„Ich bin in diesen Tagen sehr stolz, Ukrai­ne­rin zu sein“:
Stimmen zum Unabhängigkeitstag

Unab­hän­gig­keits­sta­tue in Charkiw, Foto: ioanna_​alexa /​ Shut­ter­stock

Zum dies­jäh­ri­gen ukrai­ni­schen Unab­hän­gig­keits­tag haben wir einige unserer ukrai­ni­schen Kol­le­gin­nen bei LibMod gebeten, über die Bedeu­tung dieses Tages für sie und ihre Erin­ne­run­gen daran zu schreiben.

Foto: Oliver Geheeb

„Sie wird überleben“

Am 24. August 1991 ver­ab­schie­dete das ukrai­ni­sche Par­la­ment das Gesetz zur Pro­kla­ma­tion der Unab­hän­gig­keit der Ukraine. Doch der ent­schei­dende Schritt zur Bildung der ukrai­ni­schen Staat­lich­keit folgte erst einige Monate später, am 1. Dezem­ber 1991: das gesamtukrai­ni­sche Refe­ren­dum über die Bestä­ti­gung des Akts der Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung der Ukraine. Die Ukrai­ni­sche Sozia­lis­ti­sche Sowjet­re­pu­blik hatte tat­säch­lich auf­ge­hört zu existieren.

Damals lebte ich im Donbas. Ich erin­nere mich gut an diesen Dezem­ber­tag. Es war warm wie im Früh­ling und alle unsere Nach­barn hatten sich draußen ver­sam­melt, saßen auf Bänken und dis­ku­tier­ten lebhaft über ihre Zukunfts­aus­sich­ten. Es waren alle­samt Men­schen im reifen und hohen Alter, die ihr ganzes Leben im „Gefäng­nis der Natio­nen“, wie man die UdSSR nannte, ver­bracht hatten. Ich war 12 Jahre alt und ver­stand das Wesent­li­che des Ereig­nis­ses nicht ganz, aber unter­be­wusst war ich mir sicher, dass die Men­schen die rich­tige Wahl getrof­fen hatten.

Leider ist der aktu­elle rus­si­sche Angriffs­krieg ein auf die lange Bank gescho­be­ner Krieg. Wer Frei­heit umsonst bekommt, muss sie auch ver­tei­di­gen können. Die Ukrai­ner haben dies erst in den letzten acht Jahren ver­stan­den, aber ich bin stolz darauf, dass meine Lands­leute fähig und bereit sind, ihre Frei­heit zu verteidigen.

Die Ukraine ist ein Land mit einer sehr tra­gi­schen Geschichte. Und leider hat sie noch viele schwie­rige Tage vor sich. Aber sie wird über­le­ben, sie wird auf jeden Fall gewin­nen. Eines ist klar: Mit diesen Zielen hat die Ukraine nur das Offen­sicht­li­che bewie­sen. Die Ukraine ist ein Teil – und zwar ein wun­der­ba­rer Teil – Europas, der den Kon­ti­nent nicht nur ernährt, sondern auch in der Lage ist, ihn gegen rus­si­sche Aggres­sio­nen zu verteidigen.

Von Vale­riya Golovina

Foto: Oliver Geheeb

„Ein Traum wurde wahr“

Die Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung der Ukraine am 24. August 1991 war für mich der Tag, an dem ein Traum von Gene­ra­tio­nen von Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­nern wahr wurde. Außer­dem war es für mich kein Zufall, sondern das Ergeb­nis eines Kampfes von Gene­ra­tio­nen von Ukrai­nern für einen eigenen Staat.

Damals war ich noch Schü­le­rin. Auf­grund meiner Fami­li­en­ge­schichte wusste ich immer, dass ich Ukrai­ne­rin bin und mich mit der Ukraine als Gemein­schaft iden­ti­fi­ziere. Ich bin in Kyjiw auf­ge­wach­sen, aber jede Schul­fe­rien ver­brachte im Haus meiner Groß­el­tern in der Region um Iwano-Fran­kiwsk. Das Haus wurde gebaut, als dieser – unter dem Namen „Gali­zien“ bekannte – Teil der Ukraine noch zum Kai­ser­tum Öster­reich gehörte; in der Zwi­schen­kriegs­zeit gehörte die Region zu Polen, ab 1939 zur Sowjet­union (während des Zweiten Welt­kriegs unter deut­scher Besat­zung). Trotz aller Grenz­ver­schie­bun­gen hat meine Familie sich als Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner ver­stan­den. Ab 1991 hat diese Iden­ti­tät auch poli­ti­sche Legi­ti­mi­tät als Staat bekommen.

