Der Hitler-Stalin-Pakt: Eine ukrainische Perspektive
Der Osteuropahistoriker Jan Claas Behrends berichtet zum 80. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes über die ukrainische Perspektive auf den Pakt der zwei Diktatoren.
Dieser Text erschien zum 80. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes 2019.
In diesen Tagen jährt sich zum 80. Mal der Nichtangriffspakt zwischen Stalins Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland. Der Pakt der Diktatoren steht am Anfang des Zweiten Weltkriegs, der mit der gemeinsamen Aggression gegen Polen und der Aufteilung Osteuropas in imperiale Einflusssphären begann, die im geheimen Zusatzprotokoll des Vertrages festgehalten waren. Damit zerstörten das bolschewistische Russland und das „Dritte Reich“ gemeinsam die nationalstaatliche Ordnung, die nach 1918 als Konsequenz der Niederlage der imperialen Mächte im Osten Europas entstanden war. Nur zwanzig Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sah es aus, als hätten die revanchistischen Mächte die Oberhand gewonnen: Polen und die baltischen Staaten bezahlten das deutsch-sowjetische Bündnis mit ihrer Souveränität.
In diesen Tagen versucht das russische Außenministerium beharrlich, den Vertrag vom 23. August 1939 zu relativieren und zu normalisieren. Eine Argumentation des Kreml lautet dabei, dass Moskau aus Sicherheitsgründen gezwungen gewesen sei, den Pakt zu unterzeichnen. Die andere Strategie fußt auf der Behauptung, der Pakt sei ein Vertrag wie jeder andere gewesen: andere Staaten, wie etwa auch Polen 1934, hätten auch Verträge mit Hitler geschlossen. Diese beiden Argumente sind unzutreffend, da die entscheidende Komponente des Paktes das geheime Zusatzprotokoll war, das aus dem offiziellen „Nichtangriffspakt“ nicht nur ein Bündnis, sondern einen Angriffspakt gegen Polen und das Baltikum machte. Sowohl Warschau als auch die baltischen Staaten, deren Bevölkerung bereits 1989 mit einer beeindruckenden Menschenkette auf das historische Unrecht des Paktes verwies, wenden sich deshalb mit Recht gegen die russischen Versuche, die deutsch-sowjetische Entente des Jahres 1939 zu bestreiten. Für Moskau hingegen steht die Erzählung vom „Großen Vaterländischen Krieg“ und der „Befreiung Europas“ auf dem Spiel, die heute russische Staatlichkeit legitimiert.
Der Fokus auf Russland, Polen, das Baltikum und den Kriegsbeginn am 1. September 1939 verstellt den Blick darauf, dass auch Länder wie Rumänien, die Ukraine, Weißrussland oder Moldawien bis in die Gegenwart von den Folgen des Hitler-Stalin-Paktes betroffen sind. Dies gilt in besonderem Maße für die Ukraine, deren heutige Gestalt eine direkte Konsequenz der Zäsur von 1939 ist.
Im Unterschied zu Polen war es der Ukraine nach dem Zerfall des Zarenreiches nicht gelungen, ihre kurzlebige Unabhängigkeit im russischen Bürgerkrieg zu behaupten. Galizien ging im Frieden von Riga 1921 an Polen, die östliche Ukraine wurde Sowjetrepublik. Ukrainer lebten somit entweder als Minderheit im polnischen Nationalstaat oder als Titularnation in der Sowjetunion, wo die Entscheidungen in Moskau und nicht in Kyjiw getroffen wurden. Bereits seit den 1920er Jahren versuchte die sowjetische Politik, die ukrainische Minderheit in Polen zur Destabilisierung des Landes zu nutzen. Doch auf die kurze Blüte ukrainischer Kultur in der Sowjetunion folgte nicht nur die Russifizierung unter Stalin, sondern der Holodomor in Folge der Kollektivierung und der „Große Terror“ von 1937/38. Trotz aller Propaganda blieb die Strahlkraft der sowjetischen Ukraine auf die Diaspora deshalb beschränkt. Im Polen der Zwischenkriegszeit waren die Ukrainer als nationale Minderheit geduldet, doch sie standen am Rande der Gesellschaft.
Die Ukraine, die als Staat 1939 nicht existierte, wird gleichwohl bis in die Gegenwart von den Entscheidungen dieses Jahres geprägt. Obwohl sie nur eine Episode in den Jahrzehnten des Terrors und der Gewalt (1905–1953) darstellt, wurden durch die Sowjetisierung Galiziens in den Jahren 1939–1941 entscheidende Weichen für das gesamte Land gestellt. Am 17. September 1939 überschritten sowjetische Truppen die Grenze und fielen damit der polnischen Armee in den Rücken, die im Westen im Kampf gegen die Wehrmacht stand. Die Begründung für den Einmarsch war nicht die revolutionäre Erhebung gegen die „polnischen Pane“, sondern die nationale Befreiung der Ukraine: Es sei Aufgabe der Roten Armee, so hieß es im Tagesbefehl, die weitere „Knechtung“ der „weißrussischen und ukrainischen Brüder“ zu verhindern. Stalins Propagandist Emel‘jan Jaroslavskij schrieb in der Pravda, es gehe um „Hilfe für die gleichblütigen [edinokrovnij] Ukrainer und Weißrussen, die in Polen wohnen.“ Die Begründung des sowjetischen Einmarsches befand sich im Einklang mit dem völkischen Denken der Epoche.
