81 Jahre nach dem „Unternehmen Barbarossa“
Die Ukraine sollte in ihrem Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung auch aus historischen Gründen unterstützt werden. Doch die politische Elite Deutschlands ist immer noch zu sehr auf Russland fixiert. Von Jan Claas Behrends
Anmerkung der Redaktion: dieser Artikel wurde von „Ukraine verstehen“ zuerst am 22. Juni 2021 veröffentlicht.
In der deutschen Öffentlichkeit wird der Zweite Weltkrieg in Osteuropa, insbesondere der Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941, häufig noch als deutsch-russische Angelegenheit behandelt. Diese Verengung zeigte sich zuletzt in der Entscheidung des Bundespräsidenten, sein Gedenken an diesen Jahrestag nach Karlshorst in das Deutsch-Russische Museum zu verlegen. [Marieluise Beck kritisierte vor allem die Wahl des Ortes im Deutschlandfunk. – Anm. d. Red.] Tatsächlich ist diese Herangehensweise nicht nur politisch kurzsichtig, sondern sie wird auch dem historischen Geschehen nicht gerecht. Der Angriff des nationalsozialistischen Deutschland galt schließlich nicht nur Russland, das sich heute als einzig legitimer Nachfolgestaat der UdSSR inszeniert, sondern der gesamten Sowjetunion. Allein aus geographischen Gründen waren 1941 zunächst Belarus, das Baltikum und die Ukraine vom deutschen Einmarsch betroffen.
Doch für die Ukraine hatte der Zweite Weltkrieg bereits 1939 begonnen. Auf den Hitler-Stalin-Pakt folgte der Kollaps des polnischen Staates – für Millionen von Ukrainern wurde das repressive Regime in Polen durch die totale Herrschaft Stalins ersetzt. Eine erste Welle von Verfolgung und Deportation folgte unmittelbar dem Vorrücken der Roten Armee. Obwohl sich das Gros der Repressionen gegen Polen und Juden richtete, die massenhaft enteignet wurden, waren bald auch ukrainische Aktivisten und Kirchenvertreter von der Verfolgung durch sowjetische Behörden betroffen. Zugleich kam es jedoch – innerhalb der engen Grenzen des sowjetischen Systems – in der Westukraine zu einem Aufschwung ukrainischer Kultur und Wissenschaft. Auch hier wurden die Ukrainer nun zur Titularnation einer Sowjetrepublik und erhielten so einige Privilegien. Doch wegen der deutschen Aggression dauerte die Sowjetisierung des ukrainischen Westens nicht einmal zwei Jahre. Noch auf dem Rückzug vor den Deutschen richtete der NKWD seine letzten Massaker in der Ukraine an.
Nation ohne Staat – und deshalb besonders wehrlos
Mit dem Einmarsch der Wehrmacht und der Einsatzgruppen der SS im Juni 1941 wütete der nationalsozialistische Vernichtungskrieg auf dem Territorium der Ukrainischen SSR. Dass die deutschen Soldaten an vielen Orten – insbesondere im Westen der Ukraine – von der Bevölkerung zunächst als Befreier begrüßt wurden, änderte wenig am Auftreten der Wehrmacht. Mit besonderer Brutalität führten die Einsatzgruppen in der Ukraine den Genozid an der jüdischen Bevölkerung durch. Das Massaker in Babyn Jar bei Kyjiw am 28./29. September 1941 steht bis in die Gegenwart für den „Holocaust durch Kugeln“, dem die ukrainischen Juden – Frauen, Männer und Kinder – zum Opfer fielen. Der Massenmord an den Juden war integraler Bestandteil des Vernichtungskrieges, mit dem NS-Deutschland die Sowjetunion überzog.
Die ukrainische Bevölkerung befand sich ab 1941 – so beschreibt es der Historiker Orest Subtelny – in der schwierigen Lage einer Nation ohne Staat. Es war eine „No-win“-Situation. Ukrainerinnen und Ukrainer hatten lediglich die Wahl zwischen Widerstand oder Kollaboration mit einem der beiden totalitären Regime, die sich auf ihrem Boden bekämpften. Deshalb blieben die politischen Loyalitäten unklarer als im Westen Europas, wo die Zusammenarbeit mit den Deutschen in der Regel als nationaler Verrat galt. Ukrainer fanden sich auf allen Seiten des Konfliktes; ihre nationale Widerstandsbewegung OUN biederte sich zunächst bei der Wehrmacht an, doch ihre Staatsbildung wurde zurückgewiesen und schließlich kämpfte sie gegen Deutsche, Sowjets und Polen. Die Deutschen behandelten die Millionen von sowjetischen Kriegsgefangenen, zu denen auch Ukrainer gehörten, so miserabel, dass mehr als die Hälfte von ihnen nicht überlebten. Erich Koch, von 1941 bis 1944 Reichskommissar in der Ukraine, war ein alter Nationalsozialist, der die Versklavung der Zivilbevölkerung vorantrieb, unterstützte und umsetzte. Koch bemühte sich rücksichtslos um die Rekrutierung von Zwangsarbeitern („Ostarbeiter“) aus der Ukraine, die im Reich eingesetzt wurden. Bei Kriegsende leisteten zwei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer Sklavenarbeit in Deutschland.
