9. Mai: Überall Faschisten?
Am 9. Mai feiert Russland den Sieg über Nazi-Deutschland. Inzwischen ist der Kampf gegen den Faschismus zur allgegenwärtigen Legitimationsformel von Putins Regime geworden – das zeigt sich auch in der Kriegsrhetorik gegen die Ukraine. Von Dr. Corinna Kuhr-Korolev
Wenn Argumente ausgehen, der politische Gegner aber grundlegend diffamiert und beschimpft werden soll, dann fällt der Ausspruch „Du Faschist!“ oder „Du Nazi!“. Die Schmähung ist zunächst allgemein und bezeichnet das Böse schlechthin. In der derzeitigen Kriegspropaganda und Kriegsberichterstattung hat der Faschismusvorwurf Konjunktur. Alle Seiten stellen Vergleiche an. Es entsteht der Eindruck, es wimmelte überall von Faschisten, aber zu fassen bekommt man sie merkwürdigerweise nicht. Die Allgegenwärtigkeit des Begriffs hat damit zu tun, dass er mit unterschiedlichen Zielen und auf mehreren Ebenen verwendet wird. Im Folgenden werden zwei Kontexte näher beleuchtet.
Der Kampf gegen den Faschismus als Legitimationsressource der russischen Innenpolitik
Seit der zweiten Amtszeit Wladimir Putins hat der „Tag des Sieges“ am 9. Mai eine immer größere symbolische Bedeutung bekommen, die Feierlichkeiten haben von Jahr zu Jahr an Prunk und Pathos gewonnen. Dies steht in engem Zusammenhang mit der Geschichtspolitik der russischen Regierung. Nachdem in den Regierungsjahren Gorbatschows und Jelzins äußerst kritisch die sogenannten „Weißen Flecken“ der sowjetischen Geschichte und insbesondere die Verbrechen des Stalinismus aufgearbeitet wurden, gewann unter Putin eine heroisierende, patriotische Geschichtsbetrachtung die Oberhand.
Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, der zugleich als Befreiung Europas vom Faschismus gefeiert wird, bietet dafür den zentralen Bezugspunkt. Begrifflich wird dabei keine Unterscheidung zwischen Faschismus, Nationalsozialismus oder auch Hitlerismus vorgenommen. Die „Fahne des Sieges“, so drückte es Putins Pressesprecher Peskow im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 77. Jahrestag 2022 aus, stelle für viele Generationen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ein Heiligtum dar und trage somit sakrale Bedeutung. Immer wieder wird betont, dass es eine heilige Pflicht sei, den Großvätern für ihre heldenhaften Taten zu danken (in der populären Form beispielsweise als Aufkleber auf Autos: Spasibo dedu za pebedu! Danke Opa für den Sieg!).
Hüter des Heiligtums
Durch den eigenen Kampf gegen erneut erstarkenden Faschismus habe man sich dessen würdig zu erweisen. Indem die Regierung das historische Geschehen sakralisiert und sich zum Hüter des Heiligtums erklärt, ernennt sie sich zum Vorkämpfer der gerechten Sache und entzieht sich zugleich jeglicher Kritik. Auch die Umstände, unter denen der Sieg errungen wurde, dürfen nicht mehr hinterfragt werden. Davon zeugt ein Gesetz, das die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus verbietet und unter Strafe stellt.
Die Vereinnahmung des Sieges gegen den Faschismus als Legitimationsmittel für das Regime ist das eine. Zugleich bietet die Heroisierung der Kriegsgeschichte ein Integrationsangebot an die Bevölkerung. Die Teilnahme vieler Bürgerinnen und Bürger beispielsweise an dem Projekt „Unsterbliches Regiment“ (Bezsmertnyj polk) zeugt davon, dass es durchaus auf Resonanz trifft. Das liegt daran, dass die Kriegsgeschichte eine geteilte ist, denn in fast jeder Familie gibt es in der Großelterngeneration Opfer zu beklagen.
