Geschichte und Gegen­wart: Zur Erin­ne­rung an den 8. Mai

© tetiana_​u /​ Shut­ter­stock

Was können wir aus der Geschichte lernen? Welche Form des Geden­kens an die Opfer des Krieges ist ange­mes­sen? Unser Redak­teur mit ganz per­sön­li­chen Gedan­ken zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Mein Vater war wütend auf uns, seine drei Söhne. „Wisst ihr, was die Russen mit eurem Groß­va­ter gemacht haben?“ Ja, das wussten wir. Sie hatten einen Kreis geschlos­sen und ihn erschos­sen. Er war bei Sta­lin­grad „gefal­len“ und nicht wieder nach Hause zurück­ge­kehrt. „Was hat er denn in Sta­lin­grad gemacht?“, fragte mein ältes­ter Bruder. „In der Schule haben wir gelernt ...“ Doch weiter kam er nicht, denn mein Vater schrie. „Fahrt zu eurer Groß­mutter, die wird euch erzäh­len, was wirk­lich pas­siert ist.“

So mussten meine älteren Brüder 250 Kilo­me­ter durch die DDR fahren und sich von der alten Frau beleh­ren lassen, „was in Sta­lin­grad wirk­lich pas­siert“ war. Ich war zu jung dafür. Aber meine Groß­mutter hatte mir schon erzählt, wie sie ihren Mann auf dem Bahnhof in Berlin zu seiner letzten Reise ver­ab­schie­det hatte. Er werde nicht zurück­kom­men, hatte er ihr gesagt, er werde aus dem Kessel von Sta­lin­grad nicht mehr herauskommen.
„Warum ist er dann nicht geflo­hen, warum hat er sich nicht ver­steckt?“, wollte ich wissen.
„Du stellst dir das viel zu einfach vor. Man konnte sich nicht einfach ver­ste­cken. Überall waren Spitzel.“
Oder wollte er gar nicht deser­tie­ren, weil er eben doch loyal zum „3. Reich“ stand und glaubte, er müsse sein Vater­land ver­tei­di­gen? Es gab viele kleine Lichter, die vom großen Beu­te­zug pro­fi­tier­ten. Meine Oma hatte einmal sogar erzählt, dass er bei der SA gewesen sei und dann angeb­lich einen Umzug genutzt hatte, um dort wieder aus­zu­tre­ten. Aber war das über­haupt möglich gewesen? In Paris hatte er sich jeden­falls wohl­ge­fühlt, von da hatte er seiner Frau Strümpfe mit­ge­bracht. Und aus Polen angeb­lich sogar eine Gans.

Die Ver­ach­tung und Spott­lust meines Vaters, sein Hass auf alles „Rus­si­sche“ bezog sich auch auf die Lite­ra­tur. „Warum liest du denn rus­si­sche Bücher, da steht doch sowieso nicht die Wahr­heit drin?“ Alex­an­der Blok, Sergej Jes­senin, Arkardi und Boris Stru­gatzki, Michail Bul­ga­kow, Tschin­gis Ait­ma­tow, alle waren sie seiner Meinung nach Russen und alle hatten sie im Sinne der Pro­pa­ganda gelogen, denn sonst wären ihre Bücher ja in der DDR nicht ver­öf­fent­licht worden. Auch alle sowje­ti­schen Mili­tär­an­ge­hö­ri­gen nannten wir Russen. „Wie sollen wir sie denn sonst nennen, viel­leicht Sowjet­unio­ner?“, so mein Vater.

Am 8. Mai wurde der Tag der Befrei­ung gefei­ert, der „Befrei­ung des deut­schen Volkes vom Hit­ler­fa­schis­mus“. Nicht vom Natio­nal­so­zia­lis­mus, wie es korrekt hätte heißen müssen. Denn dann hätte man ja die fak­ti­sche Nähe zum DDR-Sozia­lis­mus bemerkt – den Kol­lek­ti­vis­mus, die totale Kon­trolle des öffent­li­chen Lebens, das Spit­zel­sys­tem, die all­ge­gen­wär­tige Pro­pa­ganda. Wir fei­er­ten natür­lich nicht wirk­lich, sondern hörten uns die lang­wei­li­gen offi­zi­el­len Reden an, wenn wir dazu gezwun­gen waren. In der DDR-Diktion hatte nur die „ruhm­rei­che Sowjet­ar­mee“ diese Befrei­ung erreicht. Deut­sche Anti­fa­schis­ten hatten dabei gehol­fen, so die Erzäh­lung der Pro­pa­ganda. US-Ame­ri­ka­ner und Briten kamen selten vor. „Niemals wird ver­ges­sen sein, wie die Sowjet­ar­mee in der Schlacht um Berlin gesiegt hatte und für den euro­päi­schen Kon­ti­nent eine neue Zeit­rech­nung begann“, heißt es bei­spiels­weise in einem Bericht der Nach­rich­ten­sen­dung Aktu­elle Kamera Bericht der Nach­rich­ten­sen­dung Aktu­elle Kamera am 8. Mai im letzten Jahr der DDR.

