Der Angriffs­krieg gegen die Ukraine – Rea­li­tät vs.
rus­si­sche Propaganda

„Frie­dens­demo – Auf­stand fuer Frieden“ am 25.02.2023 /​ Foto: Imago Images

Die west­li­chen demo­kra­ti­schen Länder ver­ur­tei­len den Angriffs­krieg Russ­lands auf die Ukraine. Es gibt welt­weit jedoch auch Unter­stüt­zer Putins. Ihre Motive sind viel­fäl­tig. Was sie eint: Sie sehen die Ukraine als eine Nation, die es eigent­lich gar nicht gibt.

Gegen­wär­tig erleben wir eine große Welle der Soli­da­ri­sie­rung mit der Ukraine. Natio­nal und inter­na­tio­nal hat die Unter­stüt­zung für das von Russ­land über­fal­lene Land – so scheint es – einen neuen Höhe­punkt erreicht. Die Mün­che­ner Sicher­heits­kon­fe­renz demons­trierte im Februar 2023 die Geschlos­sen­heit des Westens bei der mili­tä­ri­schen Unter­stüt­zung der Ukraine. In einer Reso­lu­tion der Voll­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen ver­ur­teil­ten am 23. Februar 2023 von 193 Mit­glieds­staa­ten 141 die rus­si­sche Aggres­sion – ebenso viele wie vor einem Jahr, unmit­tel­bar nach Kriegsbeginn.

In der Tat, die Rea­li­tät erscheint ein­deu­tig: Russ­land mar­schierte am 24. Februar 2022 mit einer Armee von mehr als 100.000 Mann in die Ukraine ein, deren Sou­ve­rä­ni­tät und Grenzen es seit den 1990er Jahren in zahl­rei­chen Ver­trä­gen völ­ker­recht­lich aner­kannt hatte. Nach der Anne­xion der Krim 2014 besetzte Russ­land nun auch die Regio­nen Donezk und Luhansk, Cherson und Sapo­rischschja und for­derte den Sturz der Zen­tral­re­gie­rung in Kyjiw. Ins­be­son­dere die Region Donezk liegt derzeit in Schutt und Asche. Zahl­rei­che Kriegs­ver­bre­chen der rus­si­schen Sol­da­teska sind dokumentiert.

Die Grenzen der Solidarität

Kann es ange­sichts dieser Tat­sa­chen ver­schie­dene Mei­nun­gen und unter­schied­li­che Bewer­tun­gen geben? Offen­sicht­lich ja, denn am Rand der deut­schen Gesell­schaft for­miert sich eine „Frie­dens­be­we­gung“, die der Ukraine das Recht bestrei­tet, sich mili­tä­risch zur Wehr zu setzen und ein Ende der west­li­chen Waf­fen­hilfe für die Ukraine ver­langt. Der unga­ri­sche Minis­ter­prä­si­dent Orban nennt die Ukraine ein „Nie­mands­land“. Und die bevöl­ke­rungs­reichs­ten Staaten der Erde, China und Indien, ver­wei­gern der Ukraine die Soli­da­ri­tät. Das Gleiche gilt für Latein­ame­rika und manche Staaten in Afrika.

Was sind die Motive?

Es gibt sehr unter­schied­li­che Motive und Inter­es­sen; hier seien nur einige stich­wort­ar­tig genannt. In Deutsch­land wirkt die jahr­zehn­te­lang kul­ti­vierte Frie­dens­men­ta­li­tät nach, die sich auf einen breiten gesell­schaft­li­chen Konsens stützen konnte, und aus dem Glauben bestand, man brauche nur „Schwer­ter zu Pflug­scha­ren“ umzu­schmie­den, dann werde es keine Kriege mehr geben. Das verband sich mit dem irra­tio­na­len Glauben an die über­ra­gende Bedeu­tung Russ­lands für unsere Ver­gan­gen­heit und Zukunft sowie der Über­zeu­gung, das post­kom­mu­nis­ti­sche Russ­land sei ein euro­päi­scher Partner wie Frank­reich oder Italien.

