Wie leben Men­schen mit Behin­de­run­gen unter Kriegs­be­din­gun­gen in der Ukraine?

Foto: NGO “Fight for Rights”

Eva­ku­ie­run­gen, huma­ni­täre Hilfe, psy­cho­lo­gi­sche Bera­tung: Die ukrai­ni­sche Orga­ni­sa­tion „Fight For Right“ setzt sich für die Rechte von Men­schen mit Behin­de­run­gen ein – und tut alles, um Leben zu retten.

„Men­schen mit Behin­de­run­gen sind als Rechts­sub­jekte zu sehen, nicht als Hilfs­emp­fän­ger“, sagt Yuliya Sachuk, Lei­te­rin der Orga­ni­sa­tion „Fight For Right“. Die Selbst­ver­tre­tungs­or­ga­ni­sa­tion setzt sich bereits seit 2017 für die Rechte von Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­nern mit Behin­de­run­gen ein. Unmit­tel­bar nach Beginn Russ­lands umfas­sen­der Inva­sion rief „Fight For Right“ ein Not­hil­fe­pro­gramm ins Leben und rich­tete alle Res­sour­cen darauf aus, Men­schen mit Behin­de­run­gen aus der Ukraine best­mög­lich zu helfen: durch Eva­ku­ie­run­gen, Bereit­stel­lung unter­stüt­zen­der Tech­no­lo­gien, huma­ni­täre Hilfe und durch recht­li­che und psy­cho­lo­gi­sche Bera­tung. In den letzten zehn Monaten hat das Team alles dafür getan, nie­man­den zurück­zu­las­sen, und es hat Leben gerettet.

Schutz und Sicher­heit von Men­schen mit Behin­de­run­gen gewährleisten

Dabei wäre es Aufgabe des ukrai­ni­schen Staates gewesen, für Sicher­heit und Eva­ku­ie­run­gen der Men­schen mit Behin­de­rung zu sorgen. Die UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion, die die Ukraine im Jahr 2010 rati­fi­zierte, ver­pflich­tet die Ver­trags­staa­ten, alle erfor­der­li­chen Maß­nah­men zu ergrei­fen, um den Schutz und die Sicher­heit von Men­schen mit Behin­de­run­gen in Gefah­ren­si­tua­tio­nen zu gewähr­leis­ten – ins­be­son­dere in bewaff­ne­ten Kon­flik­ten, huma­ni­tä­ren Not­la­gen und bei Naturkatastrophen.

In der Ukraine jedoch liegt während des von der Rus­si­schen Föde­ra­tion ent­fes­sel­ten Krieges die Last, für die eigene Sicher­heit zu sorgen oder zu fliehen, auf den Schul­tern der Men­schen mit Behin­de­run­gen selbst. Sie müssen darüber hinaus auch die­je­ni­gen Bar­rie­ren über­win­den, die auf­grund der staat­li­chen Ver­pflich­tun­gen gemäß Kon­ven­tion zwar längst hätten besei­tigt werden müssen, aber immer noch vor­han­den sind. Diese Bar­rie­ren – für einen Men­schen ohne Behin­de­rung unsicht­bar – sind nun um ein Viel­fa­ches erhöht und behin­dern dabei, zu fliehen, recht­zei­tig und gut infor­miert Ent­schei­dun­gen zu treffen, und somit dabei, das eigene Leben zu retten.

Das Recht, frei zu wählen

Die Direk­to­rin von „Fight For Right“ Tanya Hera­sy­m­ova, selbst Roll­stuhl­fah­re­rin, spricht in diesem Zusam­men­hang auch über Würde und über das Recht, frei zu wählen. Gemein­sam mit ihrer Mutter musste Hera­sy­m­ova von Kam­janske in der Region Dni­pro­pe­trowsk nach Däne­mark fliehen. Sie beschreibt ihre Erfah­run­gen als äußerst schwie­rig, betont aber: „Ich habe die Ent­schei­dung zur Flucht bewusst getrof­fen. Ich wollte eine Mas­sen­eva­ku­ie­rung ver­mei­den, weil ich Angst hatte, dass man mich einfach in einen Bus setzt und irgendwo hin­bringt. Und ich wollte selbst entscheiden.“

