Nein, Herr Putin, die Ukraine und Russland sind nicht ein Land!
Viele Russen teilen Putins Wahnvorstellung, dass die Ukraine schon immer zu Russland gehört hat. Die Wahrheit ist viel komplizierter. Von Serhy Yekelchyk, Professor für Slawistik und Geschichte an der Universität von Victoria und Autor von Ukraine: What Everyone Needs to Know (Oxford University Press, 2020).
Im Jahr 2003 veröffentlichte der pro-russische Präsident der Ukraine, Leonid Kutschma, ein von einem Ghostwriter geschriebenes Buch mit dem Titel „Die Ukraine ist nicht Russland“. Im vergangenen Sommer verfasste der russische Präsident Wladimir Putin einen langen historischen Artikel mit einer gegensätzlichen These und dem Titel „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“. So manchem Ukrainer sackte bei der Lektüre das Herz herab. Und tatsächlich: Weniger als sechs Monate später fuhren russische Truppen und Panzer an der russisch-ukrainischen Grenze auf.
Ein Sprichwort sagt: Wenn Sie nicht in interessanten Zeiten leben wollen, meiden Sie am besten die Teile der Welt, in denen Staatschefs Abhandlungen über die Geschichte schreiben.
Bei dem Versuch, zu behaupten, die Ukraine und Russland seien historisch gesehen „ein Volk“, griff Putin (oder sein Schreiber) nicht auf die sowjetische Version der Geschichte zurück, sondern auf das reaktionärste, zaristische Narrativ. Das ist einleuchtend, denn die Sowjets erkannten die Ukrainer als eigenständige ethnische Nation mit eigener Sprache und dem (theoretischen) Recht auf Selbstbestimmung an. In der Praxis bedeutete das, dass ihnen eine ukrainische Republik innerhalb der Sowjetunion gewährt wurde.
Im Gegensatz zu den Sowjets sahen die russischen Zaren die Ukrainer als Teil der russischen Nation an, die lediglich einen „kleinrussischen Stamm“ mit einem eigenen, regionalen Dialekt darstellte. Sie glaubten auch, dass der Westen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder versucht hatte, die russisch-ukrainische Einheit zu untergraben. Putin griff diesen Punkt auf und erweiterte die Liste der westlichen Übeltäter um NATO und EU.
Selenskyjs Wandel ist auch Russlands Schuld
Zufälligerweise hat auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi einen gewissen Draht zur Geschichtsschreibung. Als beliebter Komiker spielte er die Hauptrolle in einer Sitcom über einen Geschichtslehrer, der versehentlich Präsident wird und versucht, ein korruptes politisches System zu bekämpfen. Er spielte die Rolle glaubhaft und wurde schließlich im Alter von 41 Jahren zum echten Präsidenten der Ukraine gewählt – obwohl er keinerlei politische Erfahrung besaß.
Selenskyjs Fernsehrolle bestand darin, Kindern die dunklen Seiten der ukrainischen Geschichte zu vermitteln, als das Land Teil des russischen und sowjetischen Imperiums war. Doch die Produzenten hielten sich nicht lange damit auf. Sie wollten ein breiteres Publikum ansprechen, einschließlich der Ukrainer, die zu Hause Russisch sprechen und Nostalgie für die Sowjetunion haben, sowie jene, die sich nicht für Geschichte oder Identität interessieren. Und sie hatten Erfolg. Das zeigte Selenskyjs überwältigender Sieg in der Stichwahl 2019, bei der er 73 Prozent der Stimmen gegen den damaligen Amtsinhaber Petro Poroschenko erhielt.
Selenskyj kam als das Gegenbild eines ukrainischen Nationalisten ins Amt: russischstämmig, jüdische Herkunft, mit Schwierigkeiten, Ukrainisch zu sprechen, und – ein ständiger Optimist, der behauptet, dass es einfache, vernünftige Lösungen für große Probleme gibt. Doch selbst er konnte Russland nicht zufrieden stellen. Nach einer kurzen Phase der Unsicherheit begannen die staatlich kontrollierten russischen Medien, ihn als gehorsamen Diener des Westens anzuprangern. In jüngster Zeit wird er als ein Lakai des Westens dargestellt, der jederzeit dazu bereit ist, Russland im Namen des Westens anzugreifen.
