Das Ver­sa­gen der Osteuropaforschung

Foto: IMAGO /​ Cathrin Bach

Spä­tes­tens seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine ist klar: Die Ost­eu­ro­pa­wis­sen­schaft ist geschei­tert. Und das nicht zum ersten Mal. Ein Kom­men­tar von Prof. Gerhard Simon.

Der 24. Februar 2022 war nicht nur ein schwar­zer Tag für die Ukraine. Er war und ist auch ein schwar­zer Tag für die Ost­eu­ro­pa­wis­sen­schaft. Zum zweiten Mal in einer Gene­ra­tion zeigt sich, dass sie nichts taugt, dass sie den ele­men­ta­ren Anfor­de­run­gen, die an For­schung zu stellen sind, nicht gerecht wird. Zum ersten Mal ver­sagte unsere Wis­sen­schaft zwi­schen 1989 und 1991, als sie vom Zusam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus im Osten Europas und vom Ende der Sowjet­union voll­stän­dig über­rascht wurde.

Es geht nicht darum, dass wir diese Ereig­nisse hätten vor­aus­se­hen müssen (obwohl das natür­lich wün­schens­wert gewesen wäre). Fakt ist viel­mehr, dass wir das genaue Gegen­teil pro­gnos­ti­ziert haben. Die Ost­eu­ro­pa­wis­sen­schaft hat in schöner Ein­tracht mit der Politik und der öffent­li­chen Meinung den Fort­be­stand der bipo­la­ren Welt und ins­be­son­dere der Sowjet­union für selbst­ver­ständ­lich gehal­ten. Ja, mehr noch: sie hat das für wün­schens­wert erach­tet und mit Frieden und Sta­bi­li­tät identifiziert.

Der Skandal besteht darin, dass wir alter­na­tive Fragen und Sze­na­rien gar nicht zuge­las­sen haben. Eine Wis­sen­schaft, die nichts anderes vermag, als die Gegen­wart in die Zukunft fort­zu­schrei­ben, ver­dient diesen Namen nicht. Inso­fern war es kon­se­quent und nur allzu ver­ständ­lich, dass die Geld­ge­ber unserer Wis­sen­schaft nach 1991 den Geld­hahn zuge­dreht haben.

Wie aber lässt sich die Malaise erklären?

Anti­kom­mu­nis­mus als Fortschritt

Ver­häng­nis­voll war das Aus­blen­den von alter­na­ti­ven Fra­ge­stel­lun­gen durch Denk­ta­bus, die seit den 1960er-Jahren zur Eng­füh­rung unserer Wis­sen­schaft wesent­lich bei­getra­gen haben. Seit dieser Zeit gehörte es zur Grund­über­zeu­gung, dass Anti­kom­mu­nis­mus ver­werf­lich ist, den Kalten Krieg per­p­etu­iert und die Zukunft blo­ckiert. Die linke Mei­nungs­füh­rer­schaft domi­nierte die Ost­eu­ro­pa­wis­sen­schaft ebenso wie den öffent­li­chen Diskurs und ver­hin­derte eine Poli­tik­be­ra­tung, die sich dem Main­stream hätte ent­ge­gen­stel­len können.

Poli­tik­be­ra­tung bewegte sich ebenso wie die Politik in den aus­ge­tre­te­nen Bahnen der Fort­schrei­bung der Gegen­wart in die Zukunft. Eine Grund­vor­aus­set­zung für effek­tive Poli­tik­be­ra­tung ging ver­lo­ren: Poli­tik­be­ra­tung, die diesen Namen ver­dient, muss in Distanz zur Politik, ja im Gegen­satz zur Politik stehen. Sie darf nicht von ihr finan­ziert werden.

Und dann kehrte in den 1980er-Jahren – von uns völlig uner­war­tet – der Anti­kom­mu­nis­mus als Main­stream in den (ehemals) kom­mu­nis­ti­schen Staaten Ost­eu­ro­pas – ein­schließ­lich von Russ­land (jeden­falls für einige Jahre) – zurück. Es zeigte sich, dass es gute Gründe dafür gab, Anti­kom­mu­nist zu sein. Dass Anti­kom­mu­nis­mus kei­nes­wegs rück­wärts­ge­wandt war, sondern für Fort­schritt stand.

Mehr als Russ­land sehen

Nach 1991 hat es die Ost­eu­ro­pa­wis­sen­schaft nicht einmal geschafft, die seit hundert Jahren bestehende Prio­ri­sie­rung Russ­lands zu über­win­den und bei­spiels­weise der Ukraine, aber auch anderen ver­nach­läs­sig­ten Regio­nen Ost­eu­ro­pas den ihnen zuste­hen­den Platz einzuräumen.