Bereits Ende der 1980er-Jahre wurden die Ver­bre­chen des sowje­ti­schen Regimes bekannt und die Men­schen hatten keine Angst mehr, ihre Fami­li­en­ge­schich­ten zu erzäh­len (die vorher ver­schwie­gen wurde). Ich wusste, dass die Familie meines Groß­va­ters 1939 von sowje­ti­schen Behör­den nach Sibi­rien depor­tiert worden war – für sie waren sie Natio­na­lis­ten. Seine jüngste Schwes­ter war zu diesem Zeit­punkt erst ein paar Monate alt. Erst nach Stalins Tod Mitte 1950er-Jahre durften sie nach Hause zurückkehren.

Meine Groß­mutter erzählte, wie sie oft zu Ver­hö­ren durch den sowje­ti­schen Geheim­dienst (KGB) vor­ge­la­den wurde und nie wusste, ob sie nach Hause gelas­sen würde. Viele Men­schen im Dorf kehrten nie von den Ver­hö­ren zurück. Ende der 80er-Jahre wurden im Keller eines Kin­der­gar­tens im Dorf (wo sich das ehe­ma­lige KGB-Gefäng­nis sich befand) die Über­reste von Men­schen gefun­den. Sie wurden im Park in der Nähe des Kin­der­gar­tens frei­ge­legt. Manche Men­schen erkann­ten ihre damals ver­schwun­de­nen Ver­wand­ten an den Goldzähnen.

Für mich war das Sowjet­im­pe­rium das Böse. Die Unab­hän­gig­keit der Ukraine war also ein absolut logi­scher und not­wen­di­ger Schritt, der die Befrei­ung von einer fremden Unter­drü­ckungs­macht bedeutete.

In den 30 Jahren ihrer Unab­hän­gig­keit hat die Ukraine einen langen Weg zurück­ge­legt. In den 1990er-Jahren, als Russ­land nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union seinen impe­ria­lis­ti­schen Griff lockerte, wurde die Chance vertan, eine ein­deu­tige Ent­schei­dung bezüg­lich EU- und NATO-Bei­tritt anzu­stre­ben (wie es andere Ost- und Mittel-Euro­päi­sche Staaten getan hatten). In der Ukraine gab es damals noch keine reife poli­ti­sche Nation und somit auch keine klare Ori­en­tie­rung. Gleich­zei­tig hatte die ukrai­ni­sche Gesell­schaft den Mut, gegen unde­mo­kra­ti­sche Ent­schei­dun­gen der poli­ti­schen Macht­ha­ber zu pro­tes­tie­ren und die Rich­tung der Ent­wick­lung im Lande zu bestim­men (wie etwa 2004 und 2013/​2014).

Der heutige Krieg ist der letzte und ent­schei­dende Kampf der Ukraine um ihre Unab­hän­gig­keit, gegen das Impe­rium, das diese Unab­hän­gig­keit zwar formal akzep­tierte, aber – das zeigt der von Russ­land geführte Ver­nich­tungs­krieg – nie damit ein­ver­stan­den war. Die Ukraine kann und muss diesen Kampf mit­hilfe der zivi­li­sier­ten Welt gewin­nen. Es geht um das größte Land Europas und etwa 43 Mil­lio­nen Men­schen. Aber im Großen geht es auch um die Domi­nanz des Völ­ker­rechts über den will­kür­li­chen Einsatz von Waffen und der Demo­kra­tie über Autoritarismus.

Von Iryna Solonenko

Foto: Oliver Geheeb

„Ohne die Unab­hän­gig­keit meines Landes wäre auch meine per­sön­li­che Frei­heit unvollständig“

Ich bin in einer Familie auf­ge­wach­sen, in der der Unab­hän­gig­keits­tag der Ukraine immer eine wich­tige Rolle gespielt hat. Für mich ging es um die Mög­lich­keit, unser Leben frei bestim­men und eigene Pro­bleme selbst lösen zu können. Trotz der fort­schrei­ten­den Ver­su­che der Kolo­nia­li­sie­rung der Ukraine durch den poli­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Ein­fluss Russ­lands haben die Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner in den Jahren 2013/​2014 die Mög­lich­keit genutzt und sich für den Kurs euro­päi­scher und euro-atlan­ti­scher Inte­gra­tion entschieden.