Im freien West­deutsch­land war die Erin­ne­rungs­kul­tur dif­fe­ren­zier­ter und quä­len­der. Der Lern­pro­zess vollzog sich öffent­lich. Richard von Weiz­sä­cker nannte in seiner berühm­ten Rede 1985 als erster Bun­des­prä­si­dent den 8. Mai einen Tag der Befrei­ung. „Er hat uns alle befreit von dem men­schen­ver­ach­ten­den System der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewaltherrschaft.“

Noch 20 Jahre zuvor hatte der dama­lige Bun­des­kanz­ler Ludwig Erhard sich zu dieser Aussage nicht durch­rin­gen können. Der Jah­res­tag des Kriegs­en­des sei kein „Gedenk­tag der Befrei­ung“; das könnte er nur sein, wenn „mit der Nie­der­wer­fung Hitler-Deutsch­lands Unrecht und Tyran­nei aus der Welt getilgt worden wären“. Auch von Weiz­sä­cker wies in seiner Rede auf diesen Umstand hin. „Niemand wird um dieser Befrei­ung willen ver­ges­sen, welche schwe­ren Leiden für viele Men­schen mit dem 8. Mai erst began­nen und danach folgten.“ Dieser Tag sei „für uns Deut­sche kein Tag zum Feiern“, er war viel­mehr geprägt von „Erschöp­fung, Rat­lo­sig­keit und Sorgen“.

Auch Bun­des­kanz­ler Helmut Kohl wählte 1985 in einem Fernseh-Inter­view ähn­li­che Worte: „Ein Fei­er­tag ist das über­haupt nicht. Adolf Hitler hat den Zweiten Welt­krieg vom Zaun gebro­chen. Er hat mit seinem Regime Schreck­li­ches im deut­schen Namen über die Men­schen gebracht, Ausch­witz, Treb­linka und Dachau und alles was dazu gehört stehen für das Leid und das Elend von Mil­lio­nen Men­schen, und das ist nicht aus unserer Geschichte weg­zu­wi­schen. Wir sind die Haupt­ver­ant­wort­li­chen, wir als Deut­sche, als Volk, und müssen die volle Last der Geschichte tragen für den Zweiten Welt­krieg. Wahr ist aber auch, dass dieser Zweite Welt­krieg so abge­lau­fen ist, dass Hitler und Stalin einen Pakt geschlos­sen haben. Wahr ist auch, dass Polen nach dem Über­fall von den Russen (!) okku­piert wurde, Teile von Polen von der Sowjet­union okku­piert wurden.“

Im Geden­ken an den 8. Mai mischen sich Befrei­ung, Schuld und Leid. Von einem Tag der Nie­der­lage zu spre­chen hätte bedeu­tet, den Natio­nal­so­zia­lis­mus und seine Ver­bre­chen zu bejahen. Die Deut­schen sind 1945 besiegt und damit befreit worden, daran zwei­feln ver­nunft­be­gabte Wesen eigent­lich nicht. Die Deut­schen in den west­li­chen Besat­zungs­zo­nen bekamen danach die Chance, in Frei­heit, Rechts­staat­lich­keit und Wohl­stand zu leben. Für die Deut­schen in der „sowje­ti­schen Besat­zungs­zone“ lagen die Dinge kom­pli­zier­ter. Ihre Befrei­ung mündete in ein neues dik­ta­to­ri­sches Regime. Das muss man aus­spre­chen, ohne die DDR auf eine Stufe mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus zu stellen.

