Mission Ruhe: Wie die Ukraine sich auf den Ernstfall vorbereitet
An einen großangelegten Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine glauben nur wenige im Land – wohl aber an eine Eskalation im Donbas. Mit einem großen Militärmanöver und kleineren Übungen bereitet sich Kyjiw trotzdem auf den Ernstfall vor. Dies hat bisher eine Panik unter der Bevölkerung verhindert. Von Denis Trubetskoy
Am 16. Februar feierte die Ukraine den kurzfristig angeordneten „Tag der Einigkeit“. Nachdem die US-Geheimdienste von einer Invasion Russlands am Mittwoch, 16. Februar, ausgegangen waren, wollte Präsident Wolodymyr Selenskyj ausgerechnet an diesem Tag zeigen: Wir sind bereit, diese Krise zu meistern, wir stehen zusammen. Selenskyj nutzte zudem die Chance, sich selbst zu inszenieren.
Während der Präsident durch die Ukraine tourte und sich in Anwesenheit von Journalisten Militärübungen anschaute, lief ein insgesamt vierstündiger Marathon: Regierungsmitglieder wie Verteidigungsminister Olexij Resnikow gaben ihre jeweiligen Einschätzungen zum Besten. Um 10 Uhr morgens waren zudem die Mitarbeitenden aller Behörden aufgefordert, während des Hissens der Flagge die Nationalhymne zu singen. „Das fühlte sich ein bisschen wie Theater an, war aber eine schöne Botschaft an die Welt“, sagt etwa die aus der Westukraine stammenden Wirtschaftsstudentin Walerija Mintschenko.
Unterschiedliche Bewertungen der Lage in der Ukraine und den USA
Wer die Entwicklung beobachtet, stellt fest: Die amerikanische und ukrainische Regierung bewerten die Situation an der russisch-ukrainischen Grenze unterschiedlich. Während der Westen vor einem unmittelbar bevorstehenden Angriff warnt und sogar von Szenarien spricht, nach denen Russland die ukrainische Hauptstadt binnen weniger Tage besetzen könnte, schätzt die Regierung in Kyjiw die Gefahr als deutlich geringer ein.
Dass Russland in den vergangenen Tagen ankündigte, Teile seiner Truppen aus den westlichen und südlichen Verteidigungsbezirken abzuziehen, scheint zunächst die Sichtweise des Teams um Selenskyj zu bestätigen. Auch das für die aktuelle politische Lage höchst untypische Telefonat zwischen dem ukrainischen Verteidigungsminister und seinem belarussischen Gegenüber, Wiktar Chrenin, kann ein Beleg für die ukrainische Sicht sein – beide Seiten vereinbarten jüngst den gegenseitigen Austausch von Beobachtern bei Manövern.
Russischer Truppenabzug nicht beweisbar
Das gemeinsame Manöver Russlands mit Belarus, an dem angeblich teilnehmen, dauert allerdings erst einmal bis zum 20. Februar an. Der Abzug der Truppen direkt an der russisch-ukrainischen Grenze lässt sich hingegen bisher nur schwer verifizieren; weder die NATO noch der Ukrainer Resnikow sind im Moment davon überzeugt. Die deutliche Zuspitzung der Kämpfe an der Kontaktlinie im Donbas am Donnerstag ist ebenfalls kein gutes Zeichen. Zudem wurden nach einem ähnlichen Aufmarsch im Frühjahr 2021 nicht alle Truppen wirklich abgezogen, sondern lediglich weiter ins Hinterland verlegt. Dennoch halten die meisten ukrainischen Militärexperten die aktuellen Vorbereitungen an der Grenze nicht für den Beleg einer geplanten großangelegten Invasion.
Stand 12. Februar, schätzt unter anderem die ukrainische Nichtregierungsorganisation (NGO) „die Stärke der russischen Truppen an der Grenze inklusive Luftwaffen- und Marineeinheiten auf rund 148.000 Soldaten. „Gegenwärtig sind die stationierten Kräfte für eine Operation mit der Absicht, einen bedeutenden Teil der Ukraine zu besetzen, unzureichend. Die Vorhersagen über die Wahrscheinlichkeit solcher Szenarien halten wir für nicht bestätigt. Wir sehen in Russland auch kein aktives Handeln zur Vorbereitung von Hunderttausenden von Truppen, die für eine solche Operation notwendig wären“, heißt es. Daher halten Experten derartige Szenarien vorerst für unwahrscheinlich.
Eskalation im Donbas möglich
Eine Eskalation im Osten des Landes hält die NGO dagegen für eine realistische Option. „Wir können eine geplante Provokation, die den Einmarsch russischer Streitkräfte in die Ukraine legitimiert, und eine bewaffnete Eskalation an der Kontaktlinie im Donbas begründet, nicht ausschließen. Ebenfalls ist der Einsatz verschiedener Elemente der hybriden Kriegsführung wahrscheinlich. Dazu könnten Terrorattacken, Diversionen und Cyberangriffe auf die kritische Infrastruktur gehören“, betonen die Experten.