Nach den Revolutionen, dem Bürgerkrieg und dem Holodomor begann 1939/40 eine weitere Phase der Massengewalt auf dem Boden der heutigen Ukraine. Die Sowjetisierung der westlichen Ukraine war zugleich eine ethnische Säuberung, die vor allem, aber keineswegs ausschließlich, die polnische Bevölkerung traf. Der polnische Staat wurde zerschlagen und seine Repräsentanten verloren ihre Ämter, ihren Besitz und häufig auch ihre Freiheit oder ihr Leben. So begann seit dem Herbst 1939 die gewaltsame Ukrainisierung dieser ethnisch gemischten Gebiete. Durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 eskalierte die Gewalt nochmals. Die unter der anschließenden deutschen Besatzung im Genozid an der jüdischen Bevölkerung gipfelte. Omer Bartov hat in seiner beeindruckenden Studie über die galizische Kleinstadt Buczacz/ Buchach eindringlich beschrieben, wie diese Kombination aus Sowjetisierung, Besatzung. Shoa und seit 1944 erneuter Sowjetisierung eine gänzlich neue Gesellschaft formten. Jene Multiethnizität, die über Jahrhunderte das Land geprägt hatte, ging aufgrund des Mordes, der Vertreibung und der Deportation der Minderheiten in weiten Teilen des Landes verloren. Insbesondere die Städte und Kleinstädte der Ukraine wurden neu bevölkert. Auf lange Zeit brannte sich die Erfahrung von Vernichtungskrieg und Völkermord ins Gedächtnis ein. Nach dem Ende des Krieges gab es kein Zurück mehr in die Welt von 1939 – sie hatte aufgehört zu existieren.
Die geopolitischen Realitäten, die im August 1939 geschaffen wurden, hatten nach der Niederlage Deutschlands Bestand. Stalin behielt die ostpolnischen Gebiete (die kresy) und das Baltikum. Dies veränderte auch die Nachkriegs-Ukraine: Sie bestand nun aus einem größeren östlichen Teil, der bereits von Beginn an zur Sowjetunion gehört hatte und aus dem galizischen Westen, in dem trotz aller Katastrophen das Erbe der k.u.k. Zeit und der polnischen Periode sichtbar blieb. Ähnlich wie das Baltikum im Norden war Galizien in vieler Hinsicht „europäischer“ als der Rest der UdSSR und wurde auch so wahrgenommen. Es gab eine kulturelle Differenz zwischen den Landesteilen, die den Terror der dreißiger Jahre durchlitten hatten und den Gebieten, die erst seit 1939 (mit der Unterbrechung der deutschen Besatzung) zur UdSSR gehörten. Die Differenz zwischen der sowjetischen und der ostmitteleuropäischen Kommunismuserfahrung verläuft mitten durch die Ukraine. Darin unterscheidet sich das Land von Russland, den kaukasischen Staaten oder Zentralasien.
Doch mindestens so dramatisch wie Krieg und Massengewalt, die auf den Hitler-Stalin-Pakt folgten, ist die tieferliegende geopolitische Frage, die 1918, 1939, 1945 und 1989 jeweils anders entschieden wurde: Soll Osteuropa, wie der Westen des Kontinents, von Nationalstaaten geprägt sein oder ist es ein imperialer Raum, in dem nur die Großmächte wirklich souverän sind? Das Jahr 1939 markierte nach nur zwei Jahrzehnten die Rückkehr zur imperialen Ordnung, die erst im Zuge des Umbruchs von 1989/91 ein zweites Mal zusammenbrach. Mit den Kriegen gegen Georgien 2008 und gegen die Ukraine seit 2014 hat der Kreml gezeigt, dass er bereit ist, seine imperialen Ambitionen wieder mit Gewalt durchzusetzen. Wie im Herbst 1939 wird wieder mit dem vermeintlichen Schutz bedrohter Minderheiten argumentiert, um die Intervention in fremden Staaten zu legitimieren. Diese Kontinuität imperialen Denkens ist es, die den Frieden in Europa bedroht.
Im Jahr 1939 stand Polen im Fokus des imperialen roll back, seit 2014 ist es nun die Ukraine. Im Unterschied zur Welt vor 80 Jahren führte das imperiale Denken Moskau in der Gegenwart jedoch nicht ins Bündnis, sondern in die Isolation. Dennoch sind das Hegemoniestreben des Kremls und seine Entschlossenheit, zum Erreichen der eigenen Ziele auch Gewalt einzusetzen, um Grenzen zu verändern, eine Realität, der sich die Europäer erneut stellen müssen. Die Ordnung im Osten des Kontinents bleibt fragil und das Erbe von 1939 prägt unsere Zeit.
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