Geschichte und Gegenwart: Zur Erinnerung an den 8. Mai
Was können wir aus der Geschichte lernen? Welche Form des Gedenkens an die Opfer des Krieges ist angemessen? Unser Redakteur mit ganz persönlichen Gedanken zum Ende des Zweiten Weltkriegs.
Mein Vater war wütend auf uns, seine drei Söhne. „Wisst ihr, was die Russen mit eurem Großvater gemacht haben?“ Ja, das wussten wir. Sie hatten einen Kreis geschlossen und ihn erschossen. Er war bei Stalingrad „gefallen“ und nicht wieder nach Hause zurückgekehrt. „Was hat er denn in Stalingrad gemacht?“, fragte mein ältester Bruder. „In der Schule haben wir gelernt ...“ Doch weiter kam er nicht, denn mein Vater schrie. „Fahrt zu eurer Großmutter, die wird euch erzählen, was wirklich passiert ist.“
So mussten meine älteren Brüder 250 Kilometer durch die DDR fahren und sich von der alten Frau belehren lassen, „was in Stalingrad wirklich passiert“ war. Ich war zu jung dafür. Aber meine Großmutter hatte mir schon erzählt, wie sie ihren Mann auf dem Bahnhof in Berlin zu seiner letzten Reise verabschiedet hatte. Er werde nicht zurückkommen, hatte er ihr gesagt, er werde aus dem Kessel von Stalingrad nicht mehr herauskommen.
„Warum ist er dann nicht geflohen, warum hat er sich nicht versteckt?“, wollte ich wissen.
„Du stellst dir das viel zu einfach vor. Man konnte sich nicht einfach verstecken. Überall waren Spitzel.“
Oder wollte er gar nicht desertieren, weil er eben doch loyal zum „3. Reich“ stand und glaubte, er müsse sein Vaterland verteidigen? Es gab viele kleine Lichter, die vom großen Beutezug profitierten. Meine Oma hatte einmal sogar erzählt, dass er bei der SA gewesen sei und dann angeblich einen Umzug genutzt hatte, um dort wieder auszutreten. Aber war das überhaupt möglich gewesen? In Paris hatte er sich jedenfalls wohlgefühlt, von da hatte er seiner Frau Strümpfe mitgebracht. Und aus Polen angeblich sogar eine Gans.
Die Verachtung und Spottlust meines Vaters, sein Hass auf alles „Russische“ bezog sich auch auf die Literatur. „Warum liest du denn russische Bücher, da steht doch sowieso nicht die Wahrheit drin?“ Alexander Blok, Sergej Jessenin, Arkardi und Boris Strugatzki, Michail Bulgakow, Tschingis Aitmatow, alle waren sie seiner Meinung nach Russen und alle hatten sie im Sinne der Propaganda gelogen, denn sonst wären ihre Bücher ja in der DDR nicht veröffentlicht worden. Auch alle sowjetischen Militärangehörigen nannten wir Russen. „Wie sollen wir sie denn sonst nennen, vielleicht Sowjetunioner?“, so mein Vater.
Am 8. Mai wurde der Tag der Befreiung gefeiert, der „Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus“. Nicht vom Nationalsozialismus, wie es korrekt hätte heißen müssen. Denn dann hätte man ja die faktische Nähe zum DDR-Sozialismus bemerkt – den Kollektivismus, die totale Kontrolle des öffentlichen Lebens, das Spitzelsystem, die allgegenwärtige Propaganda. Wir feierten natürlich nicht wirklich, sondern hörten uns die langweiligen offiziellen Reden an, wenn wir dazu gezwungen waren. In der DDR-Diktion hatte nur die „ruhmreiche Sowjetarmee“ diese Befreiung erreicht. Deutsche Antifaschisten hatten dabei geholfen, so die Erzählung der Propaganda. US-Amerikaner und Briten kamen selten vor. „Niemals wird vergessen sein, wie die Sowjetarmee in der Schlacht um Berlin gesiegt hatte und für den europäischen Kontinent eine neue Zeitrechnung begann“, heißt es beispielsweise in einem Bericht der Nachrichtensendung Aktuelle Kamera Bericht der Nachrichtensendung Aktuelle Kamera am 8. Mai im letzten Jahr der DDR.
Im freien Westdeutschland war die Erinnerungskultur differenzierter und quälender. Der Lernprozess vollzog sich öffentlich. Richard von Weizsäcker nannte in seiner berühmten Rede 1985 als erster Bundespräsident den 8. Mai einen Tag der Befreiung. „Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“
Noch 20 Jahre zuvor hatte der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard sich zu dieser Aussage nicht durchringen können. Der Jahrestag des Kriegsendes sei kein „Gedenktag der Befreiung“; das könnte er nur sein, wenn „mit der Niederwerfung Hitler-Deutschlands Unrecht und Tyrannei aus der Welt getilgt worden wären“. Auch von Weizsäcker wies in seiner Rede auf diesen Umstand hin. „Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten.“ Dieser Tag sei „für uns Deutsche kein Tag zum Feiern“, er war vielmehr geprägt von „Erschöpfung, Ratlosigkeit und Sorgen“.
Auch Bundeskanzler Helmut Kohl wählte 1985 in einem Fernseh-Interview ähnliche Worte: „Ein Feiertag ist das überhaupt nicht. Adolf Hitler hat den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen. Er hat mit seinem Regime Schreckliches im deutschen Namen über die Menschen gebracht, Auschwitz, Treblinka und Dachau und alles was dazu gehört stehen für das Leid und das Elend von Millionen Menschen, und das ist nicht aus unserer Geschichte wegzuwischen. Wir sind die Hauptverantwortlichen, wir als Deutsche, als Volk, und müssen die volle Last der Geschichte tragen für den Zweiten Weltkrieg. Wahr ist aber auch, dass dieser Zweite Weltkrieg so abgelaufen ist, dass Hitler und Stalin einen Pakt geschlossen haben. Wahr ist auch, dass Polen nach dem Überfall von den Russen (!) okkupiert wurde, Teile von Polen von der Sowjetunion okkupiert wurden.“
Im Gedenken an den 8. Mai mischen sich Befreiung, Schuld und Leid. Von einem Tag der Niederlage zu sprechen hätte bedeutet, den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zu bejahen. Die Deutschen sind 1945 besiegt und damit befreit worden, daran zweifeln vernunftbegabte Wesen eigentlich nicht. Die Deutschen in den westlichen Besatzungszonen bekamen danach die Chance, in Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand zu leben. Für die Deutschen in der „sowjetischen Besatzungszone“ lagen die Dinge komplizierter. Ihre Befreiung mündete in ein neues diktatorisches Regime. Das muss man aussprechen, ohne die DDR auf eine Stufe mit dem Nationalsozialismus zu stellen.
Sowjetunion – Russland
In den Ländern des „Ostblocks“ wurde bis zur Auflösung der Sowjetunion über die sowjetischen Verbrechen beharrlich geschwiegen. Der Zweite Weltkrieg dauerte demnach von 1941 bis 1945, als hätte es zuvor die Kollaboration mit Hitler-Deutschland nicht gegeben. Erst 1992, nach der Auflösung der Sowjetunion, ließ der russische Präsident Boris Jelzin das geheime Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetische Nichtangriffspakts von 1939 (dem Hitler-Stalin-Pakt) veröffentlichen. Demnach hatten sich die beiden Diktaturen einvernehmlich geeinigt über die Besetzung Polens sowie Litauens durch die Deutschen, und Ostpolens, Finnlands, Estlands, Lettlands und Bessarabiens durch sowjetische Truppen. An der Terrorherrschaft von NKWD und Roter Armee in den sowjetisch besetzen Gebieten besteht kein Zweifel. Massenerschießungen und Deportationen waren an der Tagesordnung. Hunderttausende Menschen wurden nach Sibirien und Zentralasien deportiert. Eines der bekanntesten Kriegsverbrechen war im Jahre 1940 das Massaker von Katyn an 4400 kriegsgefangenen Polen durch das sowjetische NKWD.
In der sowjetischen Geschichtsschreibung kamen diese Verbrechen entweder nicht vor oder andere wurden für sie verantwortlich gemacht (zum Beispiel die Deutschen für die Ermordung polnischer Offiziere in Katyn). Oder die Verbrechen wurden verbrämt und als notwendig im Dienste des Fortschritts beschrieben – Ukrainer wurden ermordet, weil sie ukrainische Lieder sangen, Priester und Gläubige, weil sie an einen Gott glaubten, Bauern, weil sie fleißig waren und eine Kuh zu viel besaßen, Aristokraten, weil sie keine Proletarier waren.
„Nicht alle Opfer des Nazismus waren Juden, aber alle Juden waren Opfer des Nazismus“, steht auf einem in sowjetischer Zeit errichteten Gedenkstein einer Hinrichtungsstätte in Poltawa, wo zuerst sowjetische „Sicherheitsdienste“ viele Menschen ermordet hatten, dann deutsche „Sicherheitspolizei“ fast zehntausend Jüdinnen und Juden.
Bei den Feiern und Märschen zum Kriegsende in Russland wird heute gern übersehen, dass nicht Russen allein den Krieg gewonnen haben. Den Alleinvertretungsanspruch der Sowjetunion für den Sieg gegen den Nationalsozialismus, den ich aus meiner Kindheit kenne, hat nun Russland übernommen. Dort wird jetzt der „Sieg über den Hitler-Faschismus“ als wichtigstes Ereignis der Geschichte gefeiert. In dieser Erzählung ist die Sowjetunion das Opfer, das sich heldenhaft wehrte, nicht etwa selbst Täter. Der Triumph über das Böse wird gefeiert, für Trauer oder Scham angesichts der eigenen Verbrechen ist kein Raum.
Nebenbei wird in Putins Russland auch das Narrativ wiederbelebt, dass die ukrainischen Nationalisten allesamt Faschisten und Kollaborateure waren und die Ukraine jetzt faschistisch regiert wird; dass die Krim und der Donbas schon immer russisch waren und deshalb die Annexion gerechtfertigt sei. Polen sei im Grunde selbst schuld, dass es von Hitler-Deutschland und Stalins Sowjetunion besetzt worden war, weil es sich einem Bündnis mit Stalin verweigert habe. Der Stalin-Hitler Pakt wird als strategische Notwendigkeit rehabilitiert. Auch der Stalin-Kult kehrt wieder.
Deshalb lohnt es umso mehr, die Erinnerungen und Zeugenberichte jener zu studieren, die den Krieg mitgemacht und klug analysiert haben. Wie etwa der sowjetisch-russische Schriftsteller Daniil Granin in seinem Buch „Mein Leutnant“, zu dem Helmut Schmidt ein Vorwort schrieb. Schmidt hat als Wehrmachtsoffizier fast zwei Jahre lang, von 1941 bis 1943, bei der Belagerung, Bombardierung und Aushungerung Leningrads mitgemacht. Daniil Granin hatte zur gleichen Zeit als Freiwilliger seine Heimatstadt verteidigt. Zwei Männer, die aufeinander geschossen hatten und später doch befreundet sein konnten.
Granin schreibt in seinem Buch: „Aber unser Krieg war anders – blutig, stümperhaft, Menschenleben wurden sinnlos geopfert, doch das zeigte man nicht, darüber schrieb man nicht. Mein Leutnant hasste die Deutschen und konnte das eigene Stabsgesindel nicht leiden. Im Kino zeigte man Generäle, die weder Schurken noch Säufer oder Dummköpfe waren. Er konnte es nicht begreifen, wie sie es geschafft hatten, trotz all der Fehler, all des Bluts, trotz Feigheit, Unwissenheit und Furunkeln in Ostpreußen einzumarschieren. – Die Armeeführung belohnte jene, die angriffen und ihre Leute opferten, ohne sie zu zählen, die nicht die eigenen Verluste meldeten, sondern die des Gegners, wie viele Deutsche sie außer Gefecht gesetzt hatten.“
Vielen sowjetischen Soldaten fiel es schwer sich einzugestehen, dass sie nicht nur das schlechthin Böse und einen Feind bekämpften, der ihre Heimat überfallen hatte, sondern dass sie zugleich ihr Leben für ein verbrecherisches Regime riskierten. So sagt eine Frau in einem Dorf zu Granin: „Du bist jung, wozu sollst du für diese verfluchte Staatsmacht sterben? – Ich hörte kaum zu, sie erzählte, wie ihr Bruder als Kulak enteignet und verbannt wurde, auch ihnen hatte man gedroht und sie als Halbkulaken abgestempelt, gut, dass der Krieg dazwischengekommen war, ihr Mann sollte aus der Armee entlassen werden, aber da kam schon die Gefallenenmeldung. Ihre Worte über die Staatsmacht verblüfften mich, so überzeugt klangen sie.“
In diesem Krieg kam es zu vielen tragischen Situationen, angesichts derer der heutige Siegeskult in Russland einfach nur traurig und peinlich wirkt.
Ukraine
Pawel Grigorjewitsch Karpenko aus Poltawa. Er meldete sich freiwillig zum Dienst in der Roten Armee und nahm an der berühmten Parade am 7. November 1941 in Moskau teil und marschierte von dort direkt an die Front. Er beendete den Krieg in Königsberg im Rang eines Majors. Nach dem Krieg Schuldirektor und Mathematiklehrer in Poltawa. Orden des Roten Sterns und des Vaterländischen Krieges 2. Grad, Medaille für die Verteidigung Moskaus.
Besonders lehrreich ist die Entwicklung der Erinnerungskultur derzeit in der Ukraine. Bekanntlich war das gesamte Land von der Deutschen Wehrmacht besetzt, nicht nur ein relativ kleiner Teil des Territoriums wie in Russland. Mindestens acht Millionen Kriegsopfer waren zu beklagen, darunter über fünf Millionen Zivilisten, Frauen und Kinder, „die im deutschen Vernichtungskrieg von der SS oder Wehrmacht ermordet wurden“, so Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Deutschland. „Diese schrecklichen Zahlen schließen auch 1,6 Millionen ukrainische Juden ein, die im beinahe vergessenen Holocaust durch Kugeln von den Nazis umgebracht wurden.“ Außerdem ungefähr 20.000 Sinti und Roma.
Der ukrainische Botschafter erinnerte im vorigen Jahr auch an die mehr als zwei Millionen Frauen und Männer, die als sogenannte Ostarbeiter aus der besetzten Ukraine ins Dritte Reich verschleppt wurden, „wo sie, als Untermenschen versklavt, schwerste Arbeit verrichten mussten und sehr oft daran starben“. Etwa 400.000 Ukrainer wurden als Häftlinge deutscher KZ-Lager erniedrigt und ausgebeutet, jeder zweite von ihnen wurde hingerichtet. Von etwa 40 Millionen Kriegstoten in Europa war jedes fünfte Opfer ein Ukrainer oder eine Ukrainerin, so der Botschafter.
Furchtbare Zahlen, unendliches Grauen. Mit Militärparaden und einem Siegeskult wird man dem nicht gerecht. Das hat man inzwischen in der Ukraine erkannt. Das Gedenken an das Ende des Krieges ist jetzt vor allem ein Anlass für Trauer, für innere Einkehr. So wird der 8. Mai als Tag der Erinnerung und der Versöhnung gefeiert. Sein Zeichen ist die rote Mohnblume. Da man aber unter furchtbaren Verlusten Nazi-Deutschland besiegte, begeht man am 9. Mai auch einen Tag des Sieges. Deutschland hatte die Kapitulation nach deutscher Zeit am 8. Mai unterschrieben, nach Moskauer Zeit am 9. Mai, so war dieser Tag in der Sowjetunion der Feiertag. Doch die Ukraine, wie auch andere osteuropäische Staaten, war lange nicht souverän, konnte nicht selbst entscheiden. Die Ukraine stand unter totalitärer Herrschaft und war lange aus der Diskussion über den Weltkrieg ausgeschlossen.
Eine aktuelle Studie der Stiftung „Demokratische Initiativen“ und des Internationalen Instituts für Soziologie in Kyjiw zeigt, dass für mehr als ein Drittel der Ukrainer der Tag der Erinnerung und Versöhnung mittlerweile ebenso wichtig ist wie der Tag des Sieges. Eine knappe Mehrheit stimmt der Aussage zu, dass die Sowjetunion zusammen mit Nazideutschland für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verantwortlich war.
Von den Deutschen, insbesondere von deren offiziellen Vertretern wünschen sich Ukrainer, dass sie sich an den russischen Geschichtsmanipulationen nicht beteiligen. Dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Pipeline Nord Stream 2 unter Berufung auf den Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion verteidigte, löste in der Ukraine große Irritation aus – als hätte dieser Überfall nur Russland gegolten und nicht auch der Ukraine, deren Sicherheit mit der Umgehung durch Nord Stream2 noch stärker gefährdet wird.. Dabei war die Eroberung der Ukraine ein zentrales Ziel für Hitler. Es ist es deshalb sinnlos, an den Zweiten Weltkrieg zu erinnern, ohne die Ukraine zu berücksichtigen, so der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder in einer Rede zur deutschen historischen Verantwortung gegenüber der Ukraine.
Wenn die Deutschen das Endes des Krieges und des Nationalsozialismus wirklich als Befreiung ansehen, sollten sie allen ihren Befreiern dankbar sein und deren Opfer achten und ehren. Es ist geschichtsvergessen und das falsche politische Signal, wenn EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Einladung des ukrainischen Präsidenten zur Feier des 30. Jahrestages der Unabhängigkeit des Landes durch ihren Büroleiter absagen ließ – wegen ihres „besonders vollen Terminkalenders“.
Es gibt also noch viele Gründe, aus der Geschichte zu lernen.
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