Das käme Zelenskyj natürlich nicht einmal in seinem schlimmsten Alptraum in den Sinn. Aber seit seinem Amtsantritt hat sich seine Rhetorik in der Tat deutlich verändert. Er klingt jetzt patriotischer, und ja, er spricht oft über Geschichte, insbesondere über die Schwierigkeiten der Ukraine, sich von ihrem ehemaligen imperialen Herrscher zu verabschieden, mit dem sie immer noch eine gemeinsame Grenze hat. Für Zelenskyys Wandel kann die russische Führung nur sich selbst die Schuld geben.
Eine komplexe Geschichte: Das Erbe der „Kyjiwer Rus“
Viele Russen teilen heute Putins Wahnvorstellung, dass die Ukraine schon immer ein Teil Russlands war. Die Wahrheit ist viel komplizierter.
Als Mitte des 9. Jahrhunderts eine Gruppe von Wikingern, die sich „Rus“ nannten, die Kontrolle über die Slawen in der heutigen Zentralukraine und im Nordwesten Russlands übernahm, machten sie Kyjiw zu ihrer Hauptstadt. Moskau wurde erst zwei Jahrhunderte später gegründet und war zu Beginn eine kleine Siedlung tief in den Wäldern an der fernen Grenze der mittelalterlichen Rus. Die einheimischen Slawen, die sich langfristig als das Volk der Rus identifizierten, nannten sich selbst Rusinen – ein Name, der in einigen Teilen der südwestlichen Ukraine bis weit ins 20. Jahrhundert reichte. Heute beanspruchen die drei ostslawischen Nationen Ukraine, Belarus und Russland das Erbe der Kyjiwer Rus, obwohl das alte Kernland der Rus und ihre Hauptstadt Kyjiw in der heutigen Ukraine liegen.
Für ein ehemaliges Imperium wie Russland ist es beunruhigend, dass das, was es als seine mittelalterliche Hauptstadt und den Sitz seiner ersten Dynastie betrachtet, nun „im Ausland“ liegt. Der größte legendäre Ritter der russischen Epik, Ilja Muromez, liegt in Kyjiw begraben. Dort taufte Großfürst Wolodymyr der Heilige die Russen als orthodoxe Christen im Wasser des mächtigen Flusses Dnipro. Auf Russisch wird er „Wladimir“ genannt, und sowohl Lenin als auch Putin verdanken ihm ihre Vornamen.
Aber so wie die mittelalterlichen Franken zur Zeit Karls des Großen weder Franzosen noch Deutsche waren, wäre es irreführend, den Rusinen irgendeine moderne ethnische Bezeichnung zuzuweisen. Sie sprachen viele ostslawische Dialekte, aus denen sich Jahrhunderte später die moderne ukrainische, weißrussische und russische Sprache entwickelten. Die Kirchen- und Staatssprache, das Altslawische, wurde von den Balkanslawen entlehnt, und nur wenige in der Rus kannten sie gut. Die Tatsache, dass die Rus das östliche (oder orthodoxe) Christentum des Byzantinischen Reichs annahm, unterschied sie später von den Katholiken und Protestanten in Europa. Aber diese Spaltung der Kirche blieb in der Kiewer Zeit unentwickelt.
Erst nach der Eroberung durch die Mongolen in der Mitte des 13. Jahrhunderts kristallisierten sich die kulturellen Unterschiede zwischen den Fürstentümern heraus, die früher den Kiewer Großfürsten unterstanden. Diese Unterschiede wurden bald politisch, insbesondere nachdem die westlichen Fürstentümer der Rus unter litauische und polnische Herrschaft fielen. In den östlichen Fürstentümern wuchs die Macht der Fürsten von Moskowien als Vasallen der Mongolen, bevor sie schließlich die Autorität ihrer Herren ablehnten.
Zwei unterschiedliche politische Welten treffen aufeinander
Als die beiden auf Kyjiw und Moskau konzentrierten Welten 1654 wieder aufeinander trafen, verstanden sie sich nicht mehr – nicht wegen der Sprache, sondern wegen der sich drastisch unterscheidenden, politischen Modelle. Aus der ostslawischen Bevölkerung, die in den südlichen Steppen der polnisch-litauischen Gemeinschaft frei lebte, war eine neue soziale Gruppe entstanden: die Saporoger Kosaken. Sie wurden zunächst von den polnischen Gouverneuren als militärisches Bollwerk gegen osmanische Einfälle und tatarische Überfälle geduldet und später als Gefangene für die Sklavenmärkte auf der Krim oder in Istanbul genutzt.
