9. Mai: Überall Faschisten?

Foto: Alexey Filip­pov /​ Imago Images

Am 9. Mai feiert Russ­land den Sieg über Nazi-Deutsch­land. Inzwi­schen ist der Kampf gegen den Faschis­mus zur all­ge­gen­wär­ti­gen Legi­ti­ma­ti­ons­for­mel von Putins Regime gewor­den – das zeigt sich auch in der Kriegs­rhe­to­rik gegen die Ukraine. Von Dr. Corinna Kuhr-Korolev

Wenn Argu­mente aus­ge­hen, der poli­ti­sche Gegner aber grund­le­gend dif­fa­miert und beschimpft werden soll, dann fällt der Aus­spruch „Du Faschist!“ oder „Du Nazi!“. Die Schmä­hung ist zunächst all­ge­mein und bezeich­net das Böse schlecht­hin. In der der­zei­ti­gen Kriegs­pro­pa­ganda und Kriegs­be­richt­erstat­tung hat der Faschis­mus­vor­wurf Kon­junk­tur. Alle Seiten stellen Ver­glei­che an. Es ent­steht der Ein­druck, es wim­melte überall von Faschis­ten, aber zu fassen bekommt man sie merk­wür­di­ger­weise nicht. Die All­ge­gen­wär­tig­keit des Begriffs hat damit zu tun, dass er mit unter­schied­li­chen Zielen und auf meh­re­ren Ebenen ver­wen­det wird. Im Fol­gen­den werden zwei Kon­texte näher beleuchtet.

Der Kampf gegen den Faschis­mus als Legi­ti­ma­ti­ons­res­source der rus­si­schen Innenpolitik

Seit der zweiten Amts­zeit Wla­di­mir Putins hat der „Tag des Sieges“ am 9. Mai eine immer größere sym­bo­li­sche Bedeu­tung bekom­men, die Fei­er­lich­kei­ten haben von Jahr zu Jahr an Prunk und Pathos gewon­nen. Dies steht in engem Zusam­men­hang mit der Geschichts­po­li­tik der rus­si­schen Regie­rung. Nachdem in den Regie­rungs­jah­ren Gor­bat­schows und Jelzins äußerst kri­tisch die soge­nann­ten „Weißen Flecken“ der sowje­ti­schen Geschichte und ins­be­son­dere die Ver­bre­chen des Sta­li­nis­mus auf­ge­ar­bei­tet wurden, gewann unter Putin eine heroi­sie­rende, patrio­ti­sche Geschichts­be­trach­tung die Oberhand.

Der Sieg im Großen Vater­län­di­schen Krieg, der zugleich als Befrei­ung Europas vom Faschis­mus gefei­ert wird, bietet dafür den zen­tra­len Bezugs­punkt. Begriff­lich wird dabei keine Unter­schei­dung zwi­schen Faschis­mus, Natio­nal­so­zia­lis­mus oder auch Hit­le­ris­mus vor­ge­nom­men. Die „Fahne des Sieges“, so drückte es Putins Pres­se­spre­cher Peskow im Vorfeld der Fei­er­lich­kei­ten zum 77. Jah­res­tag 2022 aus, stelle für viele Gene­ra­tio­nen auf dem Gebiet der ehe­ma­li­gen Sowjet­union ein Hei­lig­tum dar und trage somit sakrale Bedeu­tung. Immer wieder wird betont, dass es eine heilige Pflicht sei, den Groß­vä­tern für ihre hel­den­haf­ten Taten zu danken (in der popu­lä­ren Form bei­spiels­weise als Auf­kle­ber auf Autos: Spasibo dedu za pebedu! Danke Opa für den Sieg!).

