Ein ukrainisches Schicksal – Anastasia Gulejs Leben
Die Lebensgeschichte von Anastasia Gulej steht sinnbildlich für den Kampf der Ukraine für ihre Freiheit. Im Juli ist ihre Biografie als Buch erschienen. Von Anton Granovskyy
„Wofür hatte ich denn Stalin und Hitler überlebt? Sicher nicht, um vor diesem Putin zu kapitulieren.“ [1] S. 292 – Anastasia Gulej, März 2022 im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine.
Am 01. Juli 2022 erschien die von Maik Reichel verfasste Biografie von Anastasia Gulej. Gulej ist 1925 in der ukrainischen Region Poltawa geboren und heute 97 Jahre alt. Im März 2022 flüchtet sie aus der Ukraine nach Deutschland. Und das ist nicht ihre erste Flucht. Ihr Leben erscheint wie ein Spiegelbild für das Schicksal der Ukraine.
Mit gerade einmal sieben Jahren erlebt Anastasia Gulej den Holodomor, der aufgrund von Stalins angeordneter Zwangskollektivierung sowie folgenschweren Missernten in den Jahren 1931 und 1932 zum Hungerstod von schätzungsweise 3,9 Millionen Ukrainern und Ukrainerinnen führt. In den Jahren 1936 bis 1938, während der Zeit des Großen Terrors – einer ebenfalls von Stalin veranlassten Verfolgungskampagne – wird Anastasia Gulej Zeugin, wie zwei ihrer Onkel ins Gulag verschleppt werden, ihre Tante Nastja zur Zwangsarbeit in eine Ziegelsteinfabrik rekrutiert wird und ihr Geschichtslehrer während des Unterrichtes von Agenten des sowjetischen Inlandsgeheimdiensts (NKDW) abgeführt wird und für immer verschwindet.
Dann, am 22. Juni 1941 überfallen die Nationalsozialisten die Sowjetunion und erreichen etwa drei Monate später die Kreisstadt Pyrjatyn, die Heimat Anastasia Gulejs. Im Jahr 1943, mit gerade einmal 17 Jahren, wird Anastasia Gulej von deutschen Besatzern zwangsrekrutiert. Sie soll als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt werden.
„Ich war ja keine überzeugte Sowjetbürgerin, nein, wahrlich nicht, der Holodomor und die folgende harte Zeit der sowjetischen Bevormundung und Schreckensherrschaft haben mich geprägt. Aber ich konnte einfach nicht für die Deutschen arbeiten, gerade in dieser Zeit, als meine Brüder an der Front kämpften.“ [1] S. 65 – Anastasia Gulejs Gedanken über die bevorstehende Zwangsarbeit 1943.
Von Auschwitz-Birkenau nach Bergen-Belsen
Der Zwangsrekrutierung kann Anastasia Gulej nicht entgehen, doch auf dem Weg nach Deutschland gelingt ihr die Flucht. Ihre Freiheit bleibt jedoch nur von kurzer Dauer: Sie wird in Polen gefasst, gelangt in ein Gefängnis in Rzeszów und wird anschließend nach Tarnow versetzt. Von dort wird sie schließlich als politische Gefangene in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau verlegt. Bei ihrer Ankunft muss sie ihre Kleider gegen eine gestreifte Uniform austauschen, ihre Haare werden abrasiert und ihr wird die Nummer 61369 auf den linken Unterarm tätowiert. Anastasia Gulej wird 17 Monate in Auschwitz verbringen.
„[…] ob ich Schmerz empfand, verblasste angesichts der vollkommenen Entwürdigung. […] Du hast keinen Vornamen, keinen Nachnamen, du bist 61369.“ [1] S. 95 – Anastasia Gulej über die Ankunft und die Tätowierung in Auschwitz-Birkenau
Am 18. Januar 1945, kurz vor der Befreiung Auschwitz-Birkenaus, werden Anastasia Gulej und ihre Mithäftlinge evakuiert. Bei ‑20 Grad Kälte begeben sich tausende Gefangene auf einen zweitägigen Marsch – heute bekannt als „Todesmarsch“. Diejenigen, die zu schwach sind und nicht mithalten können, werden erschossen. Anastasia Gulej überlebt. Schließlich erreichen sie eine Bahnstation und müssen für drei Tage in offenen und vereisten Wagons weiterreisen – Wagons, die sonst für den Transport von Kohle verwendet werden. Im Konzentrationslager Buchenwald steigen sie dann in einen Viehwagon um. Dieser Zug bringt Anastasia Gulej nach Bergen-Belsen.
„Mehr als noch für Auschwitz galt für mich nun Dantes Spruch am Eingang zur Hölle: „Lasst die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.“ Das war für mich Bergen-Belsen: die Hölle. Schrecklicher als Auschwitz-Birkenau […]“ [1] S. 141 – Anastasia Gulej bei ihrer Ankunft in Bergen-Belsen 1945
Anastasia Gulej entgeht dem Tod nur haarscharf. Zeitgleich sterben Millionen unschuldiger Menschen an Krankheit, Kälte, Hunger und Missbrauch. So befindet sich zum Beispiel Anne Frank beinahe zur selben Zeit in Auschwitz-Birkenau und wird ebenfalls, nur einige Monate vor Anastasia Gulej, nach Bergen-Belsen versetzt. Anne Frank überlebt nicht; sie verfällt den grausamen Umständen Bergen-Belsens und stirbt nur einige Monate vor der Befreiung des Konzentrationslagers durch britische Truppen am 15. April 1945.
„Es war keine Befreiung. Es war eine Rettung. […] Zu dieser Zeit waren wir nur noch lebende Skelette, mehr tot als lebendig. […] Ich empfand keine Freude, keine Trauer und auch keinen Schmerz – ich fühlte mich tot.“ [1] S. 161 – Anastasia Gulej zu ihrer ‚Rettung‘ in Bergen-Belsens am 15. April 1945.
Nach dem Krieg – vor dem Krieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt Anastasia Gulej in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik zurück und lebt ein erfülltes Leben. Sie studiert, heiratet, bekommt drei Kinder und baut gemeinsam mit ihrem Mann ein Haus in Kyjiw. Sie erlebt den Zusammenfall der Sowjetrepublik, erlebt wie die Ukraine zu einem souveränen Staat wird, erlebt die Orangene Revolution 2007 und den Euromaidan 2014. Als Zeitzeugin bereist sie im hohen Alter ehemalige Konzentrationslager und hält Vorträge, auch in Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen. Anastasia Gulej trägt ihre Geschichte in die Welt.
Dann, am 24. Februar 2022, überrollt der Krieg Anastasia Gulejs Leben und die Ukraine erneut: russische Truppen überfallen die Ukraine und so ist es diesmal Putin, der Anastasia Gulej den so verdienten Frieden nimmt. Im März 2022 flüchtet Anastasia Gulej über Polen nach Deutschland.
Der Preis für die Freiheit der Ukraine ist hoch: Tausende Ukrainer und Ukrainerinnen lassen ihr Leben im Krieg mit Russland, Energiepreise explodieren und die Angst vor einer Rezession und einem kalten Winter steigt. Ja, der Preis für Freiheit ist hoch, aber was kostet Unterdrückung, Fremdherrschaft und Tyrannei? Anastasia Gulej und die Ukraine kennen den Preis der Alternative, sie haben ihn durchlebt, ihn mit Blut bezahlt und haben ihre Entscheidung getroffen – 2007 in der Orangen Revolution, 2014 auf dem Euromaidan und heute im Krieg mit Russland. Der Wille der Ukrainer und Ukrainerinnen scheint größer denn je.
Die Zitate in diesem Artikel stammen aus der Biografie „Poltawa, Auschwitz, Bergen-Belsen, Kyjiw. Die Lebensgeschichte der Anastasia Gulej.“, die 2022 im Janos Stekovics Verlag erschienen ist. Die Biografie ist aus der Ich-Perspektive verfasst, gleichwohl sie nicht von Anastasia Gulej selbst geschrieben wurde, sondern von Maik Reichel aus der Ich-Perspektive nacherzählt wird. Maik Reichel kennt Anastasia Gulej seit 2014 und empfing sie bei ihrer Flucht nach Deutschland nach dem Einfall Russlands in der Ukraine.
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