Die ukrai­ni­sche Kohle- und Gas­ver­sor­gung im Winter 2021/​2022. Die aktu­elle Situa­tion und ihre Ursachen

Foto: yevgeniy11 /​ Shut­ter­stock

Die Kohle- und Gas­vor­räte der Ukraine sind Ende 2021 viel gerin­ger als in den ver­gan­ge­nen Jahren. Dies hat Sorgen hin­sicht­lich der Ver­sor­gungs­si­cher­heit in diesem Winter und der poli­tisch sen­si­blen Abhän­gig­keit von rus­si­schen Ener­gie­lie­fe­run­gen auf­kom­men lassen. Unsere Autoren Alex Mykhai­lenko und Georg Zach­mann beschrei­ben die Situa­tion und ihre Haupt­ur­sa­chen, um eine sach­li­che Dis­kus­sion zu ermöglichen.

Die Koh­le­vor­räte in ukrai­ni­schen Kraft­wer­ken sind auf ihrem his­to­ri­schen Minimum 

Dem raschen Ver­brauch von Kohle im Winter 2020–2021 folgte keine aktive Beschaffung.

  • Der Koh­le­vor­rat im Jahr 2021 liegt 54% unter dem Durch­schnitt der Jahre 2015 bis 2019 und 68% unter dem von 2020.
  • Der der­zei­tige Koh­le­vor­rat reicht nur für 10 Tage Ener­gie­er­zeu­gung, ist aber nicht gleich­mä­ßig auf die Kraft­werke verteilt.
  • Die Höhe der Koh­le­vor­räte steht nicht im Zusam­men­hang mit einer unge­wöhn­lich hohen Wär­me­er­zeu­gung oder hohem Ver­brauch (der Winter 2020–2021 war warm und der Ver­brauch pan­de­mie­be­dingt gering).
  • Der Anteil der Import­kohle liegt bei ca. 20%, wobei mehr 70% aus Russ­land stammen (u.a. aus DTEK-eigenen Minen). Kasach­stan lie­ferte 18% der Import­kohle im Jahr 2021.

Quelle: Minis­te­rium für Energie der Ukraine, Ukr­energo, eigene Berechnungen

  • Hei­mi­sche Kohle ver­sorgt nur lokale Kraft­werke und wird nicht exportiert.
  • Die Koh­le­för­de­rung ist schnel­ler zurück­ge­gan­gen als der Rück­gang der ther­mi­schen Stromerzeugung.
  • Die Kraft­werks­be­trei­ber sind gesetz­lich ver­pflich­tet, Koh­le­vor­räte für 10–20 Tage zu halten. Zum Jah­res­ende 2021 konnte dies von keinem Unter­neh­men ein­ge­hal­ten werden.

Quelle: Minis­te­rium für Energie der Ukraine, Ukr­energo, eigene Berechnungen

Die Strom­erzeu­ger haben im Jahr 2021 zu wenig Kohle beschafft

Dies ist sowohl auf inter­nes Miss­ma­nage­ment als auch auf markt­weite Pro­bleme zurückzuführen.

  • Das Ener­gie­mi­nis­te­rium hat unter der dama­li­gen Führung im ver­gan­ge­nen Winter die Min­dest­an­for­de­run­gen für Koh­le­vor­räte gesenkt, was zu deren raschen Rück­gang führte.
  • Die Koh­le­be­schaf­fung im Jahr 2021 reichte nicht aus, um ein siche­res Niveau zu errei­chen, nachdem der Koh­le­ver­brauch im ver­gan­ge­nen Winter gestie­gen war. Nach dem Rück­gang der Strom­preise ver­lang­samte sich die Auftragsvergabe.
  • Da die inlän­di­schen Koh­le­preise nicht an inter­na­tio­nale Markt­schwan­kun­gen gekop­pelt sind, hatten die Preis­än­de­run­gen keinen großen Ein­fluss auf die Beschaffung.

Quelle: Minis­te­rium für Energie der Ukraine, UA Market Ope­ra­tor, eigene Berechnungen