Die ukrainischen Kosaken sahen sich auch als Beschützer des orthodoxen Volkes der Rus gegenüber den katholischen polnischen Großgrundbesitzern. Nach zahlreichen Kosakenaufständen gegen Polen entwickelte sich der von Hetman (Kosakengeneral) Bohdan Chmelnyzkyj initiierte Aufstand im Jahr 1648 zu einem Bauern- und Religionskrieg. Als Konsequenz gewährte der polnische König der Kosakenregion in der heutigen Zentralukraine faktisch die Unabhängigkeit. Als der Krieg schnell wieder aufflammte, bat Chmelnyzkyj den orthodoxen Moskauer Zaren um „Schutz“.
Als die moskowitischen Gesandten 1654 eintrafen, erwarteten die Kosakenoffiziere, dass beide Seiten einen Eid ablegten: die Kosaken versprachen, die Autorität des Zaren anzuerkennen, und die Gesandten, die Rechte und Freiheiten der Kosaken zu achten. Die Moskauer wehrten sich jedoch und bestanden darauf, dass ihr Zar ein Autokrat sei, der seinen Untertanen gegenüber nicht rechenschaftspflichtig sei. Schließlich legten die Kosaken den Eid ab. Doch Historiker streiten bis heute darüber, was sie mit der Anerkennung des Moskauer „Schutzes“ meinten.
Es besteht kein Zweifel daran, was die Zaren meinten. Schon bald errichteten sie russische Garnisonen in den wichtigsten ukrainischen Städten und begannen, die Autonomie der Kosakenverwaltung einzuschränken, insbesondere nach derem verzweifelten Versuch im Jahr 1709, schwedischen Schutz gegen die Russen zu suchen. In ihrem Bestreben, die russische Reichsverwaltung zu straffen, konzentrierte sich Katharina II. auf die Einverleibung der Ukraine, die sie assimilieren wollte.
Im Jahr 1764 zwang Katharina II. den letzten Hetman zum Rücktritt und löschte die letzten Reste der Kosakenautonomie aus. Während der Teilungen Polens erwarb sie auch die ukrainischen Gebiete, die Polen nach den Kriegen mit Chmelnyzkyj behalten hatte. Anlässlich der Vereinigung der meisten ehemaligen Rus-Länder unter ihrem Zepter, ließ Katharina 1793 eine Medaille mit der Aufschrift „Was weggerissen wurde, habe ich wiederhergestellt“ prägen.
Doch dann kam das Zeitalter des modernen Nationalismus.
Erwachen und Zerschlagung der ukrainischen Nation
Die amerikanische und die französische Revolution sowie die Ideen der deutschen romantischen Philosophen ermutigten die ukrainischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts dazu, die Souveränität des Volkes und das Volk als Vertreter der Bauern zu betrachten. Anstatt die Rückkehr der Kosakenautonomie anzustreben, entwarfen sie eine neue Vorstellung der Ukraine: ein Gebiet, in dem sprachliche und ethnische Kriterien die Mehrheitsbevölkerung als ukrainisch identifizierten.
Es folgten Veröffentlichungen in der modernen ukrainischen Sprache, vor allem die Gedichte des Nationalbarden Taras Schewtschenko (1814–1861). Das Russische Reich stellte sich der Herausforderung der modernen Nationalität nicht besonders gut, sondern konzentrierte sich eher auf die Pflege der Loyalität zur Dynastie und zur orthodoxen Religion. In den ukrainischen Gebieten jedoch sahen die russischen Behörden die moderne ukrainische Kultur selbst als eine Gefahr für den russisch-orthodoxen Kern der imperialen Macht. Im Jahr 1876 verbot Alexander II. die Veröffentlichung von Büchern in ukrainischer Sprache vollständig.
Fast zeitgleich unternahmen die lokalen Rusinen (oder „Ruthenen“, wie es in Österreich hieß) im Habsburgerreich erste Schritte zur politischen Partizipation und begannen, die Bauern für die nationale Sache zu mobilisieren. In den 1890er-Jahren gingen ukrainische Aktivisten in beiden Reichen dazu über, die ethnische Bezeichnung „Ukrainer“ zu verwenden, anstatt die von Rus abgeleiteten Namen. So sollten Verwechslungen mit Russen vermieden werden. Der Name Ukraine, der Grenzland bedeutet, wird seit dem 16. Jahrhundert für die heutige Zentralukraine verwendet.