Die Ukraine exis­tierte in diesem poli­ti­schen Welt­bild gar nicht. Glei­ches gilt wohl auch für viele Länder Latein­ame­ri­kas und Afrikas, wo Russ­land als Groß­macht durch­aus wahr­ge­nom­men wurde, die Ukraine aber ein weit­ge­hend unbe­kann­tes Land war. Für die Länder des glo­ba­len Südens stehen öko­no­mi­sche Inter­es­sen im Vor­der­grund. Manche Länder, vorab China, machen gute Geschäfte mit den west­li­chen Sank­tio­nen gegen Russ­land, die sie nicht nur ableh­nen, sondern aus denen sie zusätz­li­chen Profit ziehen, indem sie sich als alter­na­tive Han­dels­part­ner anbieten.

Etwas anderes kommt hinzu: Die Ukraine sieht sich als Teil der west­li­chen Wer­te­ge­mein­schaft. Sie kämpft für ihre Inte­gra­tion in die west­li­chen Gemein­schaf­ten. Die meisten Länder des glo­ba­len Südens teilen diese Zukunfts­vi­sion kei­nes­wegs. Sie sehen sich – und das ver­bin­det sie mit Russ­land – als Zivi­li­sa­tio­nen außer­halb oder im Gegen­satz zur west­li­chen, libe­ra­len und demo­kra­ti­schen Tra­di­tion. Die zen­trale Rolle der Ver­ei­nig­ten Staaten in der gegen­wär­ti­gen Soli­dar­ge­mein­schaft für die Ukraine dürfte in vielen Ländern die Distanz ver­grö­ßern. Auch in Deutsch­land funk­tio­niert der anti­ame­ri­ka­ni­sche Reflex in manchen gesell­schaft­li­chen Schich­ten zuverlässig.

Die rus­si­sche „Wirk­lich­keit“

Aber nir­gendwo trifft die Rea­li­tät des rus­si­schen Angriffs­krie­ges gegen die Ukraine auf der­ar­tige Ableh­nung, ja Ver­wei­ge­rung, wie in Russ­land. 75 Prozent der Bevöl­ke­rung Russ­lands unter­stüt­zen laut Mei­nungs­um­fra­gen den Krieg, viel­mehr die angeb­li­che „mili­tä­ri­sche Spe­zi­al­ope­ra­tion“, die von der Pro­pa­ganda als Notwehr gegen einen Angriff der Ukraine und des Westens auf Russ­land dar­ge­stellt wird. Russ­land habe nicht die Ukraine ange­grif­fen, sondern umgekehrt.

Hin­ter­grund dieser Pro­pa­gan­da­lüge ist die jahr­hun­der­te­alte Wei­ge­rung Russ­lands, die Iden­ti­tät der Ukraine und der Ukrai­ner anzuerkennen.

Die „rus­si­sche Welt“ hat keine Grenzen

Ihre zeit­ge­nös­si­sche Aus­for­mung fand diese Iden­ti­täts­ver­wei­ge­rung in der ideo­lo­gi­schen Kon­struk­tion von der „rus­si­schen Welt“. Diese „rus­si­sche Welt“ ist ver­meint­lich überall dort, wo Russen und die rus­si­sche Kultur oder Macht in Ver­gan­gen­heit oder Gegen­wart präsent waren oder sind. Inso­weit gehört das gesamte Ter­ri­to­rium der ehe­ma­li­gen Sowjet­union ebenso zur „rus­si­schen Welt“ wie alle Rus­sisch­spra­chi­gen auf der ganzen Erde, auch bei­spiels­weise in Berlin. Für eine selb­stän­dige Ukraine ist kein Raum in der „rus­si­schen Welt“. Die „rus­si­sche Welt“ hat keine Grenzen, ebenso wie Russ­land – nach Meinung von Putin – keine Grenzen hat. Völ­ker­recht­li­che Fest­le­gun­gen treten bei Bedarf jeder­zeit zurück hinter diese ideo­lo­gi­schen Pos­tu­late, die weit hin­aus­ge­hen über tra­di­tio­nelle Impe­ria­lis­mus-Vor­stel­lun­gen des 19. Jahr­hun­derts. Der Begriff „rus­si­sche Welt“ hat also keinen juris­ti­schen Inhalt, er ist eine ideo­lo­gisch-poli­ti­sche Konstruktion.

