Ein Mord als Spiegelbild der Justizreform?
Der Mord an einer Anwältin zu Jahresbeginn zeigt den Reformbedarf der Justiz auf und sollte ein Weckruf sein, dringende Reformen, wie die Schaffung des unabhängigen Antikorruptionsgerichts, umzusetzen.
Am 1. Januar 2018 fand man die Leiche der Menschenrechtsanwältin Iryna Nozdrowska in einem Fluss in einer Kleinstadt nicht weit von Kiew. Nozdrowska war in der Öffentlichkeit als unermüdliche Anwältin bekannt geworden, die Gerechtigkeit für den Tod ihrer Schwester einforderte. Diese war zwar zwei Jahre zuvor von einem betrunkenen Autofahrer – dem Neffen eines Richters – überfahren worden.
Dieser Fall ist ein Paradebeispiel für das dysfunktionale ukrainische Justizsystem: Wenn man mit einem Richter, Staatsanwalt oder Politiker verwandt ist, kann man so ziemlich alles machen und kommt meist um eine Strafe herum.
Das Vertrauen der Bevölkerung in das ukrainische Rechtssystem ist erschreckend niedrig
Aber dieses Mal lief es zunächst anders. Ihre Hartnäckigkeit half Iryna Nozdrowska, den Fahrer des Unfallwagens hinter Gitter zu bringen. Dafür erhielt sie erst Morddrohungen und wurde schließlich erstochen.
Die Geschichte hätte ein Weckruf sein sollen für die politischen Eliten, die es versäumt hatten, effektive Justizreformen umzusetzen. Statt Versäumnisse einzugestehen, diffamierte Generalstaatsanwalt Luzenko die nach dem Mord immer lauter werdenden Proteste aus der Öffentlichkeit lieber als „künstliche, politisierte Hysterie”.
Schwieriger Reformprozess
Das Vertrauen der Bevölkerung in das ukrainische Rechtssystem ist erschreckend niedrig – nur 0,5 Prozent der Menschen vertrauen den Gerichten ihres Landes uneingeschränkt.
Im Juni 2016, nach dem gescheiterten Versuch, die vorhandenen Gerichte und Staatsanwaltschaften umzustrukturieren, beschloss das ukrainische Parlament eine umfassende Justizreform, die eine Verfassungsänderung vorsah. Durch die neuen Gesetze sollten die Gerichte politisch unabhängiger werden und einer stärkeren öffentlichen Rechenschaftspflicht unterliegen. Die Reform ging sogar so weit, dass ein vollkommen neuer Oberster Gerichtshof geschaffen wurde, der vier alte Kassationsgerichte ersetzte, die zum Synonym für Korruption und Missbrauch geworden waren.
Leider wichen die Ergebnisse dramatisch von dem ab, was versprochen worden war. Obwohl neue Regeln zur Berufung der Richter in der Verfassung verankert wurden, scheiterte die Umsetzung. 80 Prozent der an den Obersten Gerichtshof berufenen Richter hatten schon zuvor als Richter gearbeitet, die meisten von ihnen an den problematischen Kassationsgerichten. Mindestens 27 der neu berufenen Richter erfüllten nicht die geforderten grundlegenden Integritätskriterien. Einige Richter missbrauchten ihr Amt für politische Verfolgung, andere konnten ihre Vermögenswerte nicht vollständig erklären.
Der Auswahlprozess war von Fehlern und Anzeichen der Manipulation gekennzeichnet
Darunter ist Bohdan Lvov, ehem. Vorsitzender des Obersten Wirtschaftsgerichtshofs (der 2016 im Rahmen der Justizreform aufgelöst wurde, Anm. d. Red), der sich über die Herkunft einer Uhrensammlung im Wert von etwa 35.000 bis 50.000 US-Dollar ausschweigt. Dennoch wurde er von einer überwältigenden Mehrheit der Richter am Obersten Gerichtshof zum stellvertretenden Vorsitzen des Gerichtshofs sowie zum Vorsitzenden der Abteilung für kassatorische Entscheidungen im Bereich Wirtschaft gewählt. Auch die drei anderen Vorsitzenden dieser Abteilung sind altbekannte Gesichter – sie alle hatten bereits administrative Positionen an den alten Kassationsgerichten innegehabt. Drei der vier Vorsitzenden hatten eine negative Beurteilung durch den Public Integrity Council erhalten, einer zivilgesellschaftlichen Organisation, die damit beauftragt war, die Integrität der Kandidaten zu prüfen.
Praktisch der gesamte Auswahlprozess war von Fehlern und Anzeichen von Manipulation gekennzeichnet. Die wiederholten Rufe der Zivilgesellschaft und ihrer internationalen Partner nach mehr Transparenz und einer Erklärung für die getroffene Auswahl wurden nicht erhört.