Die Stimmen derjenigen, die sich dem Chor nicht anschließen möchten und im Siegespomp den Missbrauch individueller Trauer und familiärer Traumata sehen, lassen sich heute angesichts des Verbots kritischer zivilgesellschaftlicher Organisationen und Medien kaum noch vernehmen. Da andere positive Zukunftsentwürfe fehlen, wird der permanente Kampf gegen den Faschismus (was immer er genau sein mag) zur zentralen Säule der Herrschaftslegitimierung.
Der Faschismusvorwurf in der Kriegsrhetorik
In anderen ehemaligen sowjetischen Republiken, insbesondere den baltischen Staaten und der Ukraine, dominiert seit der staatlichen Unabhängigkeit eine sehr kritische Sicht auf die sowjetische Geschichte. Die Verbrechen des Stalinismus werden angeprangert, die Rote Armee als Okkupations- und nicht als Befreiungsarmee betrachtet. Zusätzlich existiert die Auffassung, der sowjetische Staat sei vom russischen Imperialismus geprägt worden.
Aus den unterschiedlichen Bewertungen der sowjetischen Geschichte resultierten in den vergangenen zwei Jahrzehnten Erinnerungskriege mit Russland, die an Heftigkeit zunahmen, je mehr andere sicherheitspolitische oder wirtschaftliche Interessenkonflikte an Bedeutung gewannen. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen mit den Nachbarn erweiterte sich der Topos vom heiligen Kampf gegen den Faschismus zu einem propagandistischen Argument aggressiver, expansiver russischer Außenpolitik.
Im Falle der Ukraine zeigte sich das bereits 2004, als dort die „Orangene Revolution“ stattfand, besonders aber einige Jahre später, als es um die Frage des Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU ging. Es ließ sich beobachten, wie seitdem der Faschismusvorwurf gegenüber der Ukraine in den russischen Medien allgegenwärtig wurde. Seit den Ereignissen auf dem Maidan fielen ständig die Begriffe „Faschisten“, „Nazisten“ und „Banderovcy“ (in Anlehnung an den Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten, Stepan Bandera). Die Aktivierung von Geschichtsbildern aus dem Zweiten Weltkrieg diente dazu, den politischen Konflikt aufzuladen.
Der Mythos von der „Denazifizierung”
Beispielsweise verkündete Wladimir Solowjow, mit seinen Talkshows einer der populärsten Aufpeitscher im russischen staatlichen Fernsehen, dass ihn die gepanzerten Wagen der Europäischen Kommission vor ihrem Hauptquartier im Zentrum Kyjiws an die faschistischen Panzer an demselben Ort im Jahr 1941 erinnerten. Damit suggerierte er, dass man sich erneut gegen Expansionsgelüste aus dem Westen rüsten müsse und spielte auf eine ukrainische Bereitschaft zur Kollaboration an. Dies stieß auf Resonanz, weil die OUN zeitwillig mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet hatte und neue rechtsextreme Kräfte der Ukraine sich auf Bandera bezogen.
Die Bedeutung der nationalistischen Kreise, die sich in der Partei „Swoboda” oder im „Rechten Sektor“ zusammenfanden, wurde von der russischen Propaganda jedoch maßlos übertrieben. Im politischen Leben des Landes spielten rechtsextreme Parteien zunehmend eine untergeordnete Rolle und bekamen nach 2014 nur wenige Sitze im Parlament. Der russischen Regierung diente aber der Kampf gegen vermeintliche Nationalisten und Faschisten, die angeblich russischsprachige Bürgerinnen und Bürger diskriminierten, drangsalierten, gar massakrierten, als wesentliches Argument für die Verletzungen des Völkerrechts, welche die russische Annexion der Krim und der Besetzung der Ostukraine bedeuteten.