Sowjet­union – Russland

© Denis Kabelev /​ Shut­ter­stock

 

In den Ländern des „Ost­blocks“ wurde bis zur Auf­lö­sung der Sowjet­union über die sowje­ti­schen Ver­bre­chen beharr­lich geschwie­gen. Der Zweite Welt­krieg dauerte demnach von 1941 bis 1945, als hätte es zuvor die Kol­la­bo­ra­tion mit Hitler-Deutsch­land nicht gegeben. Erst 1992, nach der Auf­lö­sung der Sowjet­union, ließ der rus­si­sche Prä­si­dent Boris Jelzin das geheime Zusatz­pro­to­koll des deutsch-sowje­ti­sche Nicht­an­griffs­pakts von 1939 (dem Hitler-Stalin-Pakt) ver­öf­fent­li­chen. Demnach hatten sich die beiden Dik­ta­tu­ren ein­ver­nehm­lich geei­nigt über die Beset­zung Polens sowie Litau­ens durch die Deut­schen, und Ost­po­lens, Finn­lands, Est­lands, Lett­lands und Bes­sa­ra­bi­ens durch sowje­ti­sche Truppen. An der Ter­ror­herr­schaft von NKWD und Roter Armee in den sowje­tisch beset­zen Gebie­ten besteht kein Zweifel. Mas­sen­er­schie­ßun­gen und Depor­ta­tio­nen waren an der Tages­ord­nung. Hun­dert­tau­sende Men­schen wurden nach Sibi­rien und Zen­tral­asien depor­tiert. Eines der bekann­tes­ten Kriegs­ver­bre­chen war im Jahre 1940 das Mas­sa­ker von Katyn an 4400 kriegs­ge­fan­ge­nen Polen durch das sowje­ti­sche NKWD.

In der sowje­ti­schen Geschichts­schrei­bung kamen diese Ver­bre­chen ent­we­der nicht vor oder andere wurden für sie ver­ant­wort­lich gemacht (zum Bei­spiel die Deut­schen für die Ermor­dung pol­ni­scher Offi­ziere in Katyn). Oder die Ver­bre­chen wurden ver­brämt und als not­wen­dig im Dienste des Fort­schritts beschrie­ben – Ukrai­ner wurden ermor­det, weil sie ukrai­ni­sche Lieder sangen, Pries­ter und Gläu­bige, weil sie an einen Gott glaub­ten, Bauern, weil sie fleißig waren und eine Kuh zu viel besaßen, Aris­to­kra­ten, weil sie keine Pro­le­ta­rier waren.

„Nicht alle Opfer des Nazis­mus waren Juden, aber alle Juden waren Opfer des Nazis­mus“, steht auf einem in sowje­ti­scher Zeit errich­te­ten Gedenk­stein einer Hin­rich­tungs­stätte in Poltawa, wo zuerst sowje­ti­sche „Sicher­heits­dienste“ viele Men­schen ermor­det hatten, dann deut­sche „Sicher­heits­po­li­zei“ fast zehn­tau­send Jüdin­nen und Juden.

Bei den Feiern und Mär­schen zum Kriegs­ende in Russ­land wird heute gern über­se­hen, dass nicht Russen allein den Krieg gewon­nen haben. Den Allein­ver­tre­tungs­an­spruch der Sowjet­union für den Sieg gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus, den ich aus meiner Kind­heit kenne, hat nun Russ­land über­nom­men. Dort wird jetzt der „Sieg über den Hitler-Faschis­mus“ als wich­tigs­tes Ereig­nis der Geschichte gefei­ert. In dieser Erzäh­lung ist die Sowjet­union das Opfer, das sich hel­den­haft wehrte, nicht etwa selbst Täter. Der Triumph über das Böse wird gefei­ert, für Trauer oder Scham ange­sichts der eigenen Ver­bre­chen ist kein Raum.

Neben­bei wird in Putins Russ­land auch das Nar­ra­tiv wie­der­be­lebt, dass die ukrai­ni­schen Natio­na­lis­ten alle­samt Faschis­ten und Kol­la­bo­ra­teure waren und die Ukraine jetzt faschis­tisch regiert wird; dass die Krim und der Donbas schon immer rus­sisch waren und deshalb die Anne­xion gerecht­fer­tigt sei. Polen sei im Grunde selbst schuld, dass es von Hitler-Deutsch­land und Stalins Sowjet­union besetzt worden war, weil es sich einem Bündnis mit Stalin ver­wei­gert habe. Der Stalin-Hitler Pakt wird als stra­te­gi­sche Not­wen­dig­keit reha­bi­li­tiert. Auch der Stalin-Kult kehrt wieder.

Deshalb lohnt es umso mehr, die Erin­ne­run­gen und Zeu­gen­be­richte jener zu stu­die­ren, die den Krieg mit­ge­macht und klug ana­ly­siert haben. Wie etwa der sowje­tisch-rus­si­sche Schrift­stel­ler Daniil Granin in seinem Buch „Mein Leut­nant“, zu dem Helmut Schmidt ein Vorwort schrieb. Schmidt hat als Wehr­machts­of­fi­zier fast zwei Jahre lang, von 1941 bis 1943, bei der Bela­ge­rung, Bom­bar­die­rung und Aus­hun­ge­rung Lenin­grads mit­ge­macht. Daniil Granin hatte zur glei­chen Zeit als Frei­wil­li­ger seine Hei­mat­stadt ver­tei­digt. Zwei Männer, die auf­ein­an­der geschos­sen hatten und später doch befreun­det sein konnten.

