Kapazitäten innerhalb von EU und NATO. Zusätzliche Reparaturwerkstätten, mobile Instandsetzung und Einbindung der Industrie an den Westgrenzen der Ukraine wären sinnvoll.
Insgesamt kommt Russland im Donbass mit der „Feuerwalze“ weiterhin nur sehr langsam voran. Wenn die Partner der Ukraine jetzt schneller und entschlossener agieren, können sie dazu beitragen, dass die Ukraine in die Vorhand kommt.
Fazit: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine tritt in eine neue Phase. Auch Deutschland sollte sich ehrlich fragen: Was ist das Ziel unserer Politik? Was wollen wir mit der militärischen Unterstützung der Ukraine erreichen? Wollen wir weiter tropfenweise einige Waffen liefern, um vor den Partnern nicht völlig im Abseits zu stehen und minimale Bündnistreue in EU und NATO zu beweisen? Oder wollen wir gemeinsam mit den Partnern jetzt entschlossen das Nötige tun, damit die Ukraine militärisch eine Wende herbeiführen kann, die Initiative übernimmt und schrittweise in die Lage kommt, den Krieg zu beenden?
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