Vor diesem Hintergrund überrascht in keiner Weise, dass auch der seit Februar 2022 geführte Angriffskrieg in der Ukraine mit dem für Russland und den Frieden in Europa angeblich lebensnotwendigen Kampf gegen den Faschismus begründet wird. Zunächst bezog sich der Vorwurf des Faschismus nur auf einige „Elemente“, von denen die Ukraine durch „Denazifizierung“ gesäubert werden sollte. Als sich diese Argumentation wegen des starken Widerstands der ukrainischen Armee und der Bevölkerung nicht aufrechterhalten ließ, wurde sie erweitert.
Schon ging es um die „Entukrainisierung“, ein Begriff der Vernichtungsfantasien nicht mehr verschleiert, sondern zu Gewaltexzessen geradezu auffordert und Erinnerungen an dunkelste Zeiten des stalinistischen Terrors weckt. Russlands Kampf gegen den Faschismus ist rhetorisch mittlerweile ein totaler geworden. Er richtet sich gegen alle, die sich der angestrebten Unterwerfung der Ukraine in den Weg stellen. Sie alle sind dieser Logik nach zufolge dem Wesen nach Faschisten und müssen vernichtet werden. Der Begriff des Faschismus ist auch in diesem Fall losgelöst von seiner ursprünglichen Bedeutung, sodass selbst der ukrainische Präsident mit jüdischer Herkunft als Nazi beschimpft werden kann.
Kampfbegriff „Faschist“
Wenngleich „Faschist“ in der russischen Propaganda als allgemeinen Kampfbegriff benutzt wird, so hat er doch einen spezifischen Bedeutungsgehalt, den Menschen in der Ukraine und Russland aufgrund der geteilten sowjetischen Geschichte auf die gleiche Weise verstehen. Die deutschen Feinde wurden im Zweiten Weltkrieg als „deutsch-faschistische Eroberer und ihre Komplizen“ bezeichnet. Schon im Jahr 1942 wurde die Gründung der „Staatlichen Außerordentlichen Kommission“ angeordnet, deren Aufgabe es war, eine vollständige Aufstellung aller Untaten der „Okkupanten“ zu verzeichnen. Die auf dieser Grundlage zusammengestellten Daten stellen einen ganzen Katalog denkbarer Kriegsverbrechen, Gewalt- und Zerstörungsakte dar.
Im sowjetischen Kontext erhielt der „Faschist“ erst dadurch seine Konturen als Typ. Ihn charakterisieren bestimmte Handlungen und nicht – wie in einer theoretischen Begriffsfassung – die Zugehörigkeit zu einer faschistischen Organisation, die sich durch bestimmte Merkmale auszeichnet. Sprich: wer handelt wie ein Faschist, ist auch einer.
Im Ukrainekrieg verstehen beide Kriegsparteien aufgrund der gemeinsamen Geschichte die Bedeutung des Wortes „Faschist“ in diesem Sinne. Wenn deshalb in der ukrainischen Kriegsberichterstattung von den verübten Gräueltaten der russischen „Okkupanten“ oder „Eroberer“ die Rede ist und die Kriegsverbrechen wie im Zweiten Weltkrieg systematisch dokumentiert werden, dann impliziert das immer den Vergleich mit den Verbrechen der Nationalsozialisten. Der Vorwurf lässt sich noch erweitern – wie Zelenskyj es in seiner Rede am 9. Mai 2022 tat: „Ob die Horde oder der Nationalsozialismus, oder eine Mischung von beidem, was unser gegenwärtiger Feind darstellt – wir werden siegen.“
Die russische Regierung weiß, dass der Faschismusvorwurf leicht zurückgespielt werden kann. Nicht zufällig dementiert sie alle bisher verübten Verbrechen vehement und kündigte in manchen Fällen schon die bevorstehende Aufdeckung solcher als „fake-news“ an. Dabei geht es vor allem darum, die eigene Bevölkerung bei der Stange zu halten. Sie könnte der Regierung die Unterstützung in diesem Angriffskrieg entziehen, wenn sie mehrheitlich zur Einsicht käme, dass die eigentlichen Faschisten nicht – wie von russischer Seite behauptet – in Kyjiw auf dem Maidan, sondern im Kreml in Moskau sitzen.
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