Pro­bleme bei der Eva­ku­ie­rung von Men­schen mit Behinderungen

Im Jahr 2022 führte Fight For Right zwei Studien über die Eva­ku­ie­rung von Men­schen mit Behin­de­run­gen im Krieg gegen die Ukraine durch. Die Unter­su­chun­gen ergaben, dass die fol­gen­den Pro­bleme die drin­gends­ten sind:

  • Die Bereit­schaft der lokalen Behör­den, recht­zei­tig und auf zen­tra­ler Ebene mit der orga­ni­sier­ten Eva­ku­ie­rung von Zivi­lis­ten, ein­schließ­lich Men­schen mit Behin­de­run­gen, zu begin­nen, ist mangelhaft.
  • Die recht­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen sind lücken­haft. Deshalb können einige Arten von Eva­ku­ie­run­gen nicht recht­zei­tig durch­ge­führt werden: zum Bei­spiel die Eva­ku­ie­rung aus Haft­an­stal­ten und sta­tio­nä­ren Ein­rich­tun­gen in Gebie­ten, in denen ein hohes Risiko für Beset­zung, dau­er­haf­ten Beschuss und Kriegs­ver­bre­chen bestand.
  • Offi­zi­elle und bar­rie­re­freie Infor­ma­tio­nen über die tat­säch­li­che Gefahr und die Not­wen­dig­keit, eine Eva­ku­ie­rung ein­zu­lei­ten, sind nicht aus­rei­chend vorhanden.
  • Auch offi­zi­elle und bar­rie­re­freie Infor­ma­tio­nen auf zen­tra­ler Ebene über die von den lokalen Behör­den durch­ge­führ­ten Eva­ku­ie­run­gen gibt es nicht genug.
  • Es besteht ein Mangel an ver­füg­ba­ren und bar­rie­re­freien Trans­port­mit­teln für die Eva­ku­ie­rung von Men­schen mit Behin­de­run­gen, älteren Men­schen und/​oder Palliativpatienten.
  • Bar­rie­re­freie Schutz­räume sind nicht aus­rei­chend vor­han­den – sowohl in Städten und Gemein­den als auch an ver­schie­de­nen Orten der Frei­heits­ent­zie­hung (Gefäng­nisse, geschlos­sene Ein­rich­tun­gen usw.).
  • Auch bar­rie­re­freie Not­un­ter­künfte in den auf­neh­men­den Gemein­den gibt es nicht genug, was zur Iso­lie­rung von Men­schen mit Behin­de­run­gen führt und sie von der Teil­habe am gesell­schaft­li­chen Leben in den auf­neh­men­den Gemein­den ausschließt.
  • Sta­tis­ti­sche Daten, die für eine ord­nungs­ge­mäße Bewer­tung des Bedarfs an Eva­ku­ie­rungs- und anderen Not­hil­fe­maß­nah­men erfor­der­lich sind, fehlen.
  • Bewoh­ner und Per­so­nal von sta­tio­nä­ren Ein­rich­tun­gen und Gefäng­nis­sen (und anderen Orten der Frei­heits­ent­zie­hung) haben ein erhöh­tes Risiko, Opfer eines Kriegs­ver­bre­chens zu werden. Die rus­si­sche Armee begeht täglich Hun­derte von Kriegs­ver­bre­chen und hält sich nicht an die Genfer Kon­ven­tio­nen, sodass die Bewoh­ner von sta­tio­nä­ren Ein­rich­tun­gen „Ziel­schei­ben“ für die rus­si­sche Armee sein können und stärker gefähr­det sind als Men­schen, die unab­hän­gig leben.