Das Kon­strukt der „all­rus­si­schen Nation“

Die Ideo­lo­gie von der „rus­si­schen Welt“ fügt sich nahtlos ein in die Tra­di­tion viel älterer Formen der Iden­ti­täts­ver­wei­ge­rung. Gelehrte Mönche des Kyjiwer Höh­len­klos­ters ent­wi­ckel­ten im 17. Jahr­hun­dert die Vor­stel­lung von einer ein­heit­li­chen Sakral­ge­mein­schaft aller Ost­sla­wen. Dies war der Aus­gangs­punkt für das Kon­strukt der „all­rus­si­schen Nation“, die unter rus­si­scher Führung die soge­nann­ten Klein­rus­sen, Weiß­rus­sen und Groß­rus­sen zu einer ein­heit­li­chen Nation ver­ei­nigt. Dieses Kon­strukt wurde im 19. Jahr­hun­dert zur Grund­lage des staat­li­chen Selbst­ver­ständ­nis­ses des Zaren­reichs. Die Ukrai­ner oder „Klein­rus­sen“ ver­schwan­den also als eigen­stän­dige Gemein­schaft aus der Geschichte, denn sie waren ledig­lich ein Teil der rus­si­schen Nation.

Putin wird nicht müde, die post­kom­mu­nis­ti­sche Staats­ideo­lo­gie aufs engste mit dieser zari­schen Tra­di­tion und dem rus­si­schen Selbst­ver­ständ­nis des 19. Jahr­hun­derts zu ver­bin­den. Ukrai­ner und Russen seien ein Volk, lautet seine Leit­for­mel, die er im Vorfeld des Kriegs und zur Recht­fer­ti­gung der Aggres­sion gegen die selb­stän­dige Ukraine breit entfaltete.

Die rus­si­sche Kriegs­pro­pa­ganda stellt die Rea­li­tät auf den Kopf

Eine von Russ­land unab­hän­gige Ukraine ist in Putins Sprache ein „Anti­russ­land“. Vor diesem Hin­ter­grund der Iden­ti­täts­ver­wei­ge­rung für eine selb­stän­dige Ukraine ent­fal­tet sich gegen­wär­tig die rus­si­sche Kriegs­pro­pa­ganda, die die Rea­li­tät auf den Kopf stellt. Auch in seiner Bot­schaft an beide Kammern des rus­si­schen Par­la­ments vom 21. Februar 2023 wie­der­holte Putin: „Sie [d. h. die USA und die Nato, Anmer­kung der Redak­tion] haben den Krieg begon­nen, und wir wenden Gewalt an, um ihn zu beenden“. „Wir ver­tei­di­gen … unser eigenes Haus.“ Schon seit dem 19. Jahr­hun­dert seien „jene his­to­ri­schen Ter­ri­to­rien, die heute Ukraine heißen, unserem Land geraubt“ worden. Mit anderen Worten, Russ­land stelle die his­to­ri­sche Gerech­tig­keit wieder her, wenn es das „neo­na­zis­ti­sche Regime, das in der Ukraine seit dem Staats­streich von 2014 ent­stan­den ist“, liqui­diere.

Immer wieder begeg­net man in der rus­si­schen Pro­pa­ganda dem Phä­no­men der Ver­dre­hung der Rea­li­tät. Es geht nicht um Nuancen oder Akzent­ver­schie­bun­gen, sondern um die brutale Ver­keh­rung in das Gegenteil.

Portrait von Simon

Prof. Gerhard Simon ist einer der renom­mier­tes­ten Ukraine-Exper­ten in Deutschland..

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