Ukraine: Kampf für Men­schen­rechte während des Krieges

Foto: Docu Days UA

Ljud­myla Jankina von der ukrai­ni­schen Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion ZMINA beschreibt die ambi­va­lente Situa­tion für zivil­ge­sell­schaft­li­che Akti­vis­ten und inves­ti­ga­tive Jour­na­lis­ten in der Ukraine: Einer­seits ist das zivil­ge­sell­schaft­li­che Umfeld siche­rer gewor­den, Reform­pro­zesse sind trans­pa­ren­ter und demo­kra­ti­scher. In den von Russ­land besetz­ten Gebie­ten sind Akti­vis­ten jedoch das Haupt­ziel von Angriffen.

Seit dem 24. Februar 2022 hat sich die Situa­tion für die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft dra­ma­tisch ver­än­dert. Zivil­ge­sell­schaft­li­che Ver­tre­ter stehen vor völlig neuen Her­aus­for­de­run­gen. Die meisten Men­schen­rechts­ver­tei­di­ger, Akti­vis­ten und Jour­na­lis­ten wandten sich dem Kriegs­ge­sche­hen zu, wurden zu Kriegs­be­richt­erstat­tern oder gingen ihrer Arbeit unter Beschuss nach.

Dra­ma­ti­sche Lage seit der rus­si­schen Großoffensive

Beson­ders hart traf es die Bevöl­ke­rung in den rus­sisch besetz­ten Gebie­ten. Laut dem im April 2023 erschie­ne­nen Moni­to­ring-Bericht der Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion ZMINA ist Folter gegen­über der Zivil­be­völ­ke­rung eine Stra­te­gie der rus­si­schen Besat­zer. Nach unver­öf­fent­lich­ten Infor­ma­tio­nen von ZMINA wurden zwi­schen dem 24. Februar 2022 und dem 21. Juni 2023 über 500 Ver­tre­ter der Zivil­ge­sell­schaft auf­grund ihrer Men­schen­rechts­ar­beit, ihrer jour­na­lis­ti­schen oder ehren­amt­li­chen Akti­vi­tä­ten ver­folgt. Fast 400 Akti­vis­ten wurden von den rus­si­schen Streit­kräf­ten ver­schleppt, gefol­tert oder miss­han­delt. 168 wurden bei der Aus­übung ihrer aktu­el­len Tätig­keit getötet, dar­un­ter 79 Per­so­nen, die sich den Streit­kräf­ten der Ukraine ange­schlos­sen hatten, weitere kamen in Gefangenschaft.

So befin­det sich bei­spiels­weise Maksym But­ke­wytsch, Vor­stands­mit­glied von ZMINA, seit fast einem Jahr in rus­si­scher Gefan­gen­schaft. Er wurde im März 2023 von einem „Gericht“ der soge­nann­ten Volks­re­pu­blik Luhansk ver­ur­teilt und verbüßt eine 13-jährige Haft­strafe in einem Hoch­si­cher­heits­ge­fäng­nis. Ukrai­ni­sche Men­schen­recht­ler weisen die Anklage gegen But­ke­wytsch zurück. Amnesty Inter­na­tio­nal bezeich­net das Ver­fah­ren gegen But­ke­wytsch als „Schein­pro­zess“.