Eines der Hauptziele Russlands im Ersten Weltkrieg war die Eroberung der habsburgischen ukrainischen Gebiete, um so den ukrainischen Nationalismus zu zerschlagen und die Vereinigung der alten Rus-Länder zu vollenden. Stattdessen führte der Krieg jedoch zum Zusammenbruch des Kaiserreichs und zur Gründung von zwei ukrainischen Republiken – auf beiden Seiten der ehemaligen russisch-österreichischen Grenze. Diese Republiken vereinigten sich 1919 in der kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik. Doch so kurz diese Vereinigung auch gewesen sein mag, so zeigte sie doch, dass ein „Zusammenschluss“ der Rus-Länder nur noch unter Anerkennung der Existenz einer modernen ukrainischen Nation erfolgen konnte. Tatsächlich sahen sich die Bolschewiki, denen es bald gelang, den größten Teil der ukrainischen Gebiete des ehemaligen Russischen Reiches zurückzuerobern, gezwungen, eine ukrainische Marionetten-Sowjetrepublik zu gründen. Sie gehörte 1922 zu den Gründerstaaten der Sowjetunion gehörte.
Eine Nation wird ausgewischt: der Holodomor und seine Folgen
Der sowjetische Diktator Josef Stalin, der sich an den Bemühungen der Bolschewiki um die Rückgewinnung der Ukraine beteiligt hatte, sah eine unabhängigen Ukraine weiterhin als eine Bedrohung für das bolschewistische Projekt. Auch er verstand das ukrainische Problem in erster Linie als ein bäuerliches Problem. Die letzten Schlachten der Revolution von 1917 im Russischen Reich wurden in der Ukraine noch in den frühen 1930er-Jahren weitergeführt. Stalin zwang der ukrainischen Bauernschaft zunächst die kollektive Landwirtschaft auf und brach dann den ukrainischen Widerstand mit einem Doppelschlag: einer staatlich organisierten Hungersnot 1932–33, der etwa vier Millionen Menschen zum Opfer fielen, und gleichzeitigen Massenrepressionen gegen ukrainische Intellektuelle. Zusammengenommen sind diese Ereignisse in der Ukraine als „Holodomor“ (Mord durch Hungersnot) bekannt, ein Völkermord an der modernen ukrainischen Nation. Eine Nation, die mit der Revolution erwachsen wurde. Bezeichnenderweise weigert sich Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion, den Holodomor anzuerkennen.
Als Stalin 1939 mit Hitler einen Pakt zur Aufteilung Polens schloss, ließ er sich von derselben Großmachtlogik leiten wie Katharina II.. Allerdings beanspruchte er die neuen Gebiete nicht im Namen der alten Rus, sondern im Namen der modernen Ukraine. Die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik sollte die ukrainischen Gebiete Polens erhalten, die zu einem Teil vom ehemaligen Habsburgerreich geerbt und zum anderen den Bolschewiken während der Revolution abgerungen worden waren. Zwischen 1939 und 1945 gelang es Stalin, praktisch alle ethnografischen ukrainischen Gebiete in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik zu vereinen. Er bemühte sich, sie an die russischen Kultur anzupassen.
Sein Nachfolger, Nikita Chruschtschow, setzte diese Bemühungen mit Begeisterung fort. Doch jeder sowjetische Führer musste sich mit der Stärke der ukrainischen Identität in den westlichsten Regionen auseinandersetzen, die nie Teil des Russischen Reiches war und nur eine kurze Zeit unter der Herrschaft des Sowjetkommunismus stand. In den frühen 1950er-Jahren gelang es dem Kreml nur mit Mühe, den nationalistischen Aufstand in der Region zu unterdrücken.
Aus der Sicht des russischen Nationalismus erscheint Chruschtschows Abtretung der Halbinsel Krim von der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik im Jahr 1954 als eine schwere Verletzung des russischen Nationalstolzes. Die sowjetische Führung änderte jedoch die Grenzen zwischen den Republiken nach Belieben, wenn es die wirtschaftliche und politische Vernunft gebot. So wurde beispielsweise 1924 der Bezirk Taganrog (der Geburtsort des Dramatikers Anton Tschechow) von der Ukraine nach Russland verlegt, obwohl es dort eine ukrainische Mehrheit gab, und 1940 wurde aus dem autonomen Gebiet Moldau in der Ukraine eine neue Republik Moldau gegründet. Im Falle der Krim hatte Chruschtschow jedoch einen politischen Hintergedanken: Er wollte die Ukraine „russischer“ machen, da die ethnischen Russen auf der Halbinsel infolge von Stalins völkermörderischer Deportation der Krimtataren im Jahr 1944 die Mehrheit bildeten.
