Radio­ak­tive Strah­lung kennt keine Grenzen

Foto: Dmytro Smo­ly­enko /​ Imago Images

Die Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Olek­san­dra Keudel warnt vor den euro­päi­schen und glo­ba­len Folgen im Falle von rus­si­schen Angrif­fen auf ukrai­ni­sche Kernkraftwerke.

Seit neun schreck­li­chen Tagen leistet die Ukraine Wider­stand gegen den zyni­schen, bar­ba­ri­schen Angriff Russ­lands. Die Welt hat mit noch nie dage­we­se­nen Sank­tio­nen reagiert. Doch die Welt stellt sich taub gegen­über dem Appell der Ukraine, ihren Luft­raum vor feind­li­chen Flug­zeu­gen und ihren Bomben zu schützen.

Die Euro­päer haben Angst vor Putins nuklea­rer Drohung. Diese Angst macht sie blind, denn Russ­land kal­ku­liert die Beschä­di­gung der 15 ukrai­ni­schen Atom­re­ak­to­ren ein. Doch wir haben aus der Tra­gö­die von Tscher­no­byl gelernt, dass radio­ak­tive Strah­lung keine Grenzen kennt. Im Gegen­teil, diese würde sich im Falle einer Explo­sion schnell über ganz Europa aus­brei­ten. Genau das Risiko dürfte Putin bei der Planung der Inva­sion mit in Betracht gezogen haben. Putins Krieg in der Ukraine ist also ein Krieg gegen Europa und die ganze Welt.

Die ukrai­ni­schen Behör­den haben wie­der­holt vor der Gefahr gewarnt, die von rus­si­schen Angrif­fen auf Kern­kraft­werke ausgeht. Jetzt haben rus­si­sche Truppen die Kon­trolle über das Atom­kraft­werk (AKW) Sapo­rischschja über­nom­men, nachdem sie es die ganze Nacht lang beschos­sen hatten, was zu einem Brand in unmit­tel­ba­rer Nähe der Reak­to­ren führte. Am Morgen gab es Berichte über eine Explo­sion. Da Russ­land dieses AKW kon­trol­liert und seinen Vor­marsch durch die Ukraine fort­setzt, ist die nukleare Sicher­heit Europas wei­ter­hin bedroht.

Gründe für die Gefähr­dung der nuklea­ren Sicherheit

Die Ver­hin­de­rung von Kata­stro­phen steht auf Putins Liste nicht ganz oben. Die euro­päi­schen Staats- und Regie­rungs­chefs und Exper­ten schei­nen zu glauben, dass Putin die Elek­tri­zi­tät der Ukraine braucht und deshalb die Sicher­heit der Kern­kraft­werke im Auge behält. Laut Ed Lyman, lei­ten­der Wis­sen­schaft­ler für globale Sicher­heit bei der Union of Con­cer­ned Sci­en­tists, wird Russ­land es ver­mei­den, AKWs anzu­grei­fen, „weil sie [Russ­land] das Land, das sie zu beset­zen ver­su­chen, nicht ver­seu­chen wollen – aber auch, weil die Ukraine Strom aus diesen Anlagen braucht.“ Ange­sichts der Tat­sa­che, dass Russ­land seit einer Woche ukrai­ni­sche Städte aus­ra­diert, halte ich dies für eine falsche Annahme.

Putin will die Ukraine nicht beset­zen; er will die Ukraine als moder­nes und demo­kra­ti­sches Land zer­stö­ren und das frühere sowje­ti­sche „Impe­rium“ wie­der­her­stel­len (Fiona Hill, Foreign Policy Program Senior Fellow bei Broo­kings). Über­le­gun­gen zur nuklea­ren Sicher­heit sind für ihn zweit­ran­gig. Im von Russ­land besetz­ten Kern­kraft­werk Tscher­no­byl, wo radio­ak­ti­ver Abfall gela­gert wird, zeigen erhöhte Strah­lungs­werte, dass der Aggres­sor die Sicher­heits­vor­keh­run­gen ver­nach­läs­sigt. Russ­land hält die Mit­ar­bei­ter des AKW Tscher­no­byl als Geiseln fest, ohne zu beden­ken, dass der Betrieb eines Kern­kraft­werks unter solchen Bedin­gun­gen dessen Sicher­heit gefähr­den kann. Die rück­sichts­lose Beschie­ßung von Wohn­ge­bie­ten, Che­mie­an­la­gen und Atom­müll­la­gern sind nur einige weitere Bei­spiele dafür, dass Putin nicht die Absicht hat, vor­sich­tig zu sein. Dass rus­si­sche Truppen in der Nacht zum 4. März das AKW Sapo­rischschja mit schwe­rer Artil­le­rie beschos­sen, unter­streicht einmal mehr, wie wenig Putin sich um die nukleare Sicher­heit schert.

Eine nukleare Kata­stro­phe kann durch viele Ereig­nisse aus­ge­löst werden – nicht nur durch einen direk­ten Rake­ten­an­griff auf einen Reaktor. Tat­säch­lich wurden die sowje­ti­schen bezie­hungs­weise ukrai­ni­schen AKWs mit Blick auf dieses Risiko gebaut. Dennoch gibt es viele Dinge, die in einem Kern­kraft­werk in Kriegs­zei­ten schief­ge­hen können, wie Mariana Bud­jeryn, wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin eines Pro­jekts der Harvard-Uni­ver­si­tät zum Umgang mit Atom­strom mit ukrai­ni­schen Wurzeln, gegen­über der eng­li­schen Zeitung „The Guar­dian“ erklärt: Die größte Gefahr sei eine Fehl­funk­tion des Kühl­sys­tems. Dies könne zu einer Kern­schmelze und damit zur Frei­set­zung von Radio­ak­ti­vi­tät und zu Explo­sio­nen führen. Zu einer Fehl­funk­tion könne es kommen, wenn zum Bei­spiel eine Rake­ten­ex­plo­sion in der Nähe einen Strom­aus­fall ver­ur­sacht, während ein gleich­zei­tig auf­tre­ten­des Feuer die Kraft­stoff­re­ser­ven für die Not­strom­ge­ne­ra­to­ren zerstört.