Hüter des Heiligtums

Durch den eigenen Kampf gegen erneut erstar­ken­den Faschis­mus habe man sich dessen würdig zu erwei­sen. Indem die Regie­rung das his­to­ri­sche Gesche­hen sakra­li­siert und sich zum Hüter des Hei­lig­tums erklärt, ernennt sie sich zum Vor­kämp­fer der gerech­ten Sache und ent­zieht sich zugleich jeg­li­cher Kritik. Auch die Umstände, unter denen der Sieg errun­gen wurde, dürfen nicht mehr hin­ter­fragt werden. Davon zeugt ein Gesetz, das die Gleich­set­zung von Natio­nal­so­zia­lis­mus und Sta­li­nis­mus ver­bie­tet und unter Strafe stellt.

Die Ver­ein­nah­mung des Sieges gegen den Faschis­mus als Legi­ti­ma­ti­ons­mit­tel für das Regime ist das eine. Zugleich bietet die Heroi­sie­rung der Kriegs­ge­schichte ein Inte­gra­ti­ons­an­ge­bot an die Bevöl­ke­rung. Die Teil­nahme vieler Bür­ge­rin­nen und Bürger bei­spiels­weise an dem Projekt „Unsterb­li­ches Regi­ment“ (Bezsmert­nyj polk) zeugt davon, dass es durch­aus auf Reso­nanz trifft. Das liegt daran, dass die Kriegs­ge­schichte eine geteilte ist, denn in fast jeder Familie gibt es in der Groß­el­tern­ge­nera­tion Opfer zu beklagen.

Die Stimmen der­je­ni­gen, die sich dem Chor nicht anschlie­ßen möchten und im Sie­ges­pomp den Miss­brauch indi­vi­du­el­ler Trauer und fami­liä­rer Trau­mata sehen, lassen sich heute ange­sichts des Verbots kri­ti­scher zivil­ge­sell­schaft­li­cher Orga­ni­sa­tio­nen und Medien kaum noch ver­neh­men. Da andere posi­tive Zukunfts­ent­würfe fehlen, wird der per­ma­nente Kampf gegen den Faschis­mus (was immer er genau sein mag) zur zen­tra­len Säule der Herrschaftslegitimierung.

Der Faschis­mus­vor­wurf in der Kriegsrhetorik

In anderen ehe­ma­li­gen sowje­ti­schen Repu­bli­ken, ins­be­son­dere den bal­ti­schen Staaten und der Ukraine, domi­niert seit der staat­li­chen Unab­hän­gig­keit eine sehr kri­ti­sche Sicht auf die sowje­ti­sche Geschichte. Die Ver­bre­chen des Sta­li­nis­mus werden ange­pran­gert, die Rote Armee als Okku­pa­ti­ons- und nicht als Befrei­ungs­ar­mee betrach­tet. Zusätz­lich exis­tiert die Auf­fas­sung, der sowje­ti­sche Staat sei vom rus­si­schen Impe­ria­lis­mus geprägt worden.

Aus den unter­schied­li­chen Bewer­tun­gen der sowje­ti­schen Geschichte resul­tier­ten in den ver­gan­ge­nen zwei Jahr­zehn­ten Erin­ne­rungs­kriege mit Russ­land, die an Hef­tig­keit zunah­men, je mehr andere sicher­heits­po­li­ti­sche oder wirt­schaft­li­che Inter­es­sen­kon­flikte an Bedeu­tung gewan­nen. Im Zuge dieser Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit den Nach­barn erwei­terte sich der Topos vom hei­li­gen Kampf gegen den Faschis­mus zu einem pro­pa­gan­dis­ti­schen Argu­ment aggres­si­ver, expan­si­ver rus­si­scher Außenpolitik.

Im Falle der Ukraine zeigte sich das bereits 2004, als dort die „Oran­gene Revo­lu­tion“ statt­fand, beson­ders aber einige Jahre später, als es um die Frage des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens der Ukraine mit der EU ging. Es ließ sich beob­ach­ten, wie seitdem der Faschis­mus­vor­wurf gegen­über der Ukraine in den rus­si­schen Medien all­ge­gen­wär­tig wurde. Seit den Ereig­nis­sen auf dem Maidan fielen ständig die Begriffe „Faschis­ten“, „Nazis­ten“ und „Ban­derovcy“ (in Anleh­nung an den Führer der Orga­ni­sa­tion Ukrai­ni­scher Natio­na­lis­ten, Stepan Bandera). Die Akti­vie­rung von Geschichts­bil­dern aus dem Zweiten Welt­krieg diente dazu, den poli­ti­schen Kon­flikt aufzuladen.