Die Auflösung der Sowjetunion als Hoffnungsschimmer
Dass es den Sowjets nicht gelungen war, die ukrainische nationale Identität auszulöschen, wurde während der Reformen von Michail Gorbatschow in den späten 1980er-Jahren deutlich. Die Ukraine folgte den baltischen Republiken in ihrer entschiedenen Ablehnung der Sowjetunion, die Ende 1991 formell aufgelöst wurde. Viele westliche Kommentatoren erwarteten damals einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Eine Aussicht, die durch die Präsenz des drittgrößten Atomwaffenarsenals der Welt auf ukrainischem Territorium noch verschärft wurde – ein zerfallendes sowjetisches Arsenal, über das die Ukraine nie die operative Kontrolle besaß.
Dennoch kam es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht zu einer Kernschmelze nach jugoslawischem Vorbild. Das lag auch daran, dass der russische Präsident Boris Jelzin sein neues unabhängiges Russland zunächst als das Gegenmodell des repressiven Sowjetimperiums präsentierte. Doch auch er verfiel schließlich der imperialen Nostalgie, nachdem die Ukraine im Einklang mit dem Budapester Memorandum von 1994, in dem drei Atommächte – Russland, die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich – auch die Souveränität der Ukraine und die Unversehrtheit ihrer Grenzen garantierten, auf ihre Atomwaffen verzichtet hatte. Damals konnten Russen und Ukrainer noch gemeinsam von einer demokratischen und prosperierenden Zukunft als Nachbarn träumen.
Russland sieht sich als Imperium, nicht als Nation
Was sollt man tun, wenn der ehemalige Imperialherrscher erklärt, dass er ohne einen nicht leben kann? Putins historischer Artikel vom letzten Sommer ist im Grunde eine unerwiderte Liebeserklärung und verdeutlicht das Kernproblem Russlands gegenüber der Ukraine: Es sieht sich selbst nicht als Nation, sondern als Imperium.
Nach drei Jahrzehnten Unabhängigkeit können sich immer weniger Ukrainer vorstellen, mit dem autoritären Russland im selben politischen Raum zu leben. Die beiden Volksrevolutionen in der Ukraine – die Orangene Revolution (2004–2005) und die Revolution der Würde (2013–2014) – richteten sich nicht einfach gegen prorussische Politiker, sondern gegen das politische Modell, das Putins Russland repräsentiert. Seit Russland die Krim annektiert hat und de facto einen Teil der Industrieregion Donbas kontrolliert, ist der Anteil der Putin-Anhänger in der Ukraine drastisch zurückgegangen. Das liegt daran, dass diese Regionen die russlandfreundlichsten der Ukraine waren. Aber es gibt noch einen weiteren Grund: Russlands militärische Besatzung hat zu einem langen Krieg und einer massiven Vertreibung der Bevölkerung geführt. Mit anderen Worten: Putins Vorgehen in der Ukraine hat die anti-russische Haltung der Bevölkerung weiter gestärkt.
Die eigenständige ethnische Identität der Ukraine stellt Russlands Selbstverständnis als Imperium in Frage. Gleichzeitig widersetzt sich die politische Identität der Ukraine Putins autoritärem politischen Modell. Eine erfolgreiche Ukraine als Nachbar könnte den Russen, die jetzt aller politischen Freiheiten beraubt wurden, als Vorbild dienen. Die beiden jüngsten ukrainischen Revolutionen haben Putin sichtlich verängstigt. Wenn der Westen dabei hilft, eine demokratische und wohlhabende Ukraine aufzubauen, kann ihre bloße Existenz eines Tages ein demokratisches Russland hervorbringen.
Das ist es, was Putin wirklich fürchtet. Und deshalb hat Selenskyj keine andere Wahl, als seine Geschichtsbücher zu entstauben.
Dieser Artikel ist bereits am 7. Februar bei Politico erschienen. Mit Genehmigung des Autors veröffentlichen wir die Übersetzung ins Deutsche. Zudem weisen wir noch auf die Einordnung des Artikels im Stern vom 18. Februar hin, der Auszüge des Original-Artikels enthält.
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