Den wich­tigs­ten Rei­fungs­test seit 1991 hat die Ukraine jedoch im Februar 2022 bestan­den. Nach dem Beginn des groß­an­ge­leg­ten Angriffs Russ­lands hat das ukrai­ni­sche Volk die wich­tige Ent­schei­dung getrof­fen, sich nicht zu ergeben und den Kampf um die Exis­tenz auf­zu­neh­men. Dies war der höchste Grad­mes­ser für das kol­lek­tive Selbst­ge­fühl. Seitdem ist der 24. August für mich als Ukrai­ne­rin heilig,

denn ich habe klar ver­stan­den, dass ohne die Unab­hän­gig­keit meines Landes auch meine per­sön­li­che Unab­hän­gig­keit unvoll­stän­dig wäre.

Von Vik­to­ria Savchuk

Foto: Oliver Geheeb

„Mein Herz ist in Kyjiw“

Während meiner Kind­heit sind wir am Unab­hän­gig­keits­tag mit der Familie zu Freun­den nach Kyjiw gefah­ren. Es gab eine große Parade, viele haben wun­der­schöne Wyschy­wan­kas getra­gen und vor allem herrschte eine fei­er­li­che Stim­mung auf den Straßen. An diese beson­de­ren Momente erin­nere ich mich heute. Nach meinem Umzug nach Deutsch­land habe ich einen ukrai­ni­schen Freun­des­kreis im Stu­den­ten­wohn­heim gefun­den. Am 24. Augst haben wir ein­an­der gra­tu­liert. Mein Herz aber war in Kyjiw.

Nach dem 24. Februar hat der Tag noch eine wich­ti­gere Bedeu­tung für mich. Russ­land will die Ukraine und die ukrai­ni­sche Kultur zer­stö­ren. Ich bin stolz auf mein Volk, stolz darauf, dass es Wider­stand leistet, dass viele ukrai­ni­sche Kon­zerte und Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen in Berlin und in der ganzen Welt statt­fin­den. Jedes Wort und jede Ver­an­stal­tung berüh­ren mich sehr. Ich bin in diesen Tagen sehr stolz, Ukrai­ne­rin zu sein. Slawa Ukrajini!

Von Diana Tovma

Foto: Oliver Geheeb

„Wir haben unsere Frei­heit gefeiert“

Der Unab­hän­gig­keits­tag gehörte immer zu einem der wich­tigs­ten Fei­er­tage in der Ukraine: Die Straßen voller gelb-blauer Fahnen, Volks­mu­sik, Feu­er­werke und überall Men­schen, die sich über das Leben freuen. Wir haben immer groß gefei­ert. Wir haben unsere Frei­heit gefeiert.

Welche Gefühle hatte ich an diesem Tag? Einer­seits war ich stolz darauf, der ukrai­ni­schen Kultur anzu­ge­hö­ren: die wun­der­schöne ukrai­ni­sche Sprache zu spre­chen und ukrai­ni­sche Tra­di­tio­nen zu bewah­ren. Ande­rer­seits war ich auch froh darüber, ein Teil der Gesell­schaft zu sein, die euro­päi­sche Werte teilt, die tole­rant, freund­lich und pro­gres­siv ist.

Heute gehört der Unab­hän­gig­keits­tag immer noch zu einem meiner Lieblingsfeiertage.

Die Straßen sind voller gelb-blauer Fahnen – aller­dings nicht nur in der Ukraine, sondern auf der ganzen Welt. Doch anstelle von Musik und Feu­er­wer­ken hört man jetzt Explo­sio­nen und Rake­ten­ein­schläge. Städte und Dörfer sind zer­stört und ver­wüs­tet. Men­schen werden getötet und die­je­ni­gen, die dem Tod ent­kom­men sind, sind geflohen.

Wir haben fast alles ver­lo­ren, was uns Freude gebracht hat – außer der Hoff­nung und der Frei­heit. Wir können heute nichts feiern, außer der Tat­sa­che, dass wir heute wie nie zuvor vereint sind. Wir, die Ukrai­ner, wollen uns diesmal die Emo­tio­nen und Kräfte sparen. Wenn wir diesen Krieg gewin­nen, dann wird es genug zu feiern geben.

Von Lisa Tomilets

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