Der Mythos von der „Den­a­zi­fi­zie­rung”

Bei­spiels­weise ver­kün­dete Wla­di­mir Solo­wjow, mit seinen Talk­shows einer der popu­lärs­ten Auf­peit­scher im rus­si­schen staat­li­chen Fern­se­hen, dass ihn die gepan­zer­ten Wagen der Euro­päi­schen Kom­mis­sion vor ihrem Haupt­quar­tier im Zentrum Kyjiws an die faschis­ti­schen Panzer an dem­sel­ben Ort im Jahr 1941 erin­ner­ten. Damit sug­ge­rierte er, dass man sich erneut gegen Expan­si­ons­ge­lüste aus dem Westen rüsten müsse und spielte auf eine ukrai­ni­sche Bereit­schaft zur Kol­la­bo­ra­tion an. Dies stieß auf Reso­nanz, weil die OUN zeit­wil­lig mit den Natio­nal­so­zia­lis­ten zusam­men­ge­ar­bei­tet hatte und neue rechts­extreme Kräfte der Ukraine sich auf Bandera bezogen.

Die Bedeu­tung der natio­na­lis­ti­schen Kreise, die sich in der Partei „Swoboda” oder im „Rechten Sektor“ zusam­men­fan­den, wurde von der rus­si­schen Pro­pa­ganda jedoch maßlos über­trie­ben. Im poli­ti­schen Leben des Landes spiel­ten rechts­extreme Par­teien zuneh­mend eine unter­ge­ord­nete Rolle und bekamen nach 2014 nur wenige Sitze im Par­la­ment. Der rus­si­schen Regie­rung diente aber der Kampf gegen ver­meint­li­che Natio­na­lis­ten und Faschis­ten, die angeb­lich rus­sisch­spra­chige Bür­ge­rin­nen und Bürger dis­kri­mi­nier­ten, drang­sa­lier­ten, gar mas­sa­krier­ten, als wesent­li­ches Argu­ment für die Ver­let­zun­gen des Völ­ker­rechts, welche die rus­si­sche Anne­xion der Krim und der Beset­zung der Ost­ukraine bedeuteten.

Vor diesem Hin­ter­grund über­rascht in keiner Weise, dass auch der seit Februar 2022 geführte Angriffs­krieg in der Ukraine mit dem für Russ­land und den Frieden in Europa angeb­lich lebens­not­wen­di­gen Kampf gegen den Faschis­mus begrün­det wird. Zunächst bezog sich der Vorwurf des Faschis­mus nur auf einige „Ele­mente“, von denen die Ukraine durch „Den­a­zi­fi­zie­rung“ gesäu­bert werden sollte. Als sich diese Argu­men­ta­tion wegen des starken Wider­stands der ukrai­ni­schen Armee und der Bevöl­ke­rung nicht auf­recht­erhal­ten ließ, wurde sie erweitert.

Schon ging es um die „Entukrai­ni­sie­rung“, ein Begriff der Ver­nich­tungs­fan­ta­sien nicht mehr ver­schlei­ert, sondern zu Gewalt­ex­zes­sen gera­dezu auf­for­dert und Erin­ne­run­gen an dun­kelste Zeiten des sta­li­nis­ti­schen Terrors weckt. Russ­lands Kampf gegen den Faschis­mus ist rhe­to­risch mitt­ler­weile ein totaler gewor­den. Er richtet sich gegen alle, die sich der ange­streb­ten Unter­wer­fung der Ukraine in den Weg stellen. Sie alle sind dieser Logik nach zufolge dem Wesen nach Faschis­ten und müssen ver­nich­tet werden. Der Begriff des Faschis­mus ist auch in diesem Fall los­ge­löst von seiner ursprüng­li­chen Bedeu­tung, sodass selbst der ukrai­ni­sche Prä­si­dent mit jüdi­scher Her­kunft als Nazi beschimpft werden kann.

