Namen­lose Opfer

Foto: Archiv der Stif­tung Liebenau

 

Seit 2014 gab es mehrere rus­si­sche Angriffe auf psych­ia­tri­sche Ein­rich­tun­gen in der Ukraine. Gibt es Par­al­le­len zu den von Nazis began­gen Mas­sen­mor­den an psy­chisch kranken Men­schen in der Ukraine während des Zweiten Welt­kriegs? Ein Rück­blick. Von Gelinada Grinchenko

Inmit­ten einer Lawine scho­ckie­ren­der Berichte aus den ersten Tagen der groß ange­leg­ten rus­si­schen Inva­sion in der Ukraine gab es Infor­ma­tio­nen, dass die Russen die Räum­lich­kei­ten des psych­ia­tri­schen Kran­ken­hau­ses von Tscher­ni­hiw beschos­sen haben. Glück­li­cher­weise wurde niemand ver­letzt. Pati­en­ten und Ärzte konnten sich in einem Tier­heim in Sicher­heit bringen. Im März kamen Berichte übe den Beschuss eines psy­cho­neu­ro­lo­gi­schen Inter­nats in Pushcha-Vodyt­sya bei Kyjiw, des psy­cho­neu­ro­lo­gi­schen Inter­nats Oskilsky in der Region Charkiw und anderen Ein­rich­tun­gen dazu.

Solche Angriffe fanden auch gleich zu Beginn des Krieges im Jahr 2014 statt, als psych­ia­tri­sche Ein­rich­tun­gen in Donezk, Luhansk und Slo­wjansk erheb­lich beschä­digt wurden. Medi­en­be­rich­ten zufolge nutzen die rus­si­schen Truppen eine der Kli­ni­ken als Stütz­punkt für Kämpfe gegen die ukrai­ni­sche Armee – während sich noch Pati­en­ten dort befanden.

Ich bin mir sicher: Nach diesem Krieg werden inter­na­tio­nale Anwälte und Straf­ver­fol­ger ihre Urteile fällen. Und Wis­sen­schaft­ler werden his­to­ri­sche Par­al­le­len zu einem anderen ähn­li­chen Ver­bre­chen ziehen, das in der Ukraine während des letzten schreck­li­chen Krieges, dem Zweiten Welt­krieg, began­gen wurde.

Ver­ges­sene Opfer des Nationalsozialismus

Der Zweite Welt­krieg hat der Ukraine enorme Ver­luste, Zer­stö­run­gen und mensch­li­ches Leid zuge­fügt. Geblie­ben sind Erin­ne­run­gen an eine Viel­zahl von Ver­bre­chen und unmensch­li­chen Taten. Einige davon sind noch uner­forscht. Die Getö­te­ten und Ermor­de­ten sind namen­lose, „ver­ges­sene“ Opfer. Eine dieser fast noch uner­forsch­ten Epi­so­den ist die Ver­nich­tung von Pati­en­ten in psych­ia­tri­schen Kran­ken­häu­sern in der besetz­ten Ukraine durch die Nazis. Die Bio­gra­fien dieser Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus, sowie die Betei­li­gung der lokalen Bevöl­ke­rung in den besetz­ten Gebie­ten an den „Aktio­nen“ der Nazis, die Erfor­schung des Nach­kriegs­schick­sals von Ärzten und psych­ia­tri­schen Kli­ni­ken und weitere Teile der Geschichte sind heute völlig unbekannt.

Die Nazis star­te­ten vor dem Zweiten Welt­krieg ein wohl­durch­dach­tes, geplan­tes und akri­bisch durch­ge­führ­tes Pro­gramm zur Tötung „geis­tes­kran­ker” und „geistig zurück­ge­blie­be­ner” Men­schen (auch „Aktion T4” genannt). Dieses Pro­gramm basierte auf der NS-Ideo­lo­gie einer über­le­ge­nen und gesün­de­ren Rasse und damit der Ras­sen­hy­giene. Dazu gehör­ten Maß­nah­men zur Ver­hin­de­rung von Gebur­ten „min­der­wer­ti­ger Kinder” im Sinne dieser Ideo­lo­gie und später Maß­nah­men zur Tötung erwach­se­ner Pati­en­ten. Diese Morde wurden „Aktio­nen des barm­her­zi­gen Todes“ genannt: Pati­en­ten wurden in spe­zi­el­len Räumen von Kran­ken­häu­sern durch Gas getötet. Das offi­zi­elle Ende des T‑4-Pro­gramms erfolgte im August 1941 auf­grund von Pro­tes­ten der Öffent­lich­keit und der Kirchenvertreter.