Granin schreibt in seinem Buch: „Aber unser Krieg war anders – blutig, stüm­per­haft, Men­schen­le­ben wurden sinnlos geop­fert, doch das zeigte man nicht, darüber schrieb man nicht. Mein Leut­nant hasste die Deut­schen und konnte das eigene Stabs­ge­s­in­del nicht leiden. Im Kino zeigte man Gene­räle, die weder Schur­ken noch Säufer oder Dumm­köpfe waren. Er konnte es nicht begrei­fen, wie sie es geschafft hatten, trotz all der Fehler, all des Bluts, trotz Feig­heit, Unwis­sen­heit und Furun­keln in Ost­preu­ßen ein­zu­mar­schie­ren. – Die Armee­füh­rung belohnte jene, die angrif­fen und ihre Leute opfer­ten, ohne sie zu zählen, die nicht die eigenen Ver­luste mel­de­ten, sondern die des Gegners, wie viele Deut­sche sie außer Gefecht gesetzt hatten.“

Vielen sowje­ti­schen Sol­da­ten fiel es schwer sich ein­zu­ge­ste­hen, dass sie nicht nur das schlecht­hin Böse und einen Feind bekämpf­ten, der ihre Heimat über­fal­len hatte, sondern dass sie zugleich ihr Leben für ein ver­bre­che­ri­sches Regime ris­kier­ten. So sagt eine Frau in einem Dorf zu Granin: „Du bist jung, wozu sollst du für diese ver­fluchte Staats­macht sterben? – Ich hörte kaum zu, sie erzählte, wie ihr Bruder als Kulak ent­eig­net und ver­bannt wurde, auch ihnen hatte man gedroht und sie als Halb­ku­la­ken abge­stem­pelt, gut, dass der Krieg dazwi­schen­ge­kom­men war, ihr Mann sollte aus der Armee ent­las­sen werden, aber da kam schon die Gefal­le­nen­mel­dung. Ihre Worte über die Staats­macht ver­blüff­ten mich, so über­zeugt klangen sie.“

In diesem Krieg kam es zu vielen tra­gi­schen Situa­tio­nen, ange­sichts derer der heutige Sie­ges­kult in Russ­land einfach nur traurig und pein­lich wirkt.

Ukraine

© Oleksii Kryachko

Pawel Gri­gor­je­witsch Kar­penko aus Poltawa. Er meldete sich frei­wil­lig zum Dienst in der Roten Armee und nahm an der berühm­ten Parade am 7. Novem­ber 1941 in Moskau teil und mar­schierte von dort direkt an die Front. Er been­dete den Krieg in Königs­berg im Rang eines Majors. Nach dem Krieg Schul­di­rek­tor und Mathe­ma­tik­leh­rer in Poltawa. Orden des Roten Sterns und des Vater­län­di­schen Krieges 2. Grad, Medaille für die Ver­tei­di­gung Moskaus. 

Beson­ders lehr­reich ist die Ent­wick­lung der Erin­ne­rungs­kul­tur derzeit in der Ukraine. Bekannt­lich war das gesamte Land von der Deut­schen Wehr­macht besetzt, nicht nur ein relativ kleiner Teil des Ter­ri­to­ri­ums wie in Russ­land. Min­des­tens acht Mil­lio­nen Kriegs­op­fer waren zu bekla­gen, dar­un­ter über fünf Mil­lio­nen Zivi­lis­ten, Frauen und Kinder, „die im deut­schen Ver­nich­tungs­krieg von der SS oder Wehr­macht ermor­det wurden“, so Andrij Melnyk, Bot­schaf­ter der Ukraine in Deutsch­land. „Diese schreck­li­chen Zahlen schlie­ßen auch 1,6 Mil­lio­nen ukrai­ni­sche Juden ein, die im beinahe ver­ges­se­nen Holo­caust durch Kugeln von den Nazis umge­bracht wurden.“ Außer­dem unge­fähr 20.000 Sinti und Roma.