Dieses Sze­na­rio eines gleich­zei­ti­gen Aus­falls des Primär- und des Sekun­där­sys­tems scheint in fried­li­chen Zeiten „unvor­stell­bar“ und wird in Kriegs­zei­ten „durch­aus denkbar“, merkt James Acton, Co-Direk­tor des Atom­po­li­tik­pro­gramms der Car­ne­gie Endow­ment for Inter­na­tio­nal Peace, an.

Rus­si­sche Kolon­nen in der Nähe von AKWs

Pedro Kotin, Leiter von Energ­oatom, der ukrai­ni­schen Agentur für die Ver­wal­tung von Nukle­ar­an­la­gen, hat fest­ge­stellt, dass „rus­si­sche Kolon­nen mit mili­tä­ri­schem Gerät, Artil­le­rie und leis­tungs­starke Rake­ten­ab­schuss-Anlagen sich regel­mä­ßig in unmit­tel­ba­rer Nähe der Nukle­ar­an­la­gen von Energ­oatom bewegen und Raketen in der Nähe der Kern­kraft­werke explo­die­ren“. Dies könne schwer­wie­gende globale Folgen haben. In der Ukraine gibt es drei weitere Kern­kraft­werke, die eben­falls in Gefahr sind, sollte Putin weiter nach Westen vordringen.

Das AKW Sapo­rischschja nicht nur durch direk­ten Beschuss gefähr­det: Bei anhal­ten­den Kämpfen um die Stadt Sapo­rischschja droht die Zer­stö­rung des höchst­ge­le­ge­nen Dammes des Was­ser­kraft­werks Dnipro (Dni­pro­HES). „Das AKW Sapo­rischschja (sechs Kern­re­ak­to­ren) befin­det sich strom­ab­wärts von Dni­pro­HES am Ufer des Kahow­ske-Stau­sees. Eine mög­li­che Folge der Beschä­di­gung des Dni­pro­HES und in der Folge des Sapo­rischschja-Kern­kraft­werks ist die Aus­brei­tung der radio­ak­ti­ven Strah­lung zumin­dest in ganz Europa“, sagt Pro­fes­sor Mark Zhe­lez­nyak vom Insti­tut für Umwelt­ra­dio­ak­ti­vi­tät der Uni­ver­si­tät Fuku­shima. Auf­grund des Vor­rü­ckens rus­si­scher Truppen mussten die ört­li­chen Behör­den in Erwar­tung eines Angriffs am 3. März den gesam­ten Verkehr über den Damm ein­stel­len.

In Anbe­tracht des wahl­lo­sen Beschus­ses der Ukraine mit Kurz- und Mit­tel­stre­cken­ar­til­le­rie wie der Grad-Rake­ten­sys­teme mit einer Reich­weite von 400 bis 500 Kilo­me­tern und Luft­an­grif­fen liegen diese Risiken auf der Hand. Es gibt auch Anzei­chen dafür, dass die Luft­an­griffe noch chao­ti­scher werden könnten, wenn Russ­land die Lenk­bom­ben aus­ge­hen, von denen es viel­leicht gar nicht so viele hat.

Nah ran an der nuklea­ren Katastrophe

Die nukleare Kata­stro­phe ist näher an Europa, als es vielen erschei­nen mag. Wie die Nukle­ar­ka­ta­stro­phe von Tscher­no­byl 1986 gezeigt hat, kann man sich nir­gendwo ver­ste­cken. Damals ver­brei­tete sich die Strah­lung als Wolke weit über die Ukraine hinaus bis nach Groß­bri­tan­nien und Skandinavien.

Europa und die Welt müssen handeln, um eine Wie­der­ho­lung der Geschichte zu ver­hin­dern, indem sie sich der rus­si­schen Aggres­sion ent­schie­den ent­ge­gen­stel­len. Dies ist auch eine euro­päi­sche Ver­tei­di­gung gegen nukleare und Umwelt­ka­ta­stro­phen. Der Ener­gie­mi­nis­ter, die staat­li­che Atom­auf­sichts­be­hörde der Ukraine und Energ­oatom haben am 3. März in ihrem Appell an die IAEO bekräf­tigt, die Sicher­heit der Atom­an­la­gen zu gewähr­leis­ten und den „rus­si­schen Atom­ter­ro­ris­mus“ zu stoppen. Gemein­sam mit ukrai­ni­schen Umwelt­or­ga­ni­sa­tio­nen fordern sie die NATO-Länder auf, den Himmel über der Ukraine für rus­si­sche Flug­zeuge und Marsch­flug­kör­per zu sperren, um weitere Gräu­el­ta­ten an der Zivil­be­völ­ke­rung zu ver­hin­dern und die Atom­kraft­werke vor Schäden zu schützen.

Weitere Infor­ma­tio­nen über Aktio­nen gegen den rus­si­schen Krieg finden Sie hier, ebenso wie Kund­ge­bun­gen in Ihrer Nähe. Ich danke Olena Krav­chenko, Sofiya Shutiak und Mark Zhe­lez­nyak für ihre Mit­ar­beit. Dieser Text gibt meine Meinung wieder.

Textende

Portrait von Oleksandra Keudel

Olek­san­dra Keudel ist Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin und Bera­te­rin für inter­na­tio­nale Orga­ni­sa­tio­nen für gute Regierungsführung.

 

 

 

 

 

 

 

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