Ver­schlep­pung von Men­schen mit Behin­de­run­gen aus Einrichtungen

„Fight For Right“ weiß von Fällen, in denen Ein­rich­tun­gen ein­ge­nom­men oder bom­bar­diert wurden – zum Bei­spiel im März das „Psycho-neu­ro­lo­gi­sche Inter­nat“ in Borod­janka (Region Kyjiw) –, ebenso von Men­schen mit Behin­de­run­gen, die ermor­det wurden. Der Orga­ni­sa­tion sind ebenso Fälle bekannt, in denen in geschlos­se­nen Ein­rich­tun­gen lebende Men­schen mit Behin­de­run­gen auf das Gebiet der Rus­si­schen Föde­ra­tion oder auf die vor­über­ge­hend besetzte Krim depor­tiert wurden. Genaue Angaben über die Zahl der ver­schlepp­ten Men­schen liegen uns nicht vor. Wir schät­zen jedoch, dass es sich um Hun­derte Men­schen mit Behin­de­run­gen handelt.  Derzeit gibt es keinen zen­tra­li­sier­ten, staat­lich gelei­te­ten Mecha­nis­mus zur Rück­füh­rung der depor­tier­ten Men­schen mit Behin­de­run­gen zurück in die Ukraine.

Reform der Deinsti­tu­tio­na­li­sie­rung fortsetzen

Die Ver­schlep­pung von Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner mit Behin­de­run­gen aus Ein­rich­tun­gen hat eine weitere, seit Langem bestehende Aufgabe noch ver­deut­licht: Die Reform der Deinsti­tu­tio­na­li­sie­rung, die in der Ukraine 2017 mit einer Reform der Kin­der­ein­rich­tun­gen begann. Bei der Deinsti­tu­tio­na­li­sie­rungs­re­form, die im Ein­klang mit Artikel 19 der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion steht, geht es darum, dass Men­schen mit Behin­de­run­gen gleich­be­rech­tigt wählen können, wo und mit wem sie leben wollen, und nicht gezwun­gen sind, in einer bestimm­ten Wohn­form zu leben. Außer­dem beinhal­tet die Reform, dass sie Zugang zu einer Reihe von häus­li­chen, sta­tio­nä­ren und anderen gemein­de­na­hen Unter­stüt­zungs­diens­ten haben – ein­schließ­lich zu per­sön­li­cher Assis­tenz. So werden Teil­habe am gesell­schaft­li­chen Leben und Inklu­sion gestärkt, Iso­la­tion und Segre­ga­tion dagegen ver­hin­dert. Bisher bezog sich diese Reform jedoch nur auf Kinder mit Behin­de­run­gen. Die Reform sollte so schnell wie möglich auf Erwach­sene mit Behin­de­rung aus­ge­wei­tet werden, beson­ders wenn die Ukraine Mit­glied der Euro­päi­schen Union werden will.

„Wenn wir uns mit Eva­ku­ie­run­gen beschäf­ti­gen und die Men­schen­rechte achten, dann sollte eine Person, die aus einer Ein­rich­tung eva­ku­iert wird, nicht ein zweites Mal in eine Ein­rich­tung ver­frach­tet – insti­tu­tio­na­li­siert – werden. Das ist eine Ver­let­zung ihrer Würde. Es ist eine Schande, über­haupt davon zu hören“, kom­men­tiert Yulia Sachuk.

Zunahme der Ein­wei­sun­gen in Einrichtungen

Mit Beginn der umfas­sen­den rus­si­schen Inva­sion hat die Zahl der Ein­wei­sun­gen in Ein­rich­tun­gen in der Ukraine leider erheb­lich zuge­nom­men. Dies gilt beson­ders für ältere Men­schen, die früher selb­stän­dig lebten und nun gezwun­gen sind, in Wohn­ein­rich­tun­gen unter­ge­bracht zu werden. Das ist vor allem auf die Beschä­di­gung ihrer Häuser, den Mangel an erschwing­li­chem Wohn­raum in den auf­neh­men­den Gemein­den und die feh­lende Unter­stüt­zung durch Ver­wandte, die das Land ver­las­sen haben, zurück­zu­füh­ren. Auch das Fehlen eines qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­gen Systems sozia­ler Dienste auf Gemein­de­ebene spielt eine große Rolle.

Iryna Fedo­ro­vych, Exper­tin für Nicht­dis­kri­mi­nie­rung und Advo­cacy-Mana­ge­rin der Orga­ni­sa­tion „Fight For Right“

Vic­to­riia Khar­chenko, Men­schen­rechts­ver­tei­di­ge­rin und Advo­cacy-Mana­ge­rin der Orga­ni­sa­tion „Fight For Right“

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