  • DTEK Energy kon­trol­liert 70% der ther­mi­schen Gene­ra­tion, 80% der inlän­di­schen Ener­gie­koh­le­för­de­rung und impor­tiert den größten Teil der Anthra­zit­kohle aus eigenen Minen in Russ­land. Die welt­wei­ten Preis­schwan­kun­gen haben sich kaum auf die inter­nen Kosten der geför­der­ten Kohle ausgewirkt.
  • Der ukrai­ni­sche Strom­markt unter­liegt regu­la­to­ri­schen Beschrän­kun­gen, die zu Cash­flow-Lücken bei den Strom­erzeu­gern geführt haben:
  • der Groß­han­dels­markt unter­liegt stren­gen Preis­ober­gren­zen, die im August 2021 erhöht wurden;
  • staat­li­che Koh­le­berg­werke und Was­ser­ver­sor­gungs­un­ter­neh­men haben zuneh­mende Zah­lungs­rück­stände gegen­über ihren Strom­ver­sor­gern – was bedeu­tet, dass die Kraft­werke kein Geld haben, um Kohle zu beschaffen.
  • Auf­ge­lau­fene Schul­den (100–150 Mio. € für Koh­le­kraft­wer­ken) und die zeit­li­che Ver­zö­ge­rung bei der Anhe­bung der Preis­ober­gren­zen könnten die Koh­le­be­schaf­fung ver­zö­gert haben, sind aber nicht die ent­schei­den­den Faktoren.

 


Quelle: Minis­te­rium für Energie der Ukraine, UA Market Ope­ra­tor, eigene Berechnungen

Die Strom­ver­sor­gungs­si­cher­heit für den Winter 2021–2022 ist gefährdet

Koh­le­man­gel kann sich auf den bereits ange­spann­ten Gas­sek­tor auswirken.

  • Die Rus­si­sche Föde­ra­tion hat den Eisen­bahn­tran­sit von kasa­chi­scher Kohle blo­ckiert. Sie kann auch Koh­le­trans­porte aus ihrem Hoheits­ge­biet und alle See­trans­porte über das Schwarze Meer blo­ckie­ren, ein­schließ­lich der Umlei­tung von Trans­por­ten aus Kasach­stan. Damit sind 75 % der derzeit ver­trag­lich ver­ein­bar­ten Koh­le­ein­fuh­ren gefährdet.
  • Die Ener­gie­ver­sor­gungs­un­ter­neh­men haben bereits damit begon­nen, ihre Koh­le­ver­sor­gung zu diver­si­fi­zie­ren, indem sie monat­lich bis zu 300 Tsd. Tonnen aus den USA, Kolum­bien und Polen sowie 100–110 Tsd. Tonnen Anthra­zit­kohle aus den DTEK-eigenen Berg­wer­ken in Russ­land beziehen.
  • Die Koh­le­vor­räte sind jedoch knapp bemes­sen, und andere Ereig­nisse können zu einer erhöh­ten Nach­frage beitragen:
  • nied­rige Was­ser­stände und bisher kein Schnee begren­zen die Strom­erzeu­gung aus Wasserkraft;
  • poten­zi­elle Blo­ckade der Strom­im­porte aus Belarus und Russland;
  • die Kern­kraft­werke sind jetzt am his­to­ri­schen Maximum in Betrieb (14 von 15 Blöcken, ins­ge­samt >12 GW). Der Ausfall eines Blocks (1 GW) oder eines großen Kraft­werks (6 GW) kann nur durch die hei­mi­sche Koh­le­ver­stro­mung ersetzt werden;
  • ein käl­te­rer Winter (2C in unserer Analyse) würde die Koh­le­nach­frage erhöhen.



Quelle: Minis­te­rium für Energie der Ukraine, UA Market Ope­ra­tor, eigene Berechnungen

  • Das Strom­sys­tem bleibt anfäl­lig für eine Reihe von Risiken, die zu einer erhöh­ten Belas­tung der Wär­me­kraft­werke und einer zusätz­li­chen Nach­frage nach Kohle führen würden, die nicht gedeckt werden kann.
  • Ukrai­ni­sche Kraft­werke können Erdgas anstelle von Kohle ver­bren­nen, was jedoch zu anderen Pro­ble­men führen würde:
  • die Preis­ober­gren­zen auf dem Strom­markt liegen unter den Grenz­kos­ten der Ver­bren­nung von Erdgas – ein zusätz­li­cher Finan­zie­rungs­me­cha­nis­mus müsste ein­ge­rich­tet werden (wird bereits geprüft);
  • die zusätz­li­che Nach­frage nach Erdgas könnte das fragile Gas­gleich­ge­wicht stören.



Quelle: Minis­te­rium für Energie der Ukraine, UA Market Ope­ra­tor, eigene Berechnungen

Die ukrai­ni­sche Erd­gas­pro­duk­tion und der Ver­brauch blieben stabil

Aber die Ukraine ist wei­ter­hin auf Importe angewiesen.

  • Die ukrai­ni­sche Gas­pro­duk­tion war bis Novem­ber um 2% nied­ri­ger als im Jahr 2020. Der Rück­gang ist darauf zurück­zu­füh­ren, dass die staat­li­che Naf­to­gaz-Tochter „Ukr­gas­för­de­rung“ weniger Gas för­derte. Dies führte dazu, dass dem Markt 0,4 Mil­li­ar­den Kubik­me­ter weniger zur Ver­fü­gung standen.

  • Während das kalte Wetter in der ersten Jah­res­hälfte 2021 zu einem höheren Gas­ver­brauch führte, wurde dies durch einen gerin­ge­ren Ver­brauch in der zweiten Hälfte aus­ge­gli­chen. Ins­ge­samt liegt der Gas­ver­brauch von Januar bis Novem­ber bei 1 % weniger als im Vorjahr.
  • Die inlän­di­sche Gas­bi­lanz im Januar – Novem­ber bleibt daher mit ‑6,2 Mrd. m³ gegen­über 2020 unverändert.

Auf einen umfang­rei­chen Spei­cher­auf­bau im Jahr 2020 folgte eine Rekord­ent­nahme im Jahr 2021.

Mas­si­ver Rück­gang der Netto-Importe lässt Spei­cher schnell leerlaufen

Im Zeit­raum Januar-Novem­ber waren die Netto-Gasim­porte (d.h. Zuflüsse minus Abflüsse) um 90% nied­ri­ger als im letzten Jahr – in der Summe ergibt sich ein Defizit von 15,5 Mrd m³.

  • Bis Oktober 2020 hat die Ukraine Gas akkumuliert.
  • Bis Mai 2021 gab es eine erheb­li­che Ver­rin­ge­rung des Saldos.
  • Bis Sep­tem­ber 2021 folgte eine beschei­dene Neuakkumulation.
  • In Oktober und Novem­ber 2021 gab es wieder eine Verringerung.

Spei­cher­ent­nah­men 2021 aus zwei Gründen: weniger Importe, mehr Exporte

In der Ukraine gela­ger­tes aus­län­di­sches Gas wurde in die EU zurück­ge­schickt, während die Ukraine auch weniger für den Winter ansammelte.

Anmer­kung: wir unter­su­chen nur die phy­si­schen Ströme, nicht die dahin­ter­ste­hen­den Handelsverträge.

  • Erheb­li­cher Rück­gang der Zuflüsse aus Russ­land, da der Transit umge­lei­tet und redu­ziert wurde.
  • Der Transit sank von mehr als 80 Mrd. m³ im Jahr 2019 auf ver­trag­lich ver­ein­barte 65 Mrd. m³ im Jahr 2020 und 40 Mrd. m³ im Jahr 2021. Die täg­li­chen Mengen belie­fen sich zeit­weise auf nur 80 Mio. m³/​Tag, während Gazprom für 110 Mio. m³/​Tag zahlen musste.
  • Dieser Mangel an Durch­lei­tungs­men­gen erschwerte die (vir­tu­el­len) Rück­flüsse aus der EU in die Ukraine erheblich.
  • Erheb­li­che Ver­rin­ge­rung der Zuflüsse aus dem Westen und zuneh­mende Abflüsse in den Westen, da die Händler die erheb­li­chen Gas­men­gen, die sie während der Phase nied­ri­ger euro­päi­scher Gas­preise im Jahr 2020 ange­sam­melt hatten, abbauten.

  • Im Novem­ber 2020 war mehr als ein Drittel des Gases in den ukrai­ni­schen Spei­chern „in aus­län­di­schem Besitz“.
  • Bis Ende 2021 sank das Volumen des in aus­län­di­schem Besitz befind­li­chen Gases in den ukrai­ni­schen Spei­chern von 10 Mrd. m³ auf 1 Mrd. m³.
  • Die Ukrai­ner (wahr­schein­lich Naf­to­gaz) konnten bis Ende Novem­ber 2021 15 Mrd. m3 speichern.

Pro­jek­tion: In den meisten Sze­na­rien dürfte genug Gas für diesen Winter vor­han­den sein.

Es wäre jedoch schwie­rig, genü­gend Gas für die nächste Saison zu akku­mu­lie­ren, wenn es wei­ter­hin Eng­pässe gibt.

  • Bei einem relativ kalten Winter (wie 2020/​2021) und gleich­blei­ben­der Pro­duk­tion könnten die Net­to­im­porte von den der­zei­ti­gen nied­ri­gen Werten auf null sinken, ohne die ukrai­ni­schen Spei­cher zu erschöpfen.
  • Nur wenn die Nach­frage 10 % höher ist als im letzten Winter (z. B. auf­grund von Pro­ble­men im Strom­sek­tor), könnten die Spei­cher nicht ausreichen.
  • Wenn im Strom­sek­tor Not­fälle ein­tre­ten, wird die zusätz­li­che Gas­nach­frage wahr­schein­lich die Spei­cher unter das zuläs­sige „Puffer“-Niveau sinken lassen.
  • Die wahre Test wird darin bestehen, die fast leeren ukrai­ni­schen Spei­cher nach dem Winter 2021/​2022 wieder auf­zu­fül­len, wenn Russ­land den Transit stoppt (da es über NS2 umlei­ten kann) und damit auch die Rück­flüsse aus dem Westen erheb­lich erschwert.
  • Eine weitere Her­aus­for­de­rung ist die Finanz­lage des Naf­to­gaz-Kon­zerns. Die Sub­ven­tio­nie­rung von pri­va­ten Ver­sor­gungs- und Fern­wär­me­un­ter­neh­men in Ver­bin­dung mit der hohen Steuer auf die Nutzung des Unter­grunds und dem derzeit hohen Gas­preis könnte die Auf­fül­lung der Gas­spei­cher beeinträchtigen.

Schluss­fol­ge­rung: Struk­tu­relle Maß­nah­men müssen für den nächs­ten Winter vor­be­rei­tet werden

Die EU und Deutsch­land sollten Rahmen unter­stüt­zen, um ukrai­ni­sche Markt­ak­teure zu befä­hi­gen und zu ermun­tern, zur Ver­sor­gungs­si­cher­heit beizutragen.

  • In diesem Winter kann alles gut gehen – aber es bleiben Risiken.
  • Das ukrai­ni­sche Ener­gie­sys­tem bewegt sich auf einem sehr schma­len Grat.
  • Kleine zufäl­lige oder erzwun­gene Pro­bleme könnten das System aus dem Gleich­ge­wicht bringen:
  • Es gibt keinen Puffer, um even­tu­elle Aus­fälle bei der nuklea­ren Erzeu­gung zu ersetzen;
  • Die geplante Abkopp­lung des Strom­sys­tems von Russ­land und Weiß­russ­land im Februar könnte das System sehr anfäl­lig machen;
  • Eine Blo­ckade der Koh­le­ein­fuh­ren über das Schwarze Meer hätte unver­hält­nis­mä­ßige Auswirkungen;
  • Offene Frage: Anfäl­lig­keit der Ein­fuh­ren von Ölprodukten.
  • Die der­zei­tige Krise ist zum Teil von der Ukraine selbst verschuldet.
  • Die Ukraine verfügt über genü­gend Spei­cher­platz und Erzeu­gungs­ka­pa­zi­tä­ten für einen siche­ren Win­ter­be­trieb, aber:
  • Gover­nance-Pro­bleme bei Naf­to­gaz und Ukr­energo unter­gra­ben den Zugang zu aus­län­di­schen Finanzmitteln;
  • Die Finanz­ar­chi­tek­tur des ukrai­ni­schen Ener­gie­sys­tems bietet nicht genü­gend Mittel und Anreize für die Lage­rung von Kohle und Gas;
  • Die Unsi­cher­heit über Eigen­tums­rechte schreckt aus­län­di­sche Gas­händ­ler ab.
  • Nach dem Winter ist vor dem nächs­ten Winter.
  • Die Kohle- und Strom­vor­räte der Ukraine werden im April sehr niedrig sein;
  • Das unter Druck gera­tene Kern­kraft­werk wird in die Wartung gehen müssen;
  • Die Umkeh­rung der Gas­flüsse könnte struk­tu­rell schwie­ri­ger werden (ins­be­son­dere, wenn die voll­stän­dige Umlei­tung durch Nord Stream 2 geneh­migt wird);
  • Noch immer kein Geld für die Ein­la­ge­rung von Kohle und Gas für die nächste Saison.

Die eng­lisch­spra­chige Prä­sen­ta­tion können Sie unter­halb dieser Zeile im PDF-Viewer lesen, oder zum Her­un­ter­la­den hier klicken.

LibMod_​Ukraine_​Energy

 

Oleksii Mykhai­lenko ist ein unab­hän­gi­ger Ener­gie­ex­perte und Berater mit Sitz in Kyjiw und Mit­be­grün­der des ana­ly­ti­schen Zen­trums Clean Energy Lab.

Georg Zach­mann ist Senior Fellow im Brüs­se­ler Thinktank Bruegel, wo er zu euro­päi­scher Energie- und Kli­ma­po­li­tik arbei­tet. Bis August 2021 war er Mit­glied des German Eco­no­mic Team in der Ukraine und leitete das Projekt LowCarbonUkraine.

 

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