Tatsächlich waren mehrere staatliche Webseiten und zwei wichtige staatliche Banken am 15. Februar von einem vermeintlichen DDoS-Angriff betroffen. Das Ausmaß war jedoch nicht so heftig, wie bei einem ähnlichen Vorfall Mitte Januar. Aus politischer Perspektive zeigt sich der Selenskyj nahestehende Politologe Wolodymyr Fessenko indes nicht überrascht, dass der Höhepunkt der Spannungen gerade jetzt kommt. „Das habe ich so längst prognostiziert“, schreibt er in einem Facebook-Post: „Das Risiko ist nicht klein, dass der Kreml sich wirklich auf ein Militärabenteuer gegen die Ukraine einlassen könnte, um zumindest dem Westen Angst mit einem echten Krieg zu machen, und die Ukraine, möglicherweise durch eine militärische Niederlage, zu einem neuen ‚Frieden’ zu russischen Bedingungen zu zwingen.“
Invasion bringt Probleme für alle
Allerdings würde eine direkte russische Invasion in die Ukraine enorme Probleme für alle bedeuten, meint der Politologe weiter: „Und zwar wirklich für uns, für Russland und für den Westen. Deswegen wäre es für alle Seiten besser, diese zu verhindern.“ Für den Fall, dass dies nicht gelingt, versucht die Ukraine seit dem 12. Februar, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten: Im Rahmen von „Schneesturm 2022“ trainieren nach Aussage des obersten Militärs des Landes, General Serhij Najew, verschiedene Einheiten und Behörden ihre Zusammenarbeit.
Es geschieht in einer Kombination aus Manöver und Stabsübung. Die genaue Teilnehmerzahl ist nicht bekannt, das Manöver geht aber auf Übungsplätzen im ganzen Land über die Bühne – mit gewissem Akzent auf die Grenzregionen zu Belarus, und mit Einbeziehung der Mehrheit des kampfbereiten Personals. Gleichzeitig gibt es mehrere Übungen, um die Gefahr von Anschlägen auf kritische Infrastruktur zu minimieren.
„In Charkiw werden gerade Sabotage-Abwehrübungen des Inlandsgeheimdienstes SBU durchgeführt. In der Region Cherson haben einige Tage zuvor Soldaten der Nationalgarde, Grenzschutzbeamte, Polizisten und Retter trainiert, um Destabilisierungsversuche zu verhindern“, sagte Verteidigungsminister Resnikow am „Tag der Einheit“.
Einbeziehung der Zivilbevölkerung
Außerdem ist am 1. Januar das „Gesetz über die Grundlagen des nationalen Widerstands“ in Kraft getreten. Es regelt die Tätigkeit freiwilliger Verbände zur Heimatverteidigung. Obwohl der Fokus eher auf ehemaligen Soldaten liegt, können sich auch Zivilisten in die Listen einschreiben und regelmäßig an militärischen Ausbildungen teilnehmen. Im Ernstfall sollen diese Menschen neben den regulären Armeeeinheiten zur Heimatverteidigung eingesetzt werden.
Präsident Selenskyj möchte perspektivisch, dass sich dafür bis zu zwei Millionen Ukrainer melden. Experten halten diese Zahl für unrealistisch, bewerten Experten das Gesetz aber positiv: Es schaffe einen angemessenen rechtlichen Raum für Freiwillige, die seit 2014 oft in halblegalen Einheiten kämpften.
Zivilverteidigung in vollem Gange
Die ukrainischen Städte bemühen sich derweil darum, die Öffentlichkeit über Luftschutzbunker und Evakuierungswege zu informieren. Derartige Aktionen gab es trotz des seit 2014 andauernden Krieges im Donbas in der Form nicht. So hat etwa die Hauptstadt Kyjiw in jedem Stadtbezirk sogenannte Evakuierungskommissionen geschaffen, die die Lage von Sammelpunkten für Zivilisten, die erforderliche Anzahl an Transportmitteln und sichere Bereiche zur Unterbringung der Bevölkerung bestimmt. Kyjiws Bürgermeister Vitali Klitschko berichtete jüngst, dass die Anzahl der Schutzeinrichtungen verdreifacht worden sei: Es gebe jetzt bis zu 500 Luftschutzbunker sowie etwa 4500 Bauten mit doppeltem Verwendungszweck, darunter Tiefgaragen und U‑Bahn-Stationen.
Ob wirklich alle Objekte für den Ernstfall bereit sind, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen . Doch die Besonnenheit, mit der sowohl nationale als auch lokale Behörden die Sache angehen, trägt augenscheinlich dazu bei, dass die Ukrainer mehrheitlich nicht in Panik verfallen sind. „Ich weiß nicht, ob sich alle wirklich damit beschäftigen, die Meldungen über die Lage von Luftschutzbunkern sind aber schon sichtbar“, sagt die Bankmitarbeiterin und Sängerin Lilija Stezjuk: „Insgesamt lese ich aktuell viele Nachrichten und werde dadurch zunehmend depressiver. Daher versuche ich, mich mit anderen Themen zu beschäftigen und an das zu glauben, was Selenskyj sagt.“
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