Ab dieser Zeit, das heißt im Sommer 1941, began­nen wie­derum Mas­sen­tö­tun­gen von Pati­en­ten in psych­ia­tri­schen Anstal­ten, Behin­der­ten­hei­men, Arbeits­ko­lo­nien und ähn­li­chen geschlos­se­nen medi­zi­ni­schen Ein­rich­tun­gen in allen grö­ße­ren Städten der besetz­ten Ukraine. Die Zahl dieser Opfer in psych­ia­tri­schen Ein­rich­tun­gen in der besetz­ten Ukraine liegt nach aktu­el­len Schät­zun­gen zwi­schen 7000 und 9000. In Win­nyzja, Kyjiw, Ihren, Charkiw, Cherson, Tscher­ni­hiw, Poltawa und anderen Städten wurden Pati­en­ten auf ver­schie­dene Weise getötet. Im Laufe des Jahres, vom Sommer 1941 bis zum Sommer 1942, wurde die über­wie­gende Mehr­heit der Pati­en­ten mit psy­chi­schen Stö­run­gen auf dem Ter­ri­to­rium der besetz­ten Ukraine getötet. Sie wurden erschos­sen, aus­ge­hun­gert, ver­gif­tet oder lebens­ge­fähr­li­chen medi­zi­ni­schen Ein­grif­fen unter­zo­gen und zu Tode geprügelt.

Morden auf Befehl

Die Haupt­or­ga­ni­sa­to­ren des Ver­bre­chens in der Ukraine waren Ver­tre­ter der Ein­satz­gruppe C (sie lei­te­ten Morde in Kran­ken­häu­sern in Win­nyzja, Ihren, Kyjiw, Poltawa, Charkiw) und D und B, die Morde in Kran­ken­häu­sern in Sim­fe­ro­pol und Tscher­ni­hiw lei­te­ten. An diesen Atten­ta­ten war auch die Wehr­macht betei­ligt. In der Psych­ia­tri­schen Klinik Cherson und im Wai­sen­heim Preslaw in der Region Sapo­rischschja beglei­te­ten Sol­da­ten der Luft­waffe die Kranken zur Hin­rich­tungs­stätte und bewach­ten diese. Es ist auch bekannt, dass nach den Ermor­dun­gen von Pati­en­ten oft leere psych­ia­tri­sche Anstal­ten an die Wehr­macht über­ge­ben wurden. Dies war unter anderem in Win­nyzja oder Poltawa der Fall.

Die Nazis selbst spra­chen so über die Ursa­chen und die Orga­ni­sa­tion solcher Ver­bre­chen: “Ange­sichts der äußerst schwie­ri­gen Ernäh­rungs­si­tua­tion in Poltawa – bei­spiels­weise gibt es über­haupt keine Milch für die drei großen Laza­rette – kon­tak­tierte der Kom­man­deur des Son­der­kom­man­dos 4b im Ein­ver­neh­men mit dem 6. Armee­kom­mando und dem Orts­kom­man­dan­ten den Chef­psych­ia­ter bezüg­lich einer Ver­ein­ba­rung über die Eli­mi­nie­rung zumin­dest eines Teils der psy­chisch Kranken … “. Darüber hinaus einigte sich der Chef­arzt laut Mit­tei­lungs­text auf das künf­tige Schick­sal psy­chisch kranker Men­schen, womit die Vor­be­rei­tung und Durch­füh­rung des Mas­sen­mor­des an den Pati­en­ten begann. Die Tötun­gen wurde von Team 4b am 30. Oktober 1941 durchgeführt.

In der Region Charkiw, in einem Kran­ken­haus im Dorf Stri­let­sche, beschlag­nahm­ten die Nazis zunächst alle Lebens­mit­tel der Ein­rich­tung: 7 Tonnen Roggen, 10 Tonnen Gerste, 40 Fässer Gurken. 700 Pati­en­ten blieben ohne Nahrung zurück. Ein paar Tage später began­nen die Pati­en­ten zu ver­hun­gern. Als der Chef­arzt des Kran­ken­hau­ses den ört­li­chen deut­schen Kom­man­dan­ten fragte, wie die Pati­en­ten unter­ge­bracht werden sollten, wurde ihm gesagt, dass das Problem in drei Tagen gelöst würde. Am 21. und 22. Novem­ber 1941 wurden hier 435 Pati­en­ten erschos­sen. Danach beschlag­nahm­ten die Nazis das gesamte Kran­ken­haus­ei­gen­tum: 1500 Decken, 3000 Laken, 4000 Paar Bett­wä­sche, 500 Betten und weitere Dinge.