Kampf­be­griff „Faschist“

Wenn­gleich „Faschist“ in der rus­si­schen Pro­pa­ganda als all­ge­mei­nen Kampf­be­griff benutzt wird, so hat er doch einen spe­zi­fi­schen Bedeu­tungs­ge­halt, den Men­schen in der Ukraine und Russ­land auf­grund der geteil­ten sowje­ti­schen Geschichte auf die gleiche Weise ver­ste­hen. Die deut­schen Feinde wurden im Zweiten Welt­krieg als „deutsch-faschis­ti­sche Erobe­rer und ihre Kom­pli­zen“ bezeich­net. Schon im Jahr 1942 wurde die Grün­dung der „Staat­li­chen Außer­or­dent­li­chen Kom­mis­sion“ ange­ord­net, deren Aufgabe es war, eine voll­stän­dige Auf­stel­lung aller Untaten der „Okku­pan­ten“ zu ver­zeich­nen. Die auf dieser Grund­lage zusam­men­ge­stell­ten Daten stellen einen ganzen Katalog denk­ba­rer Kriegs­ver­bre­chen, Gewalt- und Zer­stö­rungs­akte dar.

Im sowje­ti­schen Kontext erhielt der „Faschist“ erst dadurch seine Kon­tu­ren als Typ. Ihn cha­rak­te­ri­sie­ren bestimmte Hand­lun­gen und nicht – wie in einer theo­re­ti­schen Begriffs­fas­sung – die Zuge­hö­rig­keit zu einer faschis­ti­schen Orga­ni­sa­tion, die sich durch bestimmte Merk­male aus­zeich­net. Sprich: wer handelt wie ein Faschist, ist auch einer.

Im Ukrai­ne­krieg ver­ste­hen beide Kriegs­par­teien auf­grund der gemein­sa­men Geschichte die Bedeu­tung des Wortes „Faschist“ in diesem Sinne. Wenn deshalb in der ukrai­ni­schen Kriegs­be­richt­erstat­tung von den ver­üb­ten Gräu­el­ta­ten der rus­si­schen „Okku­pan­ten“ oder „Erobe­rer“ die Rede ist und die Kriegs­ver­bre­chen wie im Zweiten Welt­krieg sys­te­ma­tisch doku­men­tiert werden, dann impli­ziert das immer den Ver­gleich mit den Ver­bre­chen der Natio­nal­so­zia­lis­ten. Der Vorwurf lässt sich noch erwei­tern – wie Zel­en­skyj es in seiner Rede am 9. Mai 2022 tat: „Ob die Horde oder der Natio­nal­so­zia­lis­mus, oder eine Mischung von beidem, was unser gegen­wär­ti­ger Feind dar­stellt – wir werden siegen.“

Die rus­si­sche Regie­rung weiß, dass der Faschis­mus­vor­wurf leicht zurück­ge­spielt werden kann. Nicht zufäl­lig demen­tiert sie alle bisher ver­üb­ten Ver­bre­chen vehe­ment und kün­digte in manchen Fällen schon die bevor­ste­hende Auf­de­ckung solcher als „fake-news“ an. Dabei geht es vor allem darum, die eigene Bevöl­ke­rung bei der Stange zu halten. Sie könnte der Regie­rung die Unter­stüt­zung in diesem Angriffs­krieg ent­zie­hen, wenn sie mehr­heit­lich zur Ein­sicht käme, dass die eigent­li­chen Faschis­ten nicht – wie von rus­si­scher Seite behaup­tet – in Kyjiw auf dem Maidan, sondern im Kreml in Moskau sitzen.

Textende

Portrait Kuhr-Korolev

Corinna Kuhr-Korolev ist His­to­ri­ke­rin und Wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin am ZZF Potsdam. 

 

 

 

 

 

 

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