Der Zugang zu Infor­ma­tio­nen soll erschwert werden

Zahl­rei­che Ver­bre­chen der rus­si­schen Besat­zer gegen Jour­na­lis­ten sind eben­falls belegt. Nach Angaben des Insti­tute of Mass Infor­ma­tion hat die Rus­si­sche Föde­ra­tion zwi­schen dem Beginn der Inva­sion und dem 24. Mai 2023 514 Rechts­ver­stöße gegen Jour­na­lis­ten und Medien began­gen. Zugleich wurden 233 Pres­se­stel­len und Medi­en­ein­rich­tun­gen geschlos­sen, weil sie ihre Tätig­keit im Zusam­men­hang mit dem Krieg nicht fort­set­zen konnten. 59 Jour­na­lis­ten kamen durch die Kriegs­hand­lun­gen der rus­si­schen Armee ums Leben, zehn wurden bei der Aus­übung eines jour­na­lis­ti­schen Auf­trags im Kampf­ge­biet oder in den angren­zen­den Gebie­ten getötet. Darüber hinaus beschos­sen rus­si­sche Streit­kräfte 16 Sen­de­mas­ten, um meh­re­ren Ort­schaf­ten den Zugang zu Infor­ma­tio­nen zu erschweren.

Betei­li­gung der Zivil­ge­sell­schaft an Reformprozessen

Das zivil­ge­sell­schaft­li­che Umfeld in den von der Ukraine kon­trol­lier­ten Gebie­ten zeigt ein anderes Bild. Seit der Revo­lu­tion der Würde ist die Zivil­ge­sell­schaft aktiv in Reform­pro­zesse der ukrai­ni­schen staat­li­chen Insti­tu­tio­nen ein­ge­bun­den. Das gilt ins­be­son­dere für die Refor­men der Justiz, der Straf­ver­fol­gung und des öffent­li­chen Dienstes.

Diese Reform­pro­zesse sind auch drin­gend nötig. Die Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion ZMINA beob­ach­tete viele Jahre, dass der ukrai­ni­sche Staat die Rechte von Akti­vis­ten ver­letzt oder nicht für einen ange­mes­se­nen Schutz sorgt. Auch Grund­rechte wie die Ver­samm­lungs­frei­heit und die Frei­zü­gig­keit wurden ein­ge­schränkt. Den meisten Repres­sio­nen waren Akti­vis­ten aus­ge­setzt, die gegen Kor­rup­tion und ille­gale Bau­maß­nah­men oder für Umwelt­schutz und die Rechte der Frauen und der LGBT-Com­mu­nity ein­tre­ten. Es wurden immer wieder Ver­stöße gegen das Recht auf wirk­sa­men Rechts­schutz und ein faires Ver­fah­ren regis­triert, oder die Justiz wurde durch die Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den behindert.

Zivil­ge­sell­schaft setzt sich für Reform der Polizei ein

Die Zivil­ge­sell­schaft setzt sich für Refor­men ein. Einige Men­schen­rechts­ak­ti­vis­ten wirken in den Zer­ti­fi­zie­rungs­aus­schüs­sen für Poli­zis­ten, Richter und Staats­an­wälte mit. Die Autorin leitete als Mit­ar­bei­te­rin von ZMINA bei­spiels­weise von 2017 bis 2019 das Projekt „Com­mu­nity Poli­cing“, das die Zusam­men­ar­beit zwi­schen der Polizei und den Gemein­den fördern sollte. Dieser Prozess war sehr effek­tiv, da er gleich­zei­tig mit dem Start der Dezen­tra­li­sie­rungs­re­form statt­fand. Infol­ge­des­sen führten die neu gebil­de­ten Gemein­den gemein­sam mit ZMINA, der Polizei und der Unter­stüt­zung der Inter­na­tio­nal Renais­sance Foun­da­tion zahl­rei­che Pro­jekte zur Ver­bes­se­rung der Sicher­heit durch.

„Inter­agency Working Group on the Inves­ti­ga­tion of Crimes Com­mit­ted in Armed Conflict”

Darüber hinaus wirkten Ver­tre­ter der Zivil­ge­sell­schaft im Jahr 2020 als Mit­glie­der der Zer­ti­fi­zie­rungs­aus­schüsse am Reform­pro­zess der Straf­ver­fol­gung mit. Seit Herbst 2022 ist die Autorin bei der Gene­ral­staats­an­walt­schaft Koor­di­na­to­rin der Arbeits­gruppe zum Schutz der Rechte von Akti­vis­ten und Jour­na­lis­ten im Rahmen der „Inter­agency Working Group on the Inves­ti­ga­tion of Crimes Com­mit­ted in Armed Conflict“.