Nachdem die Ost­eu­ro­pa­for­schung den Unter­gang des Kom­mu­nis­mus in Ost­eu­ropa ver­passt hat, ist sie jetzt, 30 Jahre später, mit der zweiten Kata­stro­phe kon­fron­tiert: Sie hat das post­kom­mu­nis­ti­sche Russ­land voll­stän­dig falsch ein­ge­schätzt. Nicht die lei­seste Warnung war von der Ost­eu­ro­pa­for­schung zu ver­neh­men, dass Russ­land sich anschickte, aus der Gemein­schaft der zivi­li­sier­ten Welt aus­zu­tre­ten. Obwohl – so wird jeden­falls im Nach­hin­ein deut­lich – zahl­rei­che Indi­zien vor­han­den waren.

Wie lässt sich das erklären?

Das post­kom­mu­nis­ti­sche Russ­land wurde als ganz „nor­ma­les“ Land wahr­ge­nom­men. Wo es sich aber unter­schei­det, kann und muss ihm mit „Moder­ni­sie­rungs­part­ner­schaf­ten“ unter die Arme gegrif­fen werden, um es mög­lichst bald an west­li­che Stan­dards her­an­zu­füh­ren. Statt die Unter­schiede zu betonen und die his­to­ri­schen Pfad­ab­hän­gig­kei­ten her­vor­zu­he­ben, hat unsere Wis­sen­schaft dazu bei­getra­gen, das All­ge­meine, das Ver­bin­dende, das „Moderne“ ins Ram­pen­licht zu rücken.

Eine alter­na­tive Weltmacht

Mehr noch, sie hat die Unfä­hig­keit geschult, Russ­land so wahr­zu­neh­men, wie es sich selber sieht. Denn Russ­land hat in den ver­gan­ge­nen zwei Jahr­zehn­ten immer stärker und immer hör­ba­rer betont: Wir sind anders, wir wollen anders sein, eure Zukunft ist nicht unsere Zukunft. Vor allem hat sich der Westen gewei­gert zu ver­ste­hen, dass Russ­land sich für eine Welt­macht hält und als über­le­gen wahr­nimmt. Weil dies in west­li­chen Augen Schnee aus frü­he­ren Jahr­hun­derte ist, und dem objek­ti­ven, bei­spiels­weise öko­no­mi­schen Befund wider­spricht, waren wir taub für die Rea­li­tät der rus­si­schen Selbstwahrnehmung.

Soweit von der For­schung Kritik an Russ­land geübt wurde, rich­tete sie sich gegen zuneh­mende Repres­sio­nen der Zivil­ge­sell­schaft, gegen Ein­schrän­kun­gen der Mei­nungs­frei­heit, Zensur des Inter­nets und Ähn­li­ches. Tat­säch­lich sind dies Neben­kriegs­schau­plätze, die von der Haupt­sa­che ablen­ken: Russ­land hat seit Län­ge­rem geplant, aus der zivi­li­sier­ten Welt aus­zu­tre­ten und Krieg gegen jene zu führen, die sich dem Griff nach der Welt­macht widersetzen.

Genau diesen Sach­ver­halt hat die Ost­eu­ro­pa­for­schung nicht wahr­ge­nom­men, ja ver­schlei­ert durch die Kon­zen­tra­tion auf Zweit­ran­gi­ges. Heute ist klar, dass Russ­land seit 20 Jahren auf dem Marsch in den Krieg gegen die Ukraine ist. Natür­lich kann man das mit den Augen nach dem 24. Februar besser sehen als zuvor. Aber eine umsich­tige For­schung hätte zumin­dest diesen Sach­ver­halt als eine Mög­lich­keit beden­ken müssen. Aber sie war viel zu stark von der Politik und der öffent­li­chen Meinung abhängig.

West­li­che Kuschelmaßnahmen

Statt den von Russ­land ange­bo­te­nen Kon­fron­ta­ti­ons­kurs anzu­neh­men und zu erwi­dern, hat die Politik mit Kuschel­maß­nah­men reagiert; Handel, Wandel und Diplo­ma­tie geför­dert – in der Über­zeu­gung, Russ­land werde sich schluss­end­lich uns anpas­sen. Erst der 24. Februar hat unwi­der­leg­lich bewie­sen, dass Russ­land kein moder­ner Staat ist, Völ­ker­recht für Geschwätz hält, Gewalt und Krieg aber für ganz normale Instru­mente der Politik. Die jetzt im Westen oft zu hörende Reak­tion, Russ­land werde schluss­end­lich mit dieser Politik schei­tern, ist nicht nur zynisch gegen­über dem ukrai­ni­schen Volk. Diese Posi­tion ist bislang auch unbewiesen.

Im Gegen­teil gilt bislang, dass der Westen dem anhal­ten­den Gemet­zel in der Ukraine mit vor Ent­set­zen auf­ge­ris­se­nen Augen zuschaut und keine Instru­mente findet, dem Krieg Einhalt zu gebie­ten. Beson­ders dras­tisch ist das in Deutsch­land zu besich­ti­gen, wo der fort­dau­ernde Betrieb der che­mi­schen Indus­trie klare Prio­ri­tät genießt gegen­über einem Boykott von rus­si­schem Gas.

Textende

Portrait von Simon

Prof. Gerhard Simon ist einer der renom­mier­tes­ten Ukraine-Exper­ten in Deutschland..

 

 

 

 

 

 

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