Der ukrai­ni­sche Bot­schaf­ter erin­nerte im vorigen Jahr auch an die mehr als zwei Mil­lio­nen Frauen und Männer, die als soge­nannte Ost­ar­bei­ter aus der besetz­ten Ukraine ins Dritte Reich ver­schleppt wurden, „wo sie, als Unter­men­schen ver­sklavt, schwerste Arbeit ver­rich­ten mussten und sehr oft daran starben“. Etwa 400.000 Ukrai­ner wurden als Häft­linge deut­scher KZ-Lager ernied­rigt und aus­ge­beu­tet, jeder zweite von ihnen wurde hin­ge­rich­tet. Von etwa 40 Mil­lio­nen Kriegs­to­ten in Europa war jedes fünfte Opfer ein Ukrai­ner oder eine Ukrai­ne­rin, so der Botschafter.

Furcht­bare Zahlen, unend­li­ches Grauen. Mit Mili­tär­pa­ra­den und einem Sie­ges­kult wird man dem nicht gerecht. Das hat man inzwi­schen in der Ukraine erkannt. Das Geden­ken an das Ende des Krieges ist jetzt vor allem ein Anlass für Trauer, für innere Einkehr. So wird der 8. Mai als Tag der Erin­ne­rung und der Ver­söh­nung gefei­ert. Sein Zeichen ist die rote Mohn­blume. Da man aber unter furcht­ba­ren Ver­lus­ten Nazi-Deutsch­land besiegte, begeht man am 9. Mai auch einen Tag des Sieges. Deutsch­land hatte die Kapi­tu­la­tion nach deut­scher Zeit am 8. Mai unter­schrie­ben, nach Mos­kauer Zeit am 9. Mai, so war dieser Tag in der Sowjet­union der Fei­er­tag. Doch die Ukraine, wie auch andere ost­eu­ro­päi­sche Staaten, war lange nicht sou­ve­rän, konnte nicht selbst ent­schei­den. Die Ukraine stand unter tota­li­tä­rer Herr­schaft und war lange aus der Dis­kus­sion über den Welt­krieg ausgeschlossen.

Eine aktu­elle Studie der Stif­tung „Demo­kra­ti­sche Initia­ti­ven“ und des Inter­na­tio­na­len Insti­tuts für Sozio­lo­gie in Kyjiw zeigt, dass für mehr als ein Drittel der Ukrai­ner der Tag der Erin­ne­rung und Ver­söh­nung mitt­ler­weile ebenso wichtig ist wie der Tag des Sieges. Eine knappe Mehr­heit stimmt der Aussage zu, dass die Sowjet­union zusam­men mit Nazi­deutsch­land für den Aus­bruch des Zweiten Welt­kriegs ver­ant­wort­lich war.

Von den Deut­schen, ins­be­son­dere von deren offi­zi­el­len Ver­tre­tern wün­schen sich Ukrai­ner, dass sie sich an den rus­si­schen Geschichts­ma­ni­pu­la­tio­nen nicht betei­li­gen. Dass Bun­des­prä­si­dent Frank-Walter Stein­meier die Pipe­line Nord Stream 2 unter Beru­fung auf den Über­fall Nazi­deutsch­lands auf die Sowjet­union ver­tei­digte, löste in der Ukraine große Irri­ta­tion aus – als hätte dieser Über­fall nur Russ­land gegol­ten und nicht auch der Ukraine, deren Sicher­heit mit der Umge­hung durch Nord Stream2 noch stärker gefähr­det wird.. Dabei war die Erobe­rung der Ukraine ein zen­tra­les Ziel für Hitler. Es ist es deshalb sinnlos, an den Zweiten Welt­krieg zu erin­nern, ohne die Ukraine zu berück­sich­ti­gen, so der US-ame­ri­ka­ni­sche His­to­ri­ker Timothy Snyder in einer Rede zur deut­schen his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung gegen­über der Ukraine.

Wenn die Deut­schen das Endes des Krieges und des Natio­nal­so­zia­lis­mus wirk­lich als Befrei­ung ansehen, sollten sie allen ihren Befrei­ern dankbar sein und deren Opfer achten und ehren. Es ist geschichts­ver­ges­sen und das falsche poli­ti­sche Signal, wenn EU-Kom­mis­si­ons­prä­si­den­tin Ursula von der Leyen die Ein­la­dung des ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten zur Feier des 30. Jah­res­ta­ges der Unab­hän­gig­keit des Landes durch ihren Büro­lei­ter absagen ließ – wegen ihres „beson­ders vollen Ter­min­ka­len­ders“.

Es gibt also noch viele Gründe, aus der Geschichte zu lernen.

Textende

Portrait von Christoph Brumme

Chris­toph Brumme ver­fasst Romane und Repor­ta­gen. Seit dem Früh­jahr 2016 lebt er in der ost­ukrai­ni­schen Stadt Poltawa.

 

 

 

 

 

 

 

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