Ins­ge­samt gibt es sieben betei­ligte Arbeits­grup­pen, die zu unter­schied­li­chen Themen arbei­ten, wie etwa dem Schutz des inter­na­tio­na­len und huma­ni­tä­ren Rechts, dem Schutz vor Cyber­kri­mi­na­li­tät, kon­flikt­be­ding­ter sexu­el­ler Gewalt, der Bekämp­fung von Kor­rup­tion oder dem Schutz der Rechte von Kindern. Eine Gruppe ist zustän­dig für das Auf­spü­ren und die Beschlag­nah­mung von Ver­mö­gens­wer­ten von Per­so­nen, die in die rus­si­sche Aggres­sion in der Ukraine ver­wi­ckelt sind. Die über 80 Exper­ten der sieben Arbeits­grup­pen bestehen aus Ver­tre­tern der Zivil­ge­sell­schaft, die sich auf die ein­zel­nen Berei­che spe­zia­li­siert haben.

Neues System zur Doku­men­ta­tion von Kriegsverbrechen

Eines der Haupt­ziele der Akti­vi­tä­ten ist, all jene vor Gericht zu bringen, die an Kriegs­ver­bre­chen und Völ­ker­mord am ukrai­ni­schen Volk betei­ligt sind. Ein wich­ti­ges Ergeb­nis der engen Zusam­men­ar­beit zwi­schen Zivil­ge­sell­schaft und Gene­ral­staats­an­walt­schaft ist die Ent­wick­lung eines Systems zur Doku­men­ta­tion von Kriegs­ver­bre­chen, um die Täter vor Gericht zu bringen.

Wenige Tage nach Beginn der umfas­sen­den Inva­sion wurde die Ukraine 5 AM Coali­tion gegrün­det, der über drei Dutzend Orga­ni­sa­tio­nen der Zivil­ge­sell­schaft ange­hö­ren. Gemein­sam doku­men­tie­ren sie Kriegs­ver­bre­chen nach inter­na­tio­na­len Stan­dards wie bei­spiels­weise dem Ber­ke­ley-Pro­to­koll, einem Leit­fa­den für die wirk­same Nutzung digi­ta­ler Open-Source-Infor­ma­tio­nen bei der Unter­su­chung von Ver­stö­ßen gegen das Völ­ker­straf­recht, Men­schen­rechte und das Huma­ni­täre Völkerrecht.

Die Gene­ral­staats­an­walt­schaft übergab die Infor­ma­tio­nen nach ent­spre­chen­der Bear­bei­tung und Über­prü­fung an den Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof. So doku­men­tierte und regis­trierte die Gene­ral­staats­an­walt­schaft bis zum 10. Juni 2023 in Zusam­men­ar­beit mit der Zivil­ge­sell­schaft 92.214 Aggres­si­ons- und Kriegsverbrechen.

Reform­pro­zesse werden trans­pa­ren­ter und demokratischer

Gene­rell hat die Zivil­ge­sell­schaft bei den Refor­men staat­li­cher Insti­tu­tio­nen von Jahr zu Jahr an Ein­fluss gewon­nen. So werden Reform­pro­zesse trans­pa­ren­ter und demo­kra­ti­scher. Unter dem Druck von außen ver­bes­sert sich die Arbeit der staat­li­chen Stellen all­mäh­lich. Trotz des Krieges ent­wi­ckelt die Ukraine ihre Demo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit weiter. Damit beweist sie, dass es ihr mit der euro­päi­schen Inte­gra­tion ernst ist.

Portrait Jankina

Ljud­myla Jankina ist eine ukrai­ni­sche Men­schen­rechts­ver­tei­di­ge­rin und arbei­tet beim Men­schen­rechts­zen­trum ZMINA.

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