Ein Problem liegt darin, dass die Oberste Qualifizierungskommission, die verantwortlich für den Auswahlprozess ist, zu zwei Dritteln aus den Richtern besteht, die eigentlich ersetzt werden sollen. Auch der mangelnde politische Willen, allen voran bei Präsident Poroschenko, der den Justizreformprozess und sämtliche damit verbundene Entscheidungsprozesse in seine Obhut genommen hat, ist ein Problem.
Poroschenkos umstrittener Vorschlag zum Antikorruptionsgericht
Ein weiterer Beleg, dass die politischen Eliten nicht an einer unabhängigen Judikative interessiert sind, ist Poroschenkos Gesetzesentwurf zum Antikorruptionsgericht. Die Idee des Gerichts ist einfach: Es soll das letzte Glied in der Kette effektiver Antikorruptionsinstitutionen in der Ukraine werden. Zu den größten Reformerfolgen der letzten vier Jahren zählen die Errichtung des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) und der spezialisierten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP). Die neuen Institutionen haben erfolgreich hunderte Ermittlungsfälle aufgenommen, aber die überwiegende Mehrheit steckt in den unreformierten Gerichten fest.
Der Entwurf des Präsidenten folgt weder den Empfehlungen der Venedig-Kommission, noch erfüllt er grundlegende internationale Verpflichtungen hinsichtlich der Korruptionsprävention. Der Gesetzentwurf weist mindestens drei Probleme auf:
Erstens ist die Zuständigkeit des Gerichts in einigen Bereichen zu weit und in anderen wiederum zu eng gefasst; zum Beispiel umfasst es einige der wichtigsten Fälle, in denen das NABU ermittelt, nicht. Zweitens sind die Anforderungen für die Richter so hoch, dass selbst wenn der Auswahlprozess beginnt, kaum genügend qualifizierte Kandidaten zur Verfügung stehen. Am wichtigsten aber ist, dass internationale Experten bei der Auswahl der Richter nur eine beratende Funktion haben sollen.
Mit anderen Worten hat der Präsident versucht sicherzustellen, dass, selbst wenn das Antikorruptionsgericht seine Arbeit aufnimmt nichts unerwartetes oder gar unerfreuliches gegen die korrupten Eliten unternommen wird. Sowohl die Zivilgesellschaft als auch internationale Geldgeber stehen dem Entwurf aus diesen Gründen sehr kritisch gegenüber.
Was hat es mit der jüngsten Umstrukturierung der Gerichte auf sich?
Es gibt noch eine weitere Entwicklung im ukrainischen Justizwesen, die bisher nicht genügend Aufmerksamkeit erfahren hat. Am 29. Dezember 2017, als die meisten Ukrainer und auch die westlichen Partner im Urlaub waren, ließ die Präsidialadministrationen hunderte Appellationsgerichte und Gerichte der ersten Instanz liquidieren.
Dafür gibt es durchaus legitime Gründe. Erklärt wurde dieser Schritt mit der Notwendigkeit, die Gerichte neu strukturieren zu müssen. Tatsächlich gibt es viele kleinste Gerichte mit nur drei Richtern, die kaum Kapazitäten haben, um den ordnungsgemäßen Betrieb zu bewältigen. Dennoch erfolgte dieser Schritt sehr unerwartet und es gab praktisch keine vorherigen Beratungen mit den betroffenen Akteuren und keine öffentliche Kommunikation. Mehr noch, die Liquidierung dieser Gerichte bietet nun die Möglichkeit, die neuen Gerichte, die die kleinen ersetzen sollen, mit handverlesenen Richtern zu besetzen.
Nichtsdestotrotz gibt es Licht am Ende des Tunnels
Auf diese Weise kann sich Poroschenko im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019 die volle Kontrolle über diese Gerichte sichern. Scheinbar war der Wunsch des Präsidenten nach Kontrolle über die lokalen Gerichte groß genug, dass er dafür riskiert, laufende Verfahren gegen die Verbrechen auf dem Majdan sowie Fälle politischer Korruption zu gefährden, die neu aufgerollt werden müssten. Zusammen mit den jüngsten Attacken gegen das NABU und dem Vorstoß einiger Parlamentarier für eine Gesetzesänderung, die illegale Bereicherung der regierenden Parteien entkriminalisieren würde, zeichnet sich ein düsteres Bild ab.
Nichtsdestotrotz gibt es Licht am Ende des Tunnels. Wir können den Kampf für ein unabhängiges Antikorruptionsgericht, das so wichtig wäre, noch gewinnen. Aber dafür müssen die ukrainische Zivilgesellschaft und die internationale Gemeinschaft fest zusammenhalten und dessen Unabhängigkeit und Wirksamkeit einfordern.
Übersetzung von Eduard Klein.
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