Zeug­nisse des Grauens

Die fol­gen­den Zeu­gen­aus­sa­gen wurden später nach der Befrei­ung der ukrai­ni­schen Städte von den Nazis vor Gericht gemacht: „Jeder von uns (also vom Ser­vice­per­so­nal) nahm einen Pati­en­ten und führte ihn zwi­schen die Reihen der deut­schen Sol­da­ten zur Grube, wo er ent­klei­det und dann auf den Grund der Grube gebracht wurde und den Kopf zum Gru­ben­ein­gang drehen musste. Nachdem der Patient dort abge­stellt war, schoss der Deut­sche ihm aus drei Schrit­ten Ent­fer­nung in den Hin­ter­kopf. Am Hin­rich­tungs­ort wandten sich einige Pati­en­ten, deren Namen ich nicht mehr weiß, nachdem sie in die Hin­rich­tungs­grube gebracht worden waren, auf Deutsch an die Deut­schen mit der Bitte, sie leben zu lassen. Aber die letzten Bitten wurden nicht erfüllt. Schwer­kranke wurden von einem Pfleger in die Grube gebracht, mit dem Gesicht nach unten hin­ge­legt und in den Hin­ter­kopf geschossen.”

Das zitierte Doku­ment bezieht sich auf die Ermor­dung von mehr als 300 jüdi­schen Pati­en­ten im Kran­ken­haus Paw­lowsk in Kyjiw, die am 18. Oktober 1941 in der Nähe der Klinik statt­fand. Im All­ge­mei­nen war in der über­wie­gen­den Mehr­heit der Kran­ken­häu­ser die Praxis der Iso­lie­rung und Hin­rich­tung jüdi­scher Pati­en­ten weit ver­brei­tet. Für die Nazis waren diese Pati­en­ten doppelt unter­le­gen: ras­sisch und medi­zi­nisch. Für solche Pati­en­ten wurden zunächst sepa­rate Listen erstellt, dann wurden sie von der all­ge­mei­nen Masse der Pati­en­ten getrennt (meis­tens han­delte es sich um sepa­rate Sta­tio­nen oder Räume auf dem Gelände der Krankenhäuser).

Darauf folgte die direkte Ver­nich­tung: die Erschie­ßung aller aus­ge­wähl­ten Pati­en­ten auf einmal im Paw­lowsk-Kran­ken­haus in Kyjiw; schreck­li­cher qual­vol­ler Tod durch Ver­gif­tung mit Zyan­ka­li­lö­sung im Kran­ken­haus Win­nyzja, gefolgt von der Erschie­ßung der nicht ver­gif­te­ten Pati­en­ten; Hun­gers­not und Mor­phin­ver­gif­tung im Kran­ken­haus, wo 1943 die letzten Pati­en­ten erschos­sen wurden. Dazu kam die zyni­sche Hin­rich­tung 47 jüdi­scher Kinder mit Behin­de­run­gen in der pres­law­schen Straf­ko­lo­nie in der Region Sapo­rischschja. Ihre Namen wurden auf Listen festgehalten.

Gerech­tig­keit und Erinnerung

Diese Listen sind fast die ein­zi­gen Doku­mente, die die Namen von Kindern ver­zeich­nen, die Opfer der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Politik der Ver­fol­gung von psy­chisch kranken Men­schen wurden. Leider gibt es derzeit keine voll­stän­di­gen Infor­ma­tio­nen über alle Pati­en­ten, die in Kran­ken­häu­sern in der besetz­ten Ukraine hin­ge­rich­tet wurden. Wir fangen gerade erst an, diese schreck­li­che, schwie­rige und immer noch sehr wenig erforschte Seite der Geschichte unseres Landes während der Nazi-Besat­zung zu ent­de­cken und zu erforschen.

Wir müssen all die­je­ni­gen kennen, die gelit­ten haben und gestor­ben sind und fast keine Erin­ne­rung hin­ter­las­sen haben. Wir müssen ihnen geden­ken. Unsere Aufgabe ist es, die Gerech­tig­keit wie­der­her­zu­stel­len und die Erin­ne­rung an diese wirk­lich stillen Opfer aufrechtzuerhalten.

Die ersten Ver­su­che, die Geschichte zu stu­die­ren und die Erin­ne­rung an die ermor­de­ten Pati­en­ten psych­ia­tri­scher Kran­ken­häu­ser in der besetz­ten Ukraine während des Zweiten Welt­kriegs zu ver­ewi­gen, finden sich in der Zeit­schrift Moderne Ukraine.

Textende

Portrait von Gelinada Grinchenko

Gelinada Grin­chenko ist Pro­fes­so­rin für Geschichte am Insti­tut der Ukrai­nis­tik der Natio­na­len Wassyl-Karasin-Uni­ver­si­tät in Charkiw.

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