Da die gesamte Ukraine während des Krieges von 1941–44 besetzt war, trafen sie die Verheerungen dieser Jahre besonders stark. Keine Stadt, kein Dorf, keine Familie war nicht betroffen. Flucht, Deportation und Massenmord prägten diese Jahre auch fernab der Front. Die Ukraine stand im Zentrum des brutalsten Krieges des vergangenen Jahrhunderts, der zugleich ein auch ukrainisch-polnischer und ein Bürgerkrieg war. Die Partisanen und irregulären Kämpfer ließen die Gewalt auch im rückwärtigen Raum eskalieren. Auch jenseits des Ringens zwischen Hitler und Stalin wurde die Ukraine so zu einem Gewaltraum, in dem insbesondere die Zivilbevölkerung willkürlicher Gewaltanwendung ausgesetzt wurde.
Auch nach dem Ende des Krieges lebte das ukrainische Nationalbewusstsein fort
Das Kriegsende bedeute die Zugehörigkeit der gesamten Ukraine – inklusive der von 1921–1939 polnischen Gebiete – zur UdSSR. Nach dem Tod Stalins wurde eine zivilere Entwicklung des Landes möglich. Insbesondere der Westen der Ukraine behauptete seine Sonderstellung innerhalb der Sowjetunion – hier dauerte die kommunistische Diktatur nur vier Jahrzehnte. Trotz fortschreitender Russifizierung gelang es der sowjetischen Herrschaft nicht, das ukrainische Nationalbewusstsein vollständig zu unterdrücken. Während der Perestroika begannen sich die ukrainischen Intellektuellen wieder zu artikulieren und ihre eigene Sicht auf die Geschichte einzufordern. Dazu gehörte stets auch eine spezifisch ukrainische Perspektive auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges wird von Lwiw oder Kyjiw aus anders erzählt als aus Moskauer Sicht. Die Peripherie des Imperiums brachte einen eigenen Blick hervor.
Im 20. Jahrhundert war die Ukraine von 1905 bis in die 1950er Jahre immer wieder Schauplatz von Revolution, Krieg, Bürgerkrieg und Massengewalt. Nach 1945 setzte sich die Gewalt noch in den Partisanenkriegen gegen die Sowjetunion fort. Umso bemerkenswerter ist ihre zivile Entwicklung nach dem Ende der Sowjetunion 1991 – als einzige der großen slawischen Republiken fanden in der Ukraine freie, kompetitive Wahlen statt. Vor dem Hintergrund ihrer jüngsten Geschichte ist die Ukraine – bei allen Defiziten – eine demokratische success story.
Historische Verantwortung Deutschlands
In der Bundesrepublik wurde die Verantwortung für den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg in Osteuropa lange geleugnet. Dies änderte sich erst in den 1990er Jahren mit den Wehrmachtsausstellungen und der Debatte über die Verstrickung akademischer Eliten in den Genozid. Doch nach dem Ende der Sowjetunion waren die deutsche Öffentlichkeit und die deutsche Politik primär auf die bilaterale Beziehung mit Russland fixiert. Die unterschiedlichen Geschichten dieses Krieges, die Gewalterfahrungen im Baltikum, in Belarus und eben auch in der Ukraine traten vergleichsweise in den Hintergrund. Unter Putin beansprucht Russland eine Art erinnerungspolitischen Alleinvertretungsanspruch und vertritt aggressiv seine Interessen, weil sich das Regime durch den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ legitimiert. Die geschichtspolitische Entwicklung in der Ukraine ist dagegen weitaus widersprüchlicher, ambivalenter und offener. Leider wird dies in Deutschland und Europa kaum wahrgenommen. Wir schauen lieber auf den dröhnenden Triumphalismus aus Moskau, der keinen Raum für Ambivalenzen kennt.
Offen bleibt bis heute die politische Frage, inwieweit sich Deutschland wegen seiner historischen Verantwortung für die Ukraine stärker engagieren sollte – so wie es die Bundesrepublik seit Jahrzehnten für Israel tut. Die Regierungen von Angela Merkel haben dies durchweg verneint und sich stattdessen mit Nord Stream 2 entschlossen, Russland zu unterstützen, dessen Aggression gegen die Ukraine von Berlin zwar nicht gebilligt, aber auch nicht entschieden bekämpft wird. Die Forderung, die Ukraine in ihrem Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung zu unterstützen, lässt sich durchaus historisch begründen. Doch dazu müsste sich die politische Elite Deutschlands zunächst von ihrer Fixierung auf Moskau, von ihrer nationalpazifistischen Grundhaltung lösen und die Realitäten in Osteuropa akzeptieren. Dort ist der Kampf zwischen Nation und Imperium noch nicht entschieden und Russland ist eine revisionistische Macht.
Auch Deutschland steht nach Jahren politischer Lethargie vor Veränderungen. Vielleicht bieten das Ende der Ära Merkel und die Wahlen im September auch